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18. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Assura-Basis SA gegen Klinik A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_476/2017 vom 29. März 2018 | |
Regeste |
Art. 43 Abs. 4 und 5bis KVG; Anpassung der Tarifstruktur TARMED durch den Bundesrat. | |
Sachverhalt | |
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A.a Die ambulanten ärztlichen Leistungen im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung werden seit dem 1. Januar 2004 einheitlich über das Tarifsystem TARMED abgerechnet. Grundlage ist insbesondere der zwischen den Verbänden "santesuisse Die Schweizer Krankenversicherer" und "H+ Die Spitäler der Schweiz" am 13. Mai 2002 abgeschlossene Rahmenvertrag TARMED und ![]() | 2 |
Der Bundesrat genehmigte am 15. Juni 2012 die von den Tarifpartnern vereinbarte Tarifstruktur TARMED Version 1.08. Mit Erlass der Verordnung vom 20. Juni 2014 über die Anpassung von Tarifstrukturen in der Krankenversicherung (SR 832.102.5; AS 2014 1883; nachfolgend: Anpassungsverordnung 2014) griff er erstmals selber in die Tarifstruktur ein. Er passte sie mit Wirkung ab 1. Oktober 2014 insofern an, als er einerseits eine neue Tarifposition für einen Zuschlag zu hausärztlichen Leistungen einführte (Ziff. 1 Anhang Anpassungsverordnung 2014) und anderseits die Taxpunkte der technischen Leistungen in den Tarifpositionen von 13 ausgewählten Kapiteln linear um 8,5 % reduzierte (Ziff. 2 Anhang Anpassungsverordnung 2014). Diese Regelungen hob der Bundesrat auf Ende 2016 wieder auf (AS 2016 4635); im Gegenzug genehmigte er am 23. November 2016 die Vereinbarung der Tarifpartner, die bestehende Tarifstruktur (mitsamt den genannten Anpassungen) bis Ende 2017 weiterzuführen. Auf den 1. Januar 2018 änderte er die Anpassungsverordnung und damit die Tarifstruktur TARMED erneut.
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A.b Die B. AG informierte mit Schreiben vom 8. Mai 2015, dass die Klinik A. (nachfolgend: Klinik) der Assura-Basis SA (nachfolgend: Assura) vier ambulante Behandlungen vom April und Mai 2015 gestützt auf die Tarifstruktur TARMED Version 1.08, d.h. ohne Berücksichtigung der Anpassungsverordnung 2014, mit einem Gesamtbetrag von Fr. 2'608.45 in Rechnung gestellt habe. Sie halte die Anpassungsverordnung 2014 für widerrechtlich und daher nicht anwendbar. Die Assura teilte diese Auffassung nicht, weshalb sie die genannten Rechnungen als nicht tarifkonform zurückwies.
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B. Mit Klage vom 24. September 2015 beantragte die Klinik, die Assura sei zu verpflichten, ihr Fr. 2'608.45 zuzüglich Zins zu 5 % ab 10. Juni 2015 zu bezahlen. Überdies sei festzustellen, dass Ziff. 2 Anhang Anpassungsverordnung 2014 gesetzeswidrig und daher nicht anwendbar sei, und dass sie berechtigt sei, der Assura ambulante Leistungen gestützt auf die Tarifstruktur TARMED Version 1.08 in ![]() | 5 |
Das Schiedsgericht nach den Bestimmungen des eidg. Sozialversicherungsrechts des Kantons Luzern hiess die Klage mit Entscheid vom 29. Mai 2017 (weitgehend) gut. Es verpflichtete die Assura, der Klinik Fr. 2'608.45 zu bezahlen (Dispositiv-Ziff. 1), und stellte fest, dass Letztere berechtigt sei, der Assura die bis 31. Dezember 2016 erbrachten ambulanten Leistungen gestützt auf die Tarifstruktur TARMED Version 1.08 in Rechnung zu stellen, ohne Ziff. 2 Anhang Anpassungsverordnung 2014 zu berücksichtigen (Dispositiv-Ziff. 2). Auf die Widerklage trat es nicht ein (Dispositiv-Ziff. 3).
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C. Die Assura lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der Entscheid vom 29. Mai 2017 sei aufzuheben, und die Klage der Klinik sei vollumfänglich, eventualiter in Bezug auf das Feststellungsbegehren, abzuweisen.
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Die Klinik und das kantonale Schiedsgericht beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schliesst auf deren Gutheissung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Erwägung 2.2 | |
2.2.1 Unter dem Titel "Grundsatz" enthält Art. 43 KVG insbesondere folgende Regeln zur Tarifgestaltung: Tarife und Preise werden in Verträgen zwischen Versicherern und Leistungserbringern ![]() | 11 |
2.2.2 Gestützt auf Art. 43 Abs. 7 KVG hat der Bundesrat die Grundsätze der Tarifgestaltung wie folgt in Art. 59c KVV (SR 832.102) konkretisiert: Die Genehmigungsbehörde im Sinne von Artikel 46 Absatz 4 des Gesetzes prüft, ob der Tarifvertrag namentlich folgenden Grundsätzen entspricht: (a.) Der Tarif darf höchstens die transparent ausgewiesenen Kosten der Leistung decken. (b.) Der Tarif darf höchstens die für eine effiziente Leistungserbringung erforderlichen Kosten decken. (c.) Ein Wechsel des Tarifmodells darf keine Mehrkosten verursachen (Art. 59c Abs. 1 KVV). Die Vertragsparteien müssen die Tarife regelmässig überprüfen und anpassen, wenn ![]() | 12 |
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2.4 Unselbständige Verordnungen - eine solche stellt die Anpassungsverordnung 2014 dar (Urteil 9C_562/2014 vom 7. November 2014) - können vorfrageweise (inzident, im Einzelfall) auf ihre Rechtmässigkeit geprüft werden. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, ob sich der Bundesrat an die Grenzen der ihm im Gesetz eingeräumten Befugnisse gehalten hat (BGE 138 II 281 E. 5.4 S. 289 f.; BGE 137 III 217 E. 2.3 S. 220 f. mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung). Soweit das Gesetz den Bundesrat nicht ermächtigt, von der Verfassung abzuweichen, befindet das Gericht auch über die Verfassungsmässigkeit der unselbständigen Verordnung. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche Delegation ein sehr weiter Ermessensspielraum für die Regelung auf Verordnungsstufe eingeräumt, so ist dieser Spielraum nach Art. 190 BV für das (Bundes-)Gericht verbindlich; es darf in diesem Falle bei der Überprüfung der Verordnung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen, sondern es beschränkt sich auf die Prüfung, ob die Verordnung den Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig ist. Es kann dabei namentlich prüfen, ob sich eine Verordnungsbestimmung auf ernsthafte Gründe stützen lässt oder ob sie Art. 9 BV widerspricht, weil sie sinn- und zwecklos ist, rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder Unterscheidungen unterlässt, die richtigerweise hätten getroffen werden müssen. Für die Zweckmässigkeit der angeordneten Massnahme trägt der Bundesrat die Verantwortung; es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, sich zu deren wirtschaftlicher oder politischer Sachgerechtigkeit zu äussern (BGE 143 V 208 E. 4.3 S. 212; BGE 140 II 194 E. 5.8 ![]() | 14 |
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Weiter hat das Schiedsgericht erwogen, die konkret umstrittenen Rechnungen enthielten Leistungspositionen aus den Kapiteln 4, 17, 19 und 35 der Tarifstruktur. Weil Ziff. 2 Anhang Anpassungsverordnung 2014 rechtswidrig und daher nicht anwendbar sei, seien die Leistungen gemäss der (für nicht mehr sachgerecht befundenen) Tarifstruktur TARMED Version 1.08 zu vergüten. Folglich hat es das Leistungsbegehren der Klinik (unter Ausnahme des verneinten Anspruchs auf Verzugszinsen) gutgeheissen.
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Hinsichtlich des Feststellungsantrages hat das Schiedsgericht ein schutzwürdiges Interesse bejaht. Die Feststellung der Gesetzeswidrigkeit vermittle einen quantitativ und qualitativ besseren Rechtsschutz als eine blosse Leistungsklage. Zweifellos sei eine grosse Zahl von Rechtsverhältnissen von der Beantwortung der Frage nach der Gesetzeskonformität der Anpassungsverordnung 2014 berührt; diese sei von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung und neuartig. Der ![]() | 17 |
Erwägung 4 | |
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4.3 Zentraler Streitpunkt war und ist die - vom Bundesgericht frei prüfbare (Art. 106 Abs. 1 BGG) - Rechtsfrage nach der Rechtmässigkeit der Anpassungsverordnung 2014 resp., genauer, der linearen Kürzung der Taxpunkte gemäss Ziff. 2 deren Anhangs. Diese Frage beschlägt die Art und Weise des Vorgehens des Bundesrates, ohne nach einzelnen betroffenen Leistungen zu differenzieren. Sie lässt sich inzident, anlässlich der Beurteilung einer davon betroffenen konkreten Forderung beantworten. Die Überprüfung einer Verordnung des Bundesrates im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle ist hingegen ausgeschlossen (vgl. E. 2.4). Das Schiedsgericht hat denn auch zu Recht, in Abweichung vom entsprechenden Feststellungsbegehren, die von ihm angenommene Gesetzeswidrigkeit von Ziff. 2 Anhang Anpassungsverordnung 2014 nicht dispositivmässig festgestellt. Immerhin hat es aber in Dispositiv-Ziff. 2 des angefochtenen Entscheids die für die Parteien "richtige" Art der Rechnungsstellung während der Geltungsdauer der Anpassungsverordnung 2014 festgehalten. Ein (rechtskräftiger) Entscheid des zuständigen Schiedsgerichts resp. des Bundesgerichts mit entsprechender Klärung der entscheidenden Vorfrage im Rahmen eines Gestaltungs- resp. Leistungsurteils hat über den konkreten Einzelfall hinaus eine präjudizielle Bedeutung (vgl. BGE 140 V 538 E. 4.5 S. 541). Angesichts dessen leuchtet nicht ein, weshalb es der Klinik nicht zumutbar sein soll, gegebenenfalls weitere mit der eingeklagten vergleichbare ![]() | 20 |
Erwägung 5 | |
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Erwägung 6 | |
Erwägung 6.1 | |
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6.2 Die vorinstanzliche Feststellung, wonach die Anpassungsverordnung 2014 rein politisch begründet und die Kürzung der Taxpunkte von technischen Leistungen (einzig) die kostenneutrale Umsetzung der Besserstellung von Hausärzten bezweckt habe (E. 3), greift zu kurz. Sie ist insofern nicht haltbar (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG), als die Tarifstruktur TARMED Version 1.08 hinsichtlich der betroffenen Positionen nicht mehr sachgerecht war (E. 6.1.1), und bereits ![]() | 27 |
Streitig und zu prüfen bleibt somit einzig, ob der Bundesrat sich dabei auch von politischen Anliegen leiten lassen und ob er die Taxpunkte der betroffenen Positionen linear kürzen durfte. Dies hängt davon ab, ob resp. inwieweit Art. 43 Abs. 4 KVG diesbezüglich Vorgaben für die - im Übrigen als gesetzes- und verfassungskonform zu betrachtende (E. 6.1) - Anpassung der Tarifstruktur nach Art. 43 Abs. 5bis KVG enthält. Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin halten einzig Eingriffe zugunsten verbesserter Tarifpositionen, die auf betriebswirtschaftlichen Bemessungsgrundlagen beruhen, für sachgerecht und zulässig. Dies schliesse eine lineare Anpassung der betroffenen Taxpunkte aus; der Bundesrat dürfe nicht im Stil eines "Zufallsgenerators" vorgehen. Die Beschwerdeführerin und das BAG erblicken in dieser Auffassung eine unzulässige Priorisierung des Aspektes der betriebswirtschaftlichen Bemessung gegenüber den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Billigkeit sowie der kostengünstigen Versorgung (Art. 46 Abs. 4 und Art. 43 Abs. 6 KVG) und einen unzulässigen Eingriff in das Ermessen resp. die Rechtsetzungskompetenz des Bundesrates.
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Erwägung 6.4 | |
6.4.1 Gegenstand von Art. 43 Abs. 4 Satz 1 und 2 KVG (E. 2.2.1) ist die Festlegung der "Tarife und Preise". Diese ergeben sich hier (Einzelleistungstarif) aber erst aus dem Zusammenspiel der gesamtschweizerischen (Art. 43 Abs. 5 Satz 1 KVG) Tarifstruktur gemäss Rahmenvertrag TARMED einerseits und den Tarifverträgen der kantonalen Ebene anderseits (vgl. Sachverhalt lit. A.a), wobei eine behördliche ![]() | 30 |
Der Wortlaut von Art. 43 Abs. 4 KVG enthält somit keine klare Vorgabe für das konkrete Vorgehen des Bundesrates. Insbesondere lässt er Raum für unterschiedliche Anforderungen je nach Phase der Tarifgestaltung (gesamtschweizerische Tarifstruktur oder Tarifverträge der kantonalen Ebene) und Rolle der daran Beteiligten (Tarifvertragsparteien, genehmigende oder festsetzende Behörde).
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6.4.3 Die Tarifstruktur TARMED ist das Resultat der Anwendung des Tarifmodells TARMED mit den zugehörigen betriebswirtschaftlich unterlegten Modelleingangsparametern (vgl. dazu BÜHRER, a.a.O., S. 153 ff.). Die Tarifstruktur setzt sich aus der Nomenklatur (Nennung der erfassten Leistungen; Tarifpositionen), der ![]() | 33 |
Auch bei Beachtung einer betriebswirtschaftlichen Bemessung und sachgerechten Struktur gibt es für die einzelnen Tarifpositionen nicht nur "die eine" und somit einzig richtige Anzahl Taxpunkte. Bei deren Festlegung kommt auch eine wertende Komponente zum Tragen (vgl. BÜHRER, a.a.O., S. 152), verbliebe doch ansonsten kein Verhandlungsspielraum, der für eine vertragliche Regelung unabdingbar ist. Es liegt in der Natur der Sache, dass jeder direkte Eingriff in die Tarifstruktur - wie er in Art. 43 Abs. 5bis KVG vorgesehen ist - mehr oder weniger "willkürlichen" Charakter hat, weil die betriebswirtschaftlichen, im Tarifmodell berücksichtigten Abhängigkeiten, Regeln und Vereinbarungen ausser Acht gelassen werden (BÜHRER, a.a.O., S. 161, 178).
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Der Unterhalt bzw. die Pflege von Tarifstrukturen obliegt primär den Tarifpartnern. Entscheidend dafür ist, dass die Gesichtspunkte, welche der Strukturierung eines Tarifs zugrunde liegen, als nicht oder schwer justiziabel betrachtet werden. Beim Eingriff in eine gesamtschweizerische Einzelleistungstarifstruktur wie TARMED stellen sich komplexe technische, wirtschaftliche, rechtliche und zeitliche Fragen, die durch die Tarifpartner zu beantworten sind (Urteil 9C_524/2013 vom 21. Januar 2014 E. 3 und 4). Dementsprechend ist grundsätzlich weder das kantonale Schiedsgericht noch das Bundesgericht für die Prüfung einer Änderung der Tarifstruktur zuständig (SVR 2012 KV Nr. 2 S. 4, 9C_252/2011 E. 5.5 in fine). Gegen einen Entscheid des Bundesrates betreffend die Genehmigung oder ![]() | 36 |
Scheitern die Anpassungsbemühungen in einem Bereich, der sich als nicht mehr sachgerecht erweist, ist ein Eingriff durch den Bundesrat vorzunehmen. Die Anpassung nach Art. 43 Abs. 5bis KVG soll ermöglichen, das Versagen des Systems zu beheben, das sich aus den schwierigen Verhandlungen zwischen den Partnern ergeben und das Funktionieren des Systems beeinträchtigen kann (Urteil 9C_524/2013 vom 21. Januar 2014 E. 3 und 4). Laut Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats vom 1. September 2011 zur "Parlamentarischen Initiative Tarmed: Subsidiäre Kompetenz des Bundesrates" ist eine solche Massnahme im Wesentlichen darauf ausgerichtet, die Tarifvertragspartner zu veranlassen, sich (rascher) auf eine vertragliche Anpassung zu einigen (BBl 2011 7388 f. Ziff. 4.1.1 und 4.2). Auch der Bundesrat betonte in seiner Stellungnahme vom 16. September 2011 zum genannten Bericht die Subsidiarität seiner Kompetenz zur Anpassung der Tarifstruktur und erblickte darin einen "starken Anreiz" für die Wahrnehmung der Tarifautonomie durch die Tarifpartner (BBl 2011 7395 Ziff. 2). In diesem Sinne räumte der Gesetzgeber dem Bundesrat einen grossen Ermessensspielraum ein.
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