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Informationen zum Dokument  BGE 145 V 116  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vivao Sympany AG dem S ...
Erwägung 3
4. Streitig und zu prüfen ist die Frage, ob die Beschwerdef& ...
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
12. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Vivao Sympany AG gegen Spital B. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_744/2018 vom 1. April 2019
 
 
Regeste
 
Art. 25 Abs. 1 und 2 lit. a und e sowie Art. 32 Abs. 1 KVG; Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit für die Kostenübernahme bei einer Hospitalisation.  
Die Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass der nach einer Vielzahl von medizinischen Vorkehren aufgelaufene Gesamtbetrag pauschal beanstandet wird (E. 6.2). Solange die im Rahmen der Spitalbehandlung vorgenommenen einzelnen Massnahmen die Voraussetzungen der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit erfüllen, besteht eine unbeschränkte Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Eine pauschale Kostenbegrenzung im Sinne einer Rationierung der Leistungen ist im KVG nicht vorgesehen (E. 6.3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 145 V, 116 (117)A.
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A.a Der 1943 geborene A. war bei der Vivao Sympany AG krankenversichert. Am 8. Dezember 2014 trat er für eine Knieoperation ins Spital B. ein. Wegen einer schweren Gonarthrose wurde ihm linksseitig eine Knie-Teilprothese eingesetzt. Zwei Tage nach dem Eingriff, am 11. Dezember 2014, erlitt A. einen Herzinfarkt, was eine Bypass-Operation erforderlich machte. Nachdem bei ihm am Folgetag ein anurisches Nierenversagen (bei vorbestehender Niereninsuffizienz) festgestellt worden war, musste sich A. Dialysen unterziehen. Am 22. Dezember 2014 diagnostizierten die Ärzte zudem eine Tracheobronchitis. Im Verlaufe seines weiteren Aufenthaltes erlitt A. eine sakrale Osteomyelitis bei grossem Dekubitus über dem Steissbein, weswegen weitere Operationen folgten. Im Februar und März 2015 kam es wiederholt zu Septikämien. Wegen eines Kniegelenkergusses links musste im Juni 2015 eine Punktion vorgenommen werden. Zudem traten beim Versicherten eine Critical Illness Polyneuromyopathie und gastrointestinale Blutungen auf. Im weiteren Verlauf kam es zu Schluckproblemen, einer vorübergehenden Stimmbandlähmung und verschiedenen zusätzlichen Infektionen.
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A.b Während des Spitalaufenthalts von A. diskutierten die Ärzte und das Pflegeteam wiederholt ethische Fragen. Zudem fanden am 26. Februar und am 11. Juni 2015 zwei formelle interprofessionelle ethische Fallbesprechungen (Standortbestimmungen) "METAP Stufe 3" statt, in welchen konstant und einhellig eine volle Therapie als adäquat beurteilt wurde.
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A.c Nachdem der Versicherte 421 Tage in Spitalbehandlung (davon einen grossen Teil auf der Intensivstation) verbracht hatte, wurde er am 2. Februar 2016 zur Neurorehabilitation ins Spital C. verlegt.
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BGE 145 V, 116 (118)A.d Am 29. Februar 2016 stellte das Spital B. für die Behandlung von A. Rechnung im Gesamtbetrag von Fr. 2'410'744.45, wobei es vom Wohnsitzkanton Fr. 1'325'909.30 (entsprechend einem Anteil von 55 %) und von der Vivao Sympany AG Fr. 1'084'835.10 (entsprechend einem Anteil von 45 %) forderte. Der Wohnsitzkanton beglich den von ihm verlangten Betrag. Der Krankenversicherer bezahlte Fr. 300'000.- statt der ihm belasteten Fr. 1'084'835.10, dies mit der Begründung, mehr sei nach seiner Berechnung nicht geschuldet.
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A.e Nach einer erneuten Verschlechterung seines Gesundheitszustandes wurde A. am 8. April 2016 auf die Intensivstation des Spitals C. verlegt. Aufgrund der schlechten Prognose entschied sich das Behandlungsteam mit seinem Einverständnis und demjenigen seiner Ehefrau gegen weitere invasive kardiopulmonale Reanimationsmassnahmen. Am 14. April 2016 verstarb A.; die Ärzte gingen von einem Multiorganversagen aus.
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B. Mit der Post am 23. November 2016 übergebener Klage beantragte das Spital B., es sei die Vivao Sympany AG zu verpflichten, ihm den Betrag von Fr. 784'835.10 zu bezahlen. Diese schloss auf Abweisung der Klage. In der Vermittlungsverhandlung vom 19. April 2017 kam keine Einigung zustande. Der Schriftenwechsel wurde fortgesetzt. Replicando hielt das Spital B. an den in der Klage gestellten Anträgen fest. Duplicando erneuerte auch die Vivao Sympany AG ihr Rechtsbegehren, wobei sie zusätzlich beantragte, das Spital B. habe sämtliche die medizinische und wirtschaftliche Aufklärung sowie die Einwilligung des Patienten betreffenden Akten zu edieren, insbesondere (aber nicht allein) die Unterlagen zu den präoperativen Abklärungen und zum Eintrittsgespräch vom 8. Dezember 2014. Am 14. Februar und am 10. April 2018 folgten weitere Stellungnahmen beider Parteien. Mit Entscheid vom 20. September 2018 hiess das Schiedsgericht in Sozialversicherungssachen des Kantons Basel-Stadt die Klage gut. Es verpflichtete die Vivao Sympany AG, dem Spital B. Fr. 784'835.10 (gemäss Rektifikat) zu bezahlen.
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C. Die Vivao Sympany AG lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag auf Aufhebung des schiedsgerichtlichen Entscheides vom 20. September 2018.
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Das Spital B. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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BGE 145 V, 116 (119)Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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3.1 Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für die Leistungen gemäss den Art. 25-31 KVG nach Massgabe der in den Art. 32-34 festgelegten Voraussetzungen (Art. 24 Abs. 1 KVG). Darunter fallen in erster Linie die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Sie umfassen unter anderem die ambulant, stationär oder in einem Pflegeheim durchgeführten Untersuchungen und Behandlungen sowie die in einem Spital durchgeführten Pflegeleistungen; diese müssen von Ärzten oder Ärztinnen, Chiropraktoren oder Chiropraktorinnen oder von Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin beziehungsweise eines Chiropraktors oder einer Chiropraktorin Leistungen erbringen, durchgeführt werden (Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG). Weiter zählen dazu auch die Kosten für den Aufenthalt im Spital entsprechend dem Standard der allgemeinen Abteilung (Art. 25 Abs. 2 lit. e KVG). Wer Leistungserbringer ist, wird in Art. 35-40 KVG geregelt.
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3.2 Gemäss Art. 32 Abs. 1 KVG müssen die Leistungen nach den Art. 25-31 KVG wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein (Satz 1). Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein (Satz 2). Es handelt sich bei den in dieser Bestimmung statuierten Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien) um die grundlegenden, kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen jeder Leistung. Ihr Zweck ist es, eine effiziente, qualitativ hochstehende und zweckmässige Gesundheitsversorgung zu möglichst günstigen Kosten sicherzustellen. An diesem Ziel haben sich alle Akteure im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (d.h. neben den Versicherten insbesondere auch die Leistungserbringer und die Tarifgenehmigungsbehörden) zu orientieren (BGE 127 V 80 E. 3c/aa S. 85; Urteil BGE 145 V, 116 (120)9C_176/2016 vom 21. Februar 2017 E. 6.2.1 in fine, in: SVR 2017 KV Nr. 13 S. 59).
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3.2.3 Die Wirtschaftlichkeit setzt die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit der Behandlung voraus. Der Leistungserbringer hat sich in seinen Leistungen auf dasjenige Mass zu beschränken, das im Interesse der Versicherten liegt und für den Behandlungszweck erforderlich ist (vgl. auch Art. 56 Abs. 1 KVG). Die Wirtschaftlichkeit beurteilt sich objektiv und hat vergleichenden Charakter, indem sie eine Rolle spielt, wenn im Einzelfall mehrere diagnostische oder therapeutische Alternativen zweckmässig sind. Diesfalls ist das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen jeder Massnahme abzuwägen. Erlaubt eine der Massnahmen, den verfolgten Zweck erheblich kostengünstiger zu erreichen als dies mit der anderen Massnahme der Fall wäre, hat die versicherte Person keinen Anspruch auf die Vergütung der Kosten der teureren Massnahme (BGE 142 V 26 E. 5.2.1 S. 34 ff.; BGE 139 V 135 E. 4.4.3 S. 140; BGE 136 V 395 E. 7.4 S. 407; EUGSTER, Rechtsprechung, a.a.O., N. 13 zu Art. 32 KVG; ders., SBVR, a.a.O., S. 510 f. Rz. 336 ff.; KIESER, a.a.O., N. 7 f. zu Art. 32 KVG; GÄCHTER/RÜTSCHE, a.a.O., S. 275 Rz. 1058). Demgegenüber BGE 145 V, 116 (121)kann eine vergleichsweise grössere medizinische Zweckmässigkeit (durch Vorteile in diagnostischer oder therapeutischer Hinsicht wie beispielsweise geringere Risiken, weniger Komplikationen, günstigere Prognose betreffend Nebenwirkungen und Spätfolgen) die Übernahme einer teureren Massnahme rechtfertigen (BGE 142 V 26 E. 5.2.1 S. 35; BGE 137 V 295 E. 6.3.2 S. 309 f.). Die Frage der Wirtschaftlichkeit stellt sich grundsätzlich nicht, wenn es nur eine Behandlungsmöglichkeit bzw. keine Behandlungsalternative gibt, weil sich das in Art. 32 Abs. 1 KVG verankerte Erfordernis auf die Wahl unter mehreren zweckmässigen Behandlungsalternativen bezieht (BGE 142 V 144 E. 6 S. 150 f.; BGE 139 V 135 E. 4.4.3 S. 140; Urteil 9C_195/2013 vom 15. November 2013 E. 5; EUGSTER, SBVR, a.a.O., S. 511 Rz. 339; GÄCHTER/RÜTSCHE, a.a.O., S. 275 Rz. 1058).
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4.1 Die Vorinstanz erwog, aus den Spitalakten gehe hervor, dass man nach wiederholter Diskussion ethischer Fragen jeweils zum Ergebnis gelangt sei, dass sich bei A. eine volle Therapie rechtfertigte. Besprechungen mit dem Versicherten sowie zwei formelle interdisziplinäre ethische Abklärungen vom 26. Februar und 11. Juni 2015 (METAP Stufe 3) hätten keine Argumente für eine Einschränkung der Therapieaktivität gegeben, auch wenn A. immer wieder Motivationskrisen gehabt habe. Der Versicherte, dessen Urteilsfähigkeit ärztlicherseits bestätigt worden sei, habe die Therapien gewollt und immer wieder auf Heilung gehofft. Wären die Ärzte und Ärztinnen seinem Wunsch nicht nachgekommen, hätten sie sich mit grosser Wahrscheinlichkeit strafbar gemacht und wohl gegen Art. 4 Abs. 1 der Standesordnung der Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH) verstossen, wonach die Behandlung eines Patienten unter Achtung von dessen Willen zu erfolgen hat. Aus diesen Gründen könne dem Spital B. nicht der Vorwurf gemacht werden, es hätte die Leistungen - oder auch nur einen Teil davon - aus krankenversicherungsrechtlicher Sicht nicht erbringen müssen. Da mithin neben der Wirksamkeit und der Zweckmässigkeit, welche Kriterien unbestritten seien, auch die Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit erfüllt sei, bestehe eine Leistungspflicht der Vivao Sympany AG.
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4.2 Die Vivao Sympany AG stellt sich auf den Standpunkt, der Fall des Versicherten weise Ausnahmecharakter auf, indem rund neunundsechzig Mal höhere Kosten angefallen seien als dies nach neueren BGE 145 V, 116 (122) Studien mit Fr. 35'000.- bei Spitalaufenthalten in den letzten zwölf Lebensmonaten durchschnittlich der Fall sei. Der von ihr anerkannte Betrag belaufe sich auf Fr. 296'000.- und berechne sich "nach der vom Bundesgericht als massgeblich angesehenen Methode QALY" wie folgt: Beim damals 71-jährigen Versicherten sei von einer durchschnittlichen restlichen Lebenserwartung von 14,8 Jahren auszugehen (angepasstes Verfahren, weil gewonnene Lebensjahre hier nicht berechnet werden könnten) und von einer Lebensqualität von 0,2 (entsprechend dem Umstand, dass der Versicherte in allen Verrichtungen des Lebens massiv beeinträchtigt oder behindert gewesen sei). Die Multiplikation der beiden Faktoren ergebe einen QALY-Wert von 2,96. Multipliziere man diesen mit Fr. 100'000.-, resultiere der von ihr bezahlte Betrag von Fr. 296'000.-. Dass der Einsatz finanzieller Mittel in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in diesem Sinne zu begrenzen sei, ergebe sich aus der Rechtsprechung, insbesondere aus den das Medikament Myozyme betreffenden Urteilen BGE 136 V 395 und BGE 142 V 478 sowie aus dem sich mit Leistungen der Spitex befassenden Entscheid BGE 142 V 144. Die entsprechende bundesgerichtliche Praxis beziehe sich nicht allein auf Arzneimittel, sondern auf verschiedenste medizinische Massnahmen. Es bestehe kein Grund, sie nicht auch auf Spitalaufenthalte anzuwenden. Es handle sich um eine "lückenfüllende Rechtsprechung", welche Gesetzesrang habe und sich auf das Gebot der Verhältnismässigkeit stütze, welches "eine absolute Grenzziehung" verlange. Die hier zu beurteilenden Kosten bewegten sich in einem Bereich, welcher in den drei erwähnten Urteilen als grobes Missverhältnis bezeichnet worden sei. Die vorinstanzliche Gutheissung der Klage stehe deshalb im Widerspruch zur bundesgerichtlichen Praxis.
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4.3 Das Spital B. vertritt den Standpunkt, die Wirtschaftlichkeit könne nicht thematisiert werden, weil die Behandlung zur Erhaltung des Lebens von A. notwendig gewesen sei und es keine Alternative dazu gegeben habe. Die Beschwerdeführerin rüge die Kosten als zu hoch, lasse aber unklar, ob sie den Preis oder den Entscheid für die erbrachten Therapien beanstande. Ohnehin gelte für die detailliert fixierten Preise einer stationären Behandlung dasselbe wie für die auf der Spezialitätenliste stehenden Medikamente: Es bestehe kein Raum für eine separate Verhältnismässigkeitsprüfung durch ein Gericht. Selbst wenn es theoretisch möglich bliebe, die Entscheidung für oder gegen eine kostspielige Therapie auf ihre Verhältnismässigkeit zu prüfen, nützte dies der Beschwerdeführerin nichts, weil bei A. nicht BGE 145 V, 116 (123)einmalig über eine besonders teure Behandlung, sondern immer wieder von Neuem, häufig in Notfallsituationen, über lebenserhaltende Massnahmen zu entscheiden gewesen sei. Das Bundesgericht habe die von der Beschwerdeführerin für richtig gehaltene Kostenobergrenze von Fr. 100'000.- pro QALY nie verbindlich festgehalten und es wäre auch fraglich, welche Kosten darin Platz haben müssten. Im Übrigen wäre die dazu erforderliche vertiefte und wissenschaftliche Analyse von Kosten und Nutzen ex ante und nicht ex post vorzunehmen. Das KVG sehe eine derartige Limitierung indessen ohnehin nicht vor; es wäre unhaltbar, eine echte Lücke anzunehmen, wie dies die Beschwerdeführerin vorschlage.
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5.3.1 In BGE 136 V 395 ging es um den off-label-use des damals (bis 31. Oktober 2011) noch nicht auf der Spezialitätenliste (SL) enthaltenen Medikaments Myozyme. Das Bundesgericht hatte sich in erster Linie mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das Arzneimittel bei der 69-jährigen, an Morbus Pompe leidenden Versicherten einen hohen therapeutischen Nutzen aufwies, weil dies für die Übernahme der Kosten eines ausserhalb der SL stehenden Medikamentes vorausgesetzt ist. Es verneinte einen solchen sowohl allgemein mangels Nachweises mittels klinischer Studien als auch im konkreten BGE 145 V, 116 (124)Einzelfall (ungewisse gesundheitliche Verbesserung; E. 6.6-6.10 S. 402 ff.). Obwohl eine Kostenübernahme damit bereits aus Wirksamkeits- bzw. Zweckmässigkeitsüberlegungen gescheitert war, stellte das Bundesgericht im Folgenden - in einem obiter dictum - Überlegungen zur (vor allem in der Politik diskutierten) Frage der Wirtschaftlichkeit sowie zur Rechtsgleichheit im Hinblick auf die Grenzen der Finanzierbarkeit der Gesundheitsversorgung an (E. 7 S. 406 ff.). Dabei legte es dar, wie in der bisherigen Rechtsprechung ansatzweise versucht worden sei, anstelle der bisher auf politischer Ebene nicht festgelegten Kriterien die Kosten-Nutzen-Beziehung zu beurteilen (E. 7.6-7.6.2 S. 410 f.). Es zeigte auf, dass in anderen Ländern die Verhältnismässigkeit von Kosten und Nutzen anhand des Aufwands pro gerettetes Menschenlebensjahr betrachtet werde, allenfalls qualitätskorrigiert (beispielsweise anhand des QALY-Konzepts [quality adjusted life years]), und dass die Literatur verschiedene gesundheitsökonomische Ansätze nenne, in welchen Beiträge in der Grössenordnung von maximal ca. Fr. 100'000.- "pro gerettetes Menschenlebensjahr, allenfalls qualitätskorrigiert" noch als angemessen betrachten würden (E. 7.6.3 S. 411 f.). Das Bundesgericht gelangte zum Ergebnis, dass im zu beurteilenden Fall, selbst wenn ein hoher therapeutischer Nutzen erwiesen wäre, eine Leistungspflicht mangels eines angemessenen Verhältnisses zwischen dem Nutzen und den Kosten des Medikaments - es ging um insgesamt rund Fr. 750'000.- bis Fr. 900'000.- für eineinhalb Jahre - verneint werden müsste (E. 7.8 S. 413 f.).
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5.3.2 Nachdem das Medikament Myozyme mit eng einschränkenden Limitierungen und einem gegenüber dem ursprünglichen massiv gesenkten Preis mit Wirkung auf 1. November 2011 in die SL aufgenommen worden war, hatte sich das Bundesgericht in BGE 142 V 478 erneut mit dessen Kostenübernahme zu befassen. Dabei stellte es vorab klar, dass die Wirtschaftlichkeitsprüfung bei einem gelisteten Medikament grundlegend anders erfolgt, weil ihm mit der Aufnahme in die SL nebst Wirksamkeit und Zweckmässigkeit insbesondere Wirtschaftlichkeit attestiert wird, da ein Medikament überhaupt nur in die Liste aufgenommen werden kann, wenn die Wirtschaftlichkeitsprüfung ein positives Resultat ergeben hat. Es erwog, die Aufnahme des Arzneimittels in die SL unter einer die Zulassung weiter einschränkenden Limitierung, deren Einhaltung für eine Kostenvergütung durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung vorausgesetzt wird, sei ein zusätzliches Instrument der Wirtschaftlichkeitskontrolle BGE 145 V, 116 (125)(E. 6.2 S. 485 f.). Im Falle von Myozyme sei mit den eng einschränkenden Limitierungen und den gegenüber früher deutlich gesenkten Kosten dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit im Aufnahmeverfahren in besonderem Mass Rechnung getragen worden. Für eine weitere Wirtschaftlichkeitsprüfung des Listenmedikaments Myozyme im Einzelfall (im zu beurteilenden Fall ging es um Behandlungskosten von rund Fr. 370'000.- für elf Monate) bleibe vor diesem Hintergrund kein Raum. Ob den Krankenversicherern grundsätzlich die Möglichkeit offenstehe, den Einsatz eines gelisteten Medikaments im konkreten Behandlungsfall wegen fehlender Wirtschaftlichkeit rechtsmittelweise in Frage zu stellen, brauche nicht weiter geprüft zu werden (E. 6.4 S. 486 f.).
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5.3.3 In BGE 142 V 144 bejahte das Bundesgericht einen Anspruch auf Übernahme von Leistungen der Spitex, bestehend in der nächtlichen Überwachung eines Beatmungsgeräts, welche bei einer am Undine-Syndrom leidenden Versicherten notwendig war. Es erwog, mangels wirksamer und zweckmässiger Alternativen zur Spitexpflege stelle sich die Frage nach der Wirtschaftlichkeit, welche komparativen Charakter aufweise, von vornherein nicht (E. 6 S. 150 f.). Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit, d.h. der Beziehung zwischen Aufwand und Heilerfolg, zeigte es die Unterschiede auf zum Sachverhalt, der BGE 136 V 395 zugrunde lag: Die jährlichen Kosten seien mit ca. Fr. 200'000.- rund dreimal tiefer als bei der Versicherten, die damals am Recht stand. Zudem sei der hohe Nutzen der (lebensnotwendigen) Spitexleistungen unbestrittenermassen erstellt, indem diese der im Zeitpunkt des Einspracheentscheids 24-jährigen erwerbstätigen Versicherten ein weitgehend normales Leben ermöglichten (E. 7 S. 151).
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5.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass die Frage, ob ein grobes Missverhältnis zwischen Aufwand und Heilerfolg vorliegt, in BGE 142 V 478 (aus den in E. 5.3.2 hiervor dargelegten Gründen) nicht zu prüfen war. In BGE 136 V 395 diskutierte das Bundesgericht sie zwar in einem obiter dictum eingehend (unter anderem mit einer rechtsvergleichenden Betrachtung der QALY-Methode), doch musste es sie nicht abschliessend beantworten, weil die Kostenübernahme bereits an anderen Voraussetzungen scheiterte. Das Bundesgericht liess es mit dem Hinweis bewenden, dass ein grobes Missverhältnis wohl zu bejahen wäre im Falle von sich für eineinhalb Jahre auf Fr. 750'000.- bis 900'000.- belaufenden Kosten (vgl. E. 5.3.1 hiervor). Umgekehrt verneinte es ein solches im Entscheid BGE 142 V 144, BGE 145 V, 116 (126)wo sich ein hoher Nutzen der (lebensnotwendigen) Spitexleistungen und Kosten von etwa Fr. 200'000.- pro Jahr gegenüberstanden (E. 5.3.3 hiervor). Mit anderen Worten hat das Bundesgericht - entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin - auch in den von ihr angerufenen Entscheiden nie eine absolute Grenze für die zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gehenden Kosten festgelegt. Es kann deshalb auch keine Rede davon sein, dass es die QALY-Methode, anhand welcher die Beschwerdeführerin ihre Leistungspflicht auf Fr. 300'000.- zu beschränken versucht, für massgebend erklärt hätte.
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6.1 Im Unterschied zu den Entscheiden BGE 136 V 395 und BGE 142 V 144, in welchen unter Wirtschaftlichkeitsüberlegungen das Kosten- /Nutzen-Verhältnis einer spezifischen Leistung (des Medikaments Myozyme und der Überwachung durch die Spitex) analysiert worden war, stellt die Beschwerdeführerin im Falle von A. nicht die Wirtschaftlichkeit einer einzelnen Massnahme zur Diskussion. Vielmehr beanstandet sie pauschal den nach einer Vielzahl von medizinischen Vorkehren aufgelaufenen Gesamtbetrag. Dieser setzt sich zusammen aus den Kosten verschiedener, grossenteils intensivmedizinischer Behandlungen, die bei A. unabhängig voneinander, insbesondere aufgrund wiederholt aufgetretener Komplikationen, notwendig geworden waren. Denn unglücklicherweise erlitt der Versicherte, der sich am 8. Dezember 2014 wegen einer fortgeschrittenen Gonarthrose für eine Knieoperation ins Spital B. begeben hatte, wenige Tage nach dem Eingriff einen Herzinfarkt und ein Nierenversagen (11. und 12. Dezember 2014) und in der folgenden Zeit eine Tracheobronchitis, eine sakrale Osteomyelitis bei grossem Dekubitus, rezidivierende Septikämien, eine Critical Illness Polyneuromyopathie, eine gastrointestinale Blutung, einen Kniegelenkerguss, eine Stimmbandlähmung und Einschränkungen beim Schlucken sowie weitere Infektionen. Dieser komplexe, komplikationsreiche Verlauf, welcher zahlreiche medizinische Eingriffe erforderlich machte, führte dazu, dass der Versicherte erst am 2. Februar 2016, d.h. nach 421 Tagen, aus dem Spital B. entlassen und zur Rehabilitation ins Spital C. verlegt werden konnte.
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6.2 Anders als die Beschwerdeführerin anzunehmen scheint, kann die Voraussetzung der Wirtschaftlichkeit nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass der nach einer Vielzahl von medizinischen Vorkehren aufgelaufene Gesamtbetrag pauschal beanstandet wird.BGE 145 V, 116 (127)Zielführend könnte ihre Kritik von vornherein nur sein, wenn sie bei den einzelnen Massnahmen ansetzen würde. Mit anderen Worten hätte die Beschwerdeführerin konkret geltend zu machen, welche der zahlreichen bei A. vorgenommenen medizinischen Behandlungen das Kriterium der Wirtschaftlichkeit nicht erfüllt hätte bzw. hätten. Entsprechende Einwände bringt die Beschwerdeführerin indessen nicht vor. Überhaupt unterlässt sie jede Bezugnahme auf die Aspekte, welche unter Wirtschaftlichkeitsüberlegungen rechtsprechungsgemäss Anlass zu Diskussionen geben können, wie namentlich die Art oder der Umfang der vorzunehmenden diagnostischen oder therapeutischen Massnahmen, die Behandlungsform, insbesondere die Frage, ob eine Massnahme ambulant oder stationär (bzw. teilstationär) durchzuführen ist und in welche Heilanstalt oder Abteilung einer solchen die versicherte Person vom medizinischen Standpunkt aus gehört (BGE 139 V 135 E. 4.4.3 S. 140; BGE 126 V 334 E. 2b S. 339; vgl. Urteil 9C_343/2013 vom 21. Januar 2014 E. 4.2.1, in: SVR 2014 KV Nr. 2 S. 5). So wäre im Falle eines Spitalaufenthaltes insbesondere der Einwand denkbar, die versicherte Person habe sich in Spitalbehandlung begeben, obwohl sie gar nicht spitalbedürftig gewesen sei, oder sie sei trotz Wegfalls der Spitalbedürftigkeit in Spitalbehandlung geblieben. Denn diesfalls wäre der (weiterhin andauernde) Spitalaufenthalt nicht (mehr) wirtschaftlich (und auch nicht [mehr] zweckmässig bzw. wirksam; vgl. auch BGE 127 V 43 E. 2a und 2c S. 48 f.; KIESER, a.a.O., N. 8 zu Art. 32 KVG). Im Fall von A. fehlen Anhaltspunkte dafür und wurde nicht geltend gemacht, dass es unter den angeordneten Massnahmen auch nur eine hätte, die unnötig gewesen wäre oder durch eine weniger kostspielige hätte ersetzt werden können, so dass eine volle Leistungspflicht der Beschwerdeführerin aus diesem Grund entfiele (vgl. dazu E. 3.2.3 hiervor).
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6.3 Unbehelflich ist auch der Hinweis in der Beschwerde, wonach der Fall des Versicherten Ausnahmecharakter aufweise, indem rund neunundsechzig Mal höhere Kosten angefallen seien als dies nach neueren Studien mit Fr. 35'000.- bei Spitalaufenthalten in den letzten zwölf Lebensmonaten durchschnittlich der Fall sei. Wenn die Beschwerdeführerin den Spitalaufenthalt von A. insgesamt und pauschal als zu teuer bzw. zu lang beanstandet, scheint sie zu übersehen, dass eine unbeschränkte Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung besteht, solange die im Rahmen der Spitalbehandlung vorgenommenen einzelnen Massnahmen die Voraussetzungen der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit BGE 145 V, 116 (128)(Art. 32 Abs. 1 KVG) erfüllen, wovon hier mangels gegenteiliger Hinweise auszugehen ist (vgl. E. 6.2 hiervor; vgl. auch GÄCHTER/RÜTSCHE, a.a.O., S. 278 Rz. 1072 [betreffend die Aufenthaltskosten]). Es war gerade eines der primären Ziele des KVG, eine zeitlich unbeschränkte Leistungspflicht bei stationärer Behandlung zu gewährleisten (Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung, BBl 1992 I 93 ff., 96 und 133). Für die von der Beschwerdeführerin unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit angestrebte Rationierung in dem Sinne, dass notwendige medizinische Leistungen zwecks Eindämmung der Gesamtkosten nicht zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gehen sollen, fehlt eine Grundlage. Insbesondere sind im KVG keine entsprechenden Massnahmen vorgesehen (vgl. zum Ganzen: BERNHARD RÜTSCHE, Rechtsstaatliche Grenzen von Rationierungen im Gesundheitswesen, in: 5. St. Galler Gesundheits- und Pflegerechtstagung, Kieser/Leu [Hrsg.], 2018, S. 109 ff., insbesondere S. 126 ff.; vgl. auch Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften [SAMW], Rationierung im Schweizer Gesundheitswesen: Einschätzung und Empfehlungen, Schweizerische Ärztezeitung 2007 S. 1431 ff.).
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