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21. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 | |
Regeste |
Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 6-8 ATSG; Art. 28 Abs. 1 IVG; invalidenversicherungsrechtliche Relevanz von Abhängigkeitssyndromen (psychische Störungen durch psychotrope Substanzen). | |
Sachverhalt | |
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die hiergegen erhobene Beschwerde des Versicherten - worin dieser die Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente ab September 2013 verlangte - mit Entscheid vom 18. September 2018 ab.
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C. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 18. September 2018 sei aufzuheben, und es seien ihm die gesetzlichen Leistungen der Invalidenversicherung, insbesondere eine Rente spätestens ab Februar 2013, zuzusprechen. Eventuell sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen mit dem Auftrag, den Sachverhalt beweisfertig festzustellen und die geschuldete Rente gemäss IVG zuzusprechen. Der Versicherte beantragt ausserdem die unentgeltliche Prozessführung sowie die Einsetzung von Rechtsanwalt B. als Rechtsvertreter.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde; das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben diese Rechtsfrage mehrheitlich bejaht.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 1 | |
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Erwägung 2 | |
2.1 Das kantonale Gericht stellte fest, gemäss Begutachtung der SMAB vom Frühjahr 2017 lägen aus psychiatrischer Sicht mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine Störung durch Sedative oder Hypnotika (Benzodiazepine), aktuell unter ärztlicher Kontrolle (ICD-10: ![]() | 10 |
2.2 Das Sozialversicherungsgericht erwog, die gutachterliche Schlussfolgerung, wonach die Leistungsminderung mit grosser Wahrscheinlichkeit auf den noch bestehenden Konsum von Benzodiazepinen zurückzuführen sei, überzeuge. Rechtsprechungsgemäss liege kein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden vor, wo die erhobenen Befunde in der Drogensucht (bzw.: Medikamentenabhängigkeit) ihre hinreichende Erklärung fänden. In casu sei im Falle einer Abdosierung der Benzodiazepine eine schrittweise Leistungssteigerung gemäss Einschätzung der Expertin möglich. Eine ![]() | 11 |
Erwägung 3 | |
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3.2 Der in casu umstrittenen primären oder sekundären Natur des Suchtgeschehens - d.h. der Frage, ob ein körperlicher oder psychischer Gesundheitsschaden Auslöser oder Folge der Sucht ist - kommt nur Bedeutung zu, soweit dem Suchtgeschehen an sich zum vornherein die invalidenversicherungsrechtliche Relevanz abgesprochen wird. Insbesondere in Anbetracht der mit BGE 143 V 409 bzw. BGE 143 V 418 geänderten Rechtsprechung und angesichts medizinischer Erkenntnisse drängt sich die Prüfung auf, ob an der dahingehenden bisherigen Rechtsprechung (vgl. zuletzt etwa Urteile 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 3.2.1; 9C_620/2017 vom 10. April 2018 E. 2.2) festzuhalten ist. Sie drängt sich nicht zuletzt auch mit Blick auf die notorisch problematische diagnostische Abgrenzung der primären von den sekundären Suchterkrankungen auf (vgl. Urteile 9C_618/2014 vom 9. Januar 2015 E. 5.3; 9C_395/2007 vom 15. April 2008 E. 2.3; THONNEY/GAMMETER, Alcool: problèmes psychiatriques courants. "La boîte à outils du practicien", Revue médicale de la Suisse romande 2004 S. 415 ff., S. 417 f.; EUPHROSYNE GOUZOULIS-MAYFRANK, Komorbidität von Sucht und anderen psychischen Störungen - Grundlagen und evidenzbasierte Therapie, Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 2008 Nr. 76, www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/s-2008-1038169 [zuletzt besucht am 27. Juni ![]() | 13 |
Erwägung 4 | |
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4.2 Diese Rechtsprechung geht letztlich - nicht anders als die frühere Rechtsprechung zur Rentenkürzung bei durch Alkoholmissbrauch grobfahrlässig verursachten (selbständigen) Gesundheitsschäden (vgl. grundlegend EVGE 1962 101 E. 3 S. 105; ausführlich BGE 111 V 186 E. 2 S. 187 ff.) - davon aus, die süchtige versicherte Person habe ihren Zustand selbst verschuldet. Bei pflichtgemässer Sorgfalt hätte sie die schädlichen Auswirkungen des Substanzkonsums - wenngleich möglicherweise nicht von Anfang an, so doch jedenfalls früh und klar genug - erkennen können, und sie abwenden bzw. der Heilung zuführen müssen (EVGE 1962 101 E. 3 S. 105). Damit übereinstimmend findet sich auch in der neueren Rechtsprechung die Auffassung, eine allfällige Abhängigkeit sei einem Entzug ohne Weiteres zugänglich (vgl. so explizit Urteil 9C_158/2010 vom 29. Juni 2010 E. 5.2). Rechtlich kommt darin eine eigentliche Fiktion der willentlichen Vermeid- bzw. Überwindbarkeit der Sucht an sich, und folglich auch der Überwindbarkeit der dadurch verursachten Erwerbsunfähigkeit, zum Ausdruck. Ist der versicherten Person die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit sozial-praktisch zumutbar, kann sie also - objektiv betrachtet, bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten - allfällige ![]() | 15 |
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Erwägung 5 | |
5.1 Ausgangspunkt der Anspruchsprüfung nach Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 6 ff. und insbesondere Art. 7 Abs. 2 ATSG ist die ![]() | 17 |
Erwägung 5.2 | |
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Das - vorliegend interessierende (E. 2.1 hiervor) - Abhängigkeitssyndrom definiert die Medizin als eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Gebrauch von psychotropen Substanzen entwickeln ![]() | 19 |
Die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms bedingt nach ICD-10 konkret das Bestehen von drei oder mehr der folgenden Kriterien während mindestens einem Monat oder wiederholt innerhalb von zwölf Monaten (nach DILLING/FREYBERGER, a.a.O., S. 77 f.):
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"1. Ein starkes Verlangen (Craving) oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren.
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2. Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch, d.h. über Beginn, Beendigung oder die Menge des Konsums, deutlich daran, dass oft mehr von der Substanz oder über einen längeren Zeitraum konsumiert wird als geplant, oder an dem anhaltenden Wunsch oder an erfolglosen Versuchen, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren.
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3. Ein körperliches Entzugssyndrom (siehe F1x.3 und F1x.4), wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird, mit den für die Substanz typischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den Gebrauch derselben oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden.
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4. Toleranzentwicklung gegenüber den Wirkungen der Substanz. Für eine Intoxikation oder um den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen grössere Mengen der Substanz konsumiert werden, oder es treten bei fortgesetztem Konsum derselben Menge deutlich geringere Effekte auf.
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6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen (siehe F1x.1), deutlich an dem fortgesetzten Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmass des Schadens bewusst ist oder bewusst sein könnte."
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1. Konsum häufig in grösseren Mengen oder über einen längeren Zeitraum als beabsichtigt.
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2. Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu beenden oder zu kontrollieren.
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3. Hoher Zeitaufwand um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von ihren Wirkungen zu erholen.
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4. Intensives Verlangen oder Drang nach der Substanz (Craving).
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5. Wiederholter Substanzkonsum führt zu wiederholtem Versagen bei der Erfüllung von Verpflichtungen bei der Arbeit, in der Schule oder im Haushalt.
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6. Fortgesetzter Substanzkonsum trotz andauernder oder wiederkehrender sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Wirkungen der Substanz verursacht oder verschärft werden.
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7. Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des Substanzkonsums aufgegeben oder eingeschränkt.
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8. Wiederholter Konsum in Situationen, in denen eine körperliche Gefährdung besteht.
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9. Fortgesetzter Konsum trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden körperlichen oder psychischen Problems, das wahrscheinlich durch die Substanz verursacht wurde oder verstärkt wird.
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11. Bei Zurückgehen der Blut- oder Gewebekonzentration treten Entzugssymptome auf.
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Im Unterschied zum ICD-10 operiert der DSM-5 bei den Suchterkrankungen mit Schweregraden. Dabei liegt eine leichtgradige Substanzkonsumstörung vor, wenn zwei oder drei der obigen Kriterien erfüllt sind; eine mittelgradige bei vier oder fünf erfüllten Kriterien und eine schwergradige bei Erfüllung von sechs oder mehr Kriterien (FALKAI UND ANDERE, a.a.O., S. 667).
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Erwägung 5.3 | |
5.3.1 Rechtlich gilt zunächst festzuhalten, dass in der final konzipierten Invalidenversicherung (vgl. etwa BGE 120 V 95 E. 4c S. 103) keine Grundlage dafür besteht, das Herbeiführen einer Suchterkrankung durch den willentlichen Konsum von Suchtmitteln zum Anlass zu nehmen, einen versicherten Gesundheitsschaden zum vornherein zu verneinen und mit der Begründung eines Selbstverschuldens der versicherten Person auf jegliche weitere Prüfung der funktionellen Einschränkungen zu verzichten (E. 4.2 hiervor). Im Gegensatz zu aArt. 7 Abs. 1 IVG, der auch die grobe Fahrlässigkeit sanktionierte (Version in Kraft bis zum 31. Dezember 2002; vgl. etwa EVGE 1962 101 E. 3 S. 105), fällt nach Art. 21 Abs. 1 ATSG die Verweigerung oder Kürzung von Leistungen nurmehr in Betracht, wenn der Versicherungsfall durch die versicherte Person vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert wird (beim Konsum illegaler Drogen handelt es sich nach Art. 19a des Bundesgesetzes vom 3. Oktober 1951 über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe [BetmG; SR 812.121] i.V.m. Art. 103 StGB um eine Übertretung). Zur Anwendung im sozialversicherungsrechtlichen Kontext kommt aber selbstredend auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms die Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG), so dass von der versicherten Person etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden kann (Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Kommt sie den ihr auferlegten Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhält willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, ist nach Art. 7b Abs. 1 IVG ![]() | 40 |
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5.3.3 Die Rechtsprechung ist folglich dahingehend zu ändern, dass - fachärztlich einwandfrei diagnostizierten (oben E. 5.1) - Abhängigkeitssyndromen bzw. Substanzkonsumstörungen nicht zum vornherein jede invalidenversicherungsrechtliche Relevanz abgesprochen werden kann. Dies steht im Einklang mit dem Ansatz der 5. IV-Revision, ![]() | 42 |
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6.2 Gemäss BGE 143 V 418 E. 6 f. S. 426 ff. ist die Frage nach den Auswirkungen sämtlicher psychischer Erkrankungen auf das funktionelle Leistungsvermögen grundsätzlich unter Anwendung des strukturierten Beweisverfahrens nach BGE 141 V 281 zu beantworten. Hierzu gehören nach dem oben Ausgeführten auch Abhängigkeitssyndrome. Weshalb das strukturierte Beweisverfahren bei diesen Erkrankungen zur Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit nicht geeignet oder entbehrlich sein sollte, ist nicht ersichtlich. Die von der Vorinstanz diesbezüglich angeführten Urteile 8C_582/2015 vom 8. Oktober 2015 (E. 4) und 8C_6/2016 vom 3. Februar 2016 (E. 4.2.3) ergingen noch vor BGE 143 V 418 und begründen die Nichtanwendbarkeit des strukturierten Beweisverfahrens entsprechend mit der unterschiedlichen Natur von Suchterkrankungen und "psychosomatischen Leiden" (zur in den ICD-10 Diagnoseleitlinien zwischenzeitlich nicht mehr verwendeten Begrifflichkeit "psychosomatisch" vgl. BGE 143 V 418 E. 4.1.2 S. 422 f.). Diese Argumentation wurde durch die neuere Rechtsprechung (BGE 143 V 418 E. 6 f. S. 426 ff.) überholt. Die Urteile 8C_663/2017 vom 12. Dezember 2017 E. 3.3 sowie 9C_620/2017 vom 10. April 2018 E. 2.2.1 beschränken sich ![]() | 45 |
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Aus Gründen der Verhältnismässigkeit kann immerhin dort von einem strukturierten Beweisverfahren abgesehen werden, wo es nicht nötig oder geeignet ist. Es bleibt daher etwa dann entbehrlich, wenn für eine - länger dauernde (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG) - Arbeitsunfähigkeit nach bestehender Aktenlage keine Hinweise bestehen oder eine solche im Rahmen beweiswertiger fachärztlicher Berichte in nachvollziehbar begründeter Weise verneint wird und allfälligen gegenteiligen Einschätzungen mangels fachärztlicher Qualifikation oder aus anderen Gründen kein Beweiswert beigemessen werden kann (BGE 143 V 409 E. 4.5.3 S. 417).
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