BGE 145 V 247 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
23. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A.A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_750/2018 vom 6. Mai 2019 | |
Regeste |
Art. 39 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung vom 3. Dezember 1976 zur Durchführung des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Französischen Republik über Soziale Sicherheit vom 3. Juli 1975 in Verbindung mit Art. 58 Abs. 2 und 3 ATSG; örtliche Zuständigkeit des Versicherungsgerichts im Kanton des Sitzes des letzten schweizerischen Arbeitgebers (negativer Kompetenzkonflikt). |
Im Streit um Hinterlassenenleistungen nach UVG zwischen der in Frankreich wohnhaften Witwe des in Frankreich wohnhaft gewesenen verstorbenen Versicherten gegen den schweizerischen Unfallversicherer ist nach Art. 58 Abs. 2 ATSG das Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in welchem der letzte schweizerische Arbeitgeber seinen Sitz (vgl. zur Zweigniederlassung: BGE 144 V 313) hat (E. 5.6). | |
Sachverhalt | |
A. B.A. war stets in Frankreich wohnhaft gewesen. 2015 verstarb er an den Folgen eines Krebsleidens. Zuletzt arbeitete er während mehreren Jahren als Schweisser für die Firma B. AG. In dieser Eigenschaft war er bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Die Suva verneinte gegenüber von A.A., der Witwe des Verstorbenen, einen Anspruch auf Hinterlassenenleistungen.
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B. Hiergegen erhob A.A. Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau (nachfolgend: Versicherungsgericht). Nach verschiedenen Abklärungen und einem Meinungsaustausch zur Frage der örtlichen Zuständigkeit mit dem Kantonsgericht Luzern (nachfolgend: Kantonsgericht) trat das Versicherungsgericht auf die Beschwerde nicht ein und überwies die Sache zuständigkeitshalber an das Kantonsgericht.
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Das Kantonsgericht trat nach Einholung einer Stellungnahme zur örtlichen Zuständigkeit von Seiten der Parteien am 24. September 2018 auf die Beschwerde der A.A. ebenfalls nicht ein.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.A. beantragen, das Versicherungsgericht - subsidiär das Kantonsgericht - sei nach Art. 58 ATSG als örtlich zuständig zu erklären und zu verpflichten, auf die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Suva vom 16. März 2017 einzutreten. Zudem ersucht die Beschwerdeführerin um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
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Während das Kantonsgericht auf die örtliche Zuständigkeit des Versicherungsgerichts schliesst, verzichten die Suva und das Versicherungsgericht auf eine Vernehmlassung.
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Am 9. Januar 2019 lässt A.A. zum Schriftenwechsel Stellung nehmen und die Auffassung vertreten, das Versicherungsgericht des Kantons Aargau sei örtlich zuständig, weil unter den gegebenen Umständen an die örtliche Zuständigkeit im Sitzkanton der letzten Arbeitgeberin des Verstorbenen in der Schweiz anzuknüpfen sei.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
3. Nach Art. 58 Abs. 1 ATSG (in Verbindung mit Art. 1 UVG) ist das Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem die versicherte Person oder der Beschwerde führende Dritte zur Zeit der Beschwerdeerhebung Wohnsitz hat. Befindet sich der Wohnsitz der versicherten Person oder des Beschwerde führenden Dritten im Ausland, so ist das Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem sich ihr letzter schweizerischer Wohnsitz befand oder in dem ihr letzter schweizerischer Arbeitgeber Wohnsitz hat; lässt sich keinerdieser Orte ermitteln, so ist das Versicherungsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem das Durchführungsorgan seinen Sitz hat (Art. 58 Abs. 2 ATSG).
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4.2 Demgegenüber vertritt das Kantonsgericht Luzern die Auffassung, die Zuständigkeitsregelung der zitierten Verwaltungsvereinbarung habe der damals geltenden Ordnung gemäss Bundesgesetz über die Kranken- und Unfallversicherung (KUVG) entsprochen. Mit aArt. 107 Abs. 2 UVG, welcher per 31. Dezember 2002 aufgehoben und mit Inkrafttreten des ATSG in Art. 58 Abs. 2 ATSG neu gefasst worden sei, habe der Bundesgesetzgeber ausdrücklich das damalige Verwaltungsgericht des Kantons Luzern entlasten wollen. Entgegen dem Versicherungsgericht gebe es keine Regel "Völkerrecht bricht Landesrecht". Im Abkommen vom 3. Juli 1975 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Französischen Republik über Soziale Sicherheit (SR 0.831.109.349.1; nachfolgend: Sozialversicherungsabkommen), welches der zitierten Verwaltungsvereinbarung zu Grunde liege, fänden sich keine Zuständigkeitsregelungen. Daraus sei zu schliessen, dass die Parteien mit dem Sozialversicherungsabkommen keine von der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung abweichenden Regelungen treffen wollten. Die lediglich auf Verwaltungsebene zwischen den Vertragsstaaten vereinbarte Durchführungsbestimmung zwecks Bezeichnung der Verbindungsstellen im Sinne von Art. 39 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung vermöge nicht die später bewusst im formellen Gesetzgebungsverfahren vom Bundesgesetzgeber abweichend geregelte Zuständigkeitsordnung gemäss aArt. 107 Abs. 2 UVG und Art. 58 Abs. 2 ATSG zu unterlaufen. Auch aus den angerufenen - vermeintlich präjudiziellen - Gerichtsentscheiden vermöge das Versicherungsgericht mangels Vergleichbarkeit der Sachverhalte nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. Aus der bisherigen Praxis folge lediglich, dass das Kantonsgericht Luzern für Beschwerde führende Personen aus Frankreich in dem Sinne als Verbindungsstelle fungiere, als es die entsprechenden Eingaben bisher praxisgemäss und anstandslos gestützt auf Art. 58 Abs. 2 und 3 ATSG entgegengenommen und an die zuständigen kantonalen Versicherungsgerichte überwiesen habe. Auch aus BGE 135 V 153 lasse sich entgegen dem Versicherungsgericht nicht auf die örtliche Zuständigkeit schliessen. Diese sei praxisgemäss vielmehr nach dem Grundsatz zu bestimmen, wonach sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit befassen sollten, die dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten stünden. Der Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin leite sich aus dem Versichertenverhältnis ihres verstorbenen Ehemannes ab. Da dieser nie Wohnsitz in der Schweiz gehabt habe, lasse sich immerhin der alternative Gerichtsstand am (Wohn-)Sitz seines letzten Arbeitgebers im Kanton Aargau ermitteln. Dieser Anknüpfungspunkt liege zu dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten, weshalb das Versicherungsgericht des Kantons Aargau und nicht das Kantonsgericht Luzern zum Zug komme.
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Erwägung 5 | |
5.1 Die Auslegung eines Staatsvertrags geht in erster Linie vom Vertragstext aus, wie ihn die Vertragsparteien nach dem Vertrauensprinzip im Hinblick auf den Vertragszweck verstehen durften (BGE 130 I 312 E. 4.1 i.f. S. 326; BGE 130 II 113 E. 6.1 i.f. S. 121). Erscheint die Bedeutung des Textes, wie sie sich aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie dem Gegenstand und Zweck des Vertrags ergibt, nicht offensichtlich sinnwidrig, kommt eine über den Wortlaut hinausreichende - ausdehnende oder einschränkende - Auslegung nur in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsstaaten zu schliessen ist (BGE 140 V 493 E. 3 S. 495; BGE 138 V 258 E. 5.3.2 S. 267 f.; je mit Hinweisen).
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5.3 Gegenstand der Verwaltungsvereinbarung sollten laut Art. 31 lit. a des Sozialversicherungsabkommens die Vereinbarung der notwendigen Durchführungsbestimmungen zwischen den zuständigen Behörden der Vertragsstaaten und die Bezeichnung ihrer Verbindungsstellen sein. In diesem Sinne ist Art. 39 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung nicht als massgebende Gerichtsstandsvorschrift über die örtliche Zuständigkeit, sondern vielmehr als Durchführungsbestimmung zu verstehen. Das Kantonsgericht bestreitet denn auch zu Recht nicht, mit Blick auf aArt. 107 Abs. 2 UVG und Art. 58 Abs. 2 ATSG als Verbindungsstelle nach Art. 39 Abs. 1 der Verwaltungsvereinbarung Eingaben von Beschwerde führenden Personen in Frankreich nach ständiger Praxis in Anwendung von Art. 33 Abs. 1 Satz 2 des Sozialversicherungsabkommens entgegengenommen und in Verbindung mit Art. 58 Abs. 2 und 3 ATSG stets an das zuständige Versicherungsgericht weitergeleitet zu haben. Bis zur Entstehung des hier zu beurteilenden negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Kantonsgericht Luzern hat diese Praxis nach Angaben des Kantonsgerichts bisher zu keinen Beanstandungen Anlass gegeben.
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5.5 Angesichts der vom Kantonsgericht dargelegten Praxis, welche - soweit ersichtlich - bisher zu keinen Beanstandungen Anlass gab (E. 5.3 hiervor), kann offenbleiben, ob das Völkerrecht laut angefochtenem Entscheid des Kantonsgerichts keine Regel "Völkerrecht bricht Landesrecht" kennt (so TSCHUMI/SCHINDLER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 72 zu Art. 5 BV mit Hinweisen). Denn die bilateralen Abkommen im Bereich der Sozialen Sicherheit streben - nur, aber immerhin - eine Koordination der beiden beteiligten Rechtssysteme an, ohne dieselben materiell verändern zu wollen (UELI KIESER, Das Verwaltungsverfahren in der Sozialversicherung, 1999, S. 18 Rz. 35 i.f.). Bei zutreffendem Verständnis des hier massgebenden Sozialversicherungsabkommens und der basierend darauf auf Verwaltungsebene abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarung ist entscheidend, dass die Staatsangehörigen der beiden Vertragsstaaten (Art. 1 Ziff. 2 des Sozialversicherungsabkommens) durch die unterschiedlichen innerstaatlichen Zuständigkeitsordnungen im Anwendungsbereich des Abkommens keinen Rechtsnachteil erleiden. Dies ist durch die vom Kantonsgericht dargelegte praxisgemässe Handhabung des hier zur Anwendung gelangenden Sozialversicherungsabkommens in Verbindung mit Art. 58 Abs. 2 ATSG insbesondere unter Mitberücksichtigung der Weiterleitungspflicht gemäss Art. 58 Abs. 3 ATSG gewährleistet. Es berücksichtigt dabei sowohl den klaren Willen des Bundesgesetzgebers als auch die Absicht der Vertragsstaaten.
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5.6.2 Hatten - wie hier - weder der verstorbene Versicherte noch dessen Witwe jemals Wohnsitz in der Schweiz (vgl. hiervor E. 4 Ingress), bestimmt sich der Gerichtsstand nach Art. 58 Abs. 2 ATSG. Der Sitz des letzten schweizerischen Arbeitgebers, für welchen der Versicherte tätig war, liegt im Kanton Aargau (vgl. hiervor E. 4 Ingress). Unter den gegebenen Umständen ist nicht ersichtlich, inwiefern die subsidiäre Anknüpfung (vgl. dazu hiervor E. 5.4 i.f.) am Sitz des Durchführungsorgans im Sinne des letzten Teilsatzes von Art. 58 Abs. 2 ATSG zur Anwendung gelangen sollte. Steht der ausländische Wohnsitz des verstorbenen Versicherten und seiner hinterlassenen Ehegattin (Beschwerdeführerin) ebenso fest wie der Sitz - und Arbeitsort (vgl. dazu BGE 144 V 313 E. 6.5 S. 318 f.) - des letzten schweizerischen Arbeitgebers im Kanton Aargau, besteht kein Zweifel, dass das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zur materiellen Beurteilung der Beschwerde örtlich zuständig ist. Dieser Gerichtsstand entspricht auch dem nach ständiger Rechtsprechung betonten Grundsatz, wonach sich sinnvollerweise diejenigen Gerichte mit einer Streitigkeit befassen sollten, die dem zu beurteilenden Sachverhalt räumlich am nächsten stehen (BGE 139 V 170 E. 4.3 S. 173; BGE 124 V 310 E. 6b/bb S. 312 f.; je mit Hinweisen).
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