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1. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_402/2019 vom 14. Januar 2020 | |
Regeste |
Frist für die Vollstreckungsverwirkung bei rechtskräftig festgesetzten Leistungen; Gesetzeslücke. | |
Sachverhalt | |
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A.a Der 1956 geborene A. (...) wurde am 5. April 2002 (...) bei der Arbeit von einer Aluminiumplatte getroffen. Dabei zog er sich Fingerverletzungen an der linken Hand zu. Die Suva erbrachte Versicherungsleistungen. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 10. April 2007 sprach sie A. (...) rückwirkend ab 1. Februar 2007 eine Rente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 15 % zu. Sie zahlte zunächst für die Monate Februar bis September 2007 die monatliche Rente aus, verhängte aber ab Oktober 2007 eine Zahlungssperre, da sie davon ausging, die Bankverbindung sei aufgehoben worden. A. retournierte die bereits geleisteten Renten für die Monate Februar bis September 2007 im Mai 2008.
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A.b Am 21. April 2007 stürzte A. mit dem Fahrrad und erlitt nebst einer Kontusion des Ellbogens und der Hüfte rechts eine laterale Claviculafraktur rechts. Die Suva erbrachte auch im Zusammenhang mit diesem Ereignis Versicherungsleistungen.
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A.c Mit Schreiben vom 5. Januar und 19. März 2015 machte A. unter anderem höhere Rentenansprüche aufgrund einer Zunahme der Arbeitsunfähigkeit geltend. Die Suva sprach ihm daraufhin mit Verfügung vom 20. Dezember 2016 aufgrund bleibender unfallbedingter Einschränkungen an der linken Hand und an der rechten Schulter rückwirkend ab 1. Januar 2009 eine kombinierte Rente, entsprechend einer Erwerbsunfähigkeit von 24 %, zu, wobei sie die noch nicht ausbezahlten Rentenbetreffnisse für die Zeit vom 1. Februar 2007 bis 31. Dezember 2009 gestützt auf Art. 24 Abs. 1 ATSG als verwirkt ![]() ![]() | 4 |
B. In teilweiser Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid vom 13. September 2017 betreffend Verwirkung der Rentenansprüche vor dem 1. Januar 2010 auf und wies die Sache zur Ausrichtung der fälligen und noch nicht ausbezahlten Rentenbetreffnisse ab 1. Februar 2007 an die Suva zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 30. April 2019, Dispositiv-Ziffer 1).
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C. Die Suva erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, Dispositiv-Ziffer 1, Satz 1 des angefochtenen Gerichtsentscheids sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 13. September 2017 sei zu bestätigen.
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(...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen: | |
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7.1 Das kantonale Gericht ist der Auffassung, diese Bestimmung gelange bei der Frage der Verwirkung rechtzeitig geltend gemachter und zugesprochener Leistungen nicht zur Anwendung. Von Art. 24 Abs. 1 ATSG nicht erfasst sei folglich die Durchsetzung der rechtskräftigen Leistungsverfügung. Diesbezüglich gelte rechtsprechungsgemäss eine zehnjährige Verwirkungsfrist. Mit den Schreiben der Rechtsvertreterin des Versicherten von Januar und März 2015 seien ![]() ![]() | 12 |
7.2 Die Suva macht geltend, die zehnjährige, durch Richterrecht für die Vollstreckungsverwirkung installierte Frist sei im ATSG nicht aufgenommen worden. Nach Absicht des Gesetzgebers habe die Fünfjahresfrist sowohl für die Festsetzung der Forderung als auch für deren Vollstreckung zu gelten. Die Gesetzesmaterialien würden aufzeigen, dass der Gesetzgeber die Zweiteilung der Fristen für die Festsetzung oder Nachforderung von Beiträgen und für die Vollstreckung einer rechtskräftig festgesetzten Beitragsforderung lediglich in Bezug auf die AHV/IV/EO-Beiträge habe beibehalten wollen. In der Folge habe im UVG keine Bestimmung über die Vollstreckungsverjährung Eingang gefunden. In Art. 16 Abs. 2 AHVG sei jedoch auch für die Vollstreckung rechtskräftig verfügter Beiträge eine fünfjährige Frist vorgesehen. Der Gesetzgeber habe für rechtskräftig zugesprochene Leistungen keine zehnjährige Vollstreckungsverwirkung installieren wollen, ansonsten eine entsprechende Bestimmung im ATSG oder in Einzelgesetzen - insbesondere im UVG - vorgesehen worden wäre. Dies führe zum zwingenden Schluss, dass die fünfjährige Verwirkungsfrist des Art. 24 Abs. 1 ATSG auch in Bezug auf die Vollstreckung rechtskräftig verfügter Leistungen gelten müsse, zumal das ATSG als Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts gerade die Füllung der im kodifizierten Recht bestehenden Lücken bezwecke. Da die Rentenraten gemäss rechtskräftiger Verfügung vom 10. April 2007 nach Ende September 2007 trotz entsprechender Bemühungen der Suva dem Beschwerdegegner nicht mehr hätten überwiesen werden können und die Nachzahlung derselben erst Anfang Januar 2015 geltend gemacht worden sei, habe die Suva die für die Zeit vom 1. Oktober 2007 bis 31. Dezember 2008 ausstehenden Rentenbetreffnisse unter Anwendung der fünfjährigen Frist zu Recht als verwirkt qualifiziert. Die auf einem Invaliditätsgrad von 30 % basierende Rente, zugesprochen mit Verfügung vom 20. Dezember 2016 bzw. Einspracheentscheid vom 13. September 2017, rückwirkend ab 1. Januar 2009, habe Streitgegenstand des vorinstanzlichen Prozesses gebildet. Insoweit handle es sich nicht ![]() ![]() | 13 |
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Erwägung 8 | |
8.1 Mit Art. 24 Abs. 1 ATSG ist der Tatbestand der Festsetzungsverwirkung bundesrechtlich geregelt (BGE 139 V 244 E. 3.1 S. 246 f.; BBl 1991 II 257 zu Art. 31 E-ATSG). Davon zu unterscheiden ist die Verwirkung der Vollstreckung, welche von dieser Norm nicht erfasst wird (SVR 2006 KV Nr. 4 S. 9, K 99/04 E. 2.1.2; SYLVIE PÉTREMAND, in: Commentaire romand, Loi sur la partie générale des assurances sociales, 2018, N. 2 und 11 zu Art. 24 ATSG; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 6 zu Art. 24 ATSG). Obgleich der Wortlaut der Bestimmung - insbesondere die Verwendung ![]() ![]() | 16 |
Erwägung 8.2 | |
8.2.1 Im Rahmen der Lückenfüllung ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass vor Inkrafttreten des ATSG per 1. Januar 2003 eine klare Zweiteilung bezüglich der Frist zur Festsetzung und zur Vollstreckung einer Forderung bestand. Es war nicht beabsichtigt, dass das neue Recht daran etwas ändern sollte (BBl 1999 V 4575). Dies zeigt sich exemplarisch anhand der AHV-spezifischen Norm in Art. 16 Abs. 2 AHVG, die das Erlöschen der rechtskräftig festgesetzten Beitragsforderung regelt. Die zur Zeit der Beratungen zur Umsetzung des ATSG in den Einzelgesetzen im Jahr 1996 in Art. 16 Abs. 2 AHVG noch festgeschriebene dreijährige Frist für die Vollstreckungsfrist wurde bewusst nicht angepasst (BBl 1999 V 4756). Es ist dem BAG zuzustimmen, dass eine Anhebung auf eine Fünfjahresfrist in Art. 16 Abs. 2 AHVG notwendig gewesen wäre, falls die Zweiteilung zwischen Festsetzungs- und Vollstreckungsfrist im Sozialversicherungsrecht hätte aufgegeben werden sollen. Oder, falls mit Art. 24 Abs. 1 ATSG im Sinne der Argumentation der ![]() ![]() | 17 |
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Heute sind keinerlei Gründe ersichtlich, die auch nach Inkrafttreten des ATSG weiterhin bestehende Gesetzeslücke bezüglich der Vollstreckungsverjährung rechtskräftig verfügter Leistungen abweichend von der bisherigen Praxis zu füllen. Anstelle von Art. 67 OR kann auf die Analogie zur ordentlichen Frist gemäss Art. 127 OR verwiesen werden. Vor allem aber besteht aus Sicht der Rechtssicherheit nach wie vor kein Bedürfnis an einer kurzen Frist, weil die Verhältnisse nach der rechtskräftigen Festsetzung der Leistungen und der geschuldete Betrag klar sind (vgl. BGE 131 V 4 E. 3.4 S. 8 f.).
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9. Die Suva erhöhte mit Einspracheentscheid vom 13. September 2017 die Rente ab 1. Januar 2009, entsprechend einer Erwerbsunfähigkeit von 30 %. Dieser Einspracheentscheid erwuchs nicht in Rechtskraft, sondern bildete vielmehr Anfechtungsobjekt im vorinstanzlichen Gerichtsverfahren. Das kantonale Gericht übersieht, dass mangels rechtskräftiger und vollstreckbarer Zusprechung dieser höheren Rentenleistungen hier nicht die praxisgemässe zehnjährige Frist für die Vollstreckungsverwirkung (vgl. E. 8 hiervor) zur Anwendung kommen kann. Hinsichtlich dieser Leistungen ist die fünfjährige Frist für die Festsetzungsverwirkung gestützt auf Art. 24 Abs. 1 ATSG massgebend (vgl. SVR 2006 KV Nr. 4 S. 9, K 99/04; E. 7 hiervor). Weil der Beschwerdegegner erstmals im Januar 2015 eine höhere Rente anbegehrt hatte, waren die einzelnen Rentenbetreffnisse, soweit sie auf einer höheren als auf einer 15%igen Erwerbseinbusse fussen, für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2009 damals bereits verwirkt. In diesem Umfang ist die Beschwerde der Suva gutzuheissen. ![]() | 22 |
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