BGE 146 V 95 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 06.08.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
9. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_391/2019 vom 23. März 2020 | |
Regeste |
Art. 123 und 124 ZGB; Vorsorgeausgleich bei Ehescheidung; Bestimmung der zu teilenden Austrittsleistung. | |
Sachverhalt | |
A. Mit Entscheid des Bezirksgerichts vom 22. Juni 2018 wurde die am 20. Juni 2008 geschlossene Ehe von A. (geb. 1958) und B. (geb. 1959) geschieden und u.a. die gemäss Art. 122 ZGB hälftige Teilung der während der Ehedauer geäufneten Guthaben der beruflichen Vorsorge angeordnet. Nach Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils und im Verfahren nach Art. 281 Abs. 3 ZPO überwies das Bezirksgericht die Angelegenheit am 31. August 2018 zur Teilung der Austrittsleistungen ("Entscheid in betragsmässiger Hinsicht") an das kantonale Berufsvorsorgegericht.
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B. Mit Entscheid vom 7. Mai 2019 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die AXA Stiftung Berufliche Vorsorge, Winterthur (nachfolgend: AXA) an, vom Konto des A. Fr. 103'323.10 zuzüglich Zins ab 20. Februar 2018 auf das Konto der B. bei der Pensionskasse X. zu überweisen. Nach Erhalt dieses Entscheids teilte B. mit, dass neu eine andere Vorsorgeeinrichtung für sie zuständig sei. Mit Entscheid ("Berichtigungsurteil") vom 28. Mai 2019 änderte das Versicherungsgericht die Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids vom 7. Mai 2019 insoweit ab, als der Betrag nunmehr an die Pensionskasse Y. zu überweisen ist.
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C. A. beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, der Entscheid vom 7. Mai 2019 sei aufzuheben und die Festsetzung des von der AXA zu überweisenden Betrags sei "aufzuschieben, bis dass die Invalidenrente bestimmt ist".
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B. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Die AXA beantragt deren Gutheissung; zudem ersucht sie um Sistierung des Verfahrens. Das Bundesamt für Sozialversicherungen reicht eine Eingabe ein, ohne einen Antrag zu stellen.
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D. Die II. sozialrechtliche und die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts haben ein Verfahren nach Art. 23 BGG durchgeführt.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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Entsprechend dem Grundsatz von Art. 122 ZGB werden die während der Ehe bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens erworbenen Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge bei der Scheidung ausgeglichen. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem Vorsorgeausgleich "bei Austrittsleistungen" (Art. 123 ZGB), "bei Invalidenrenten vor dem reglementarischen Rentenalter" (Art. 124 ZGB) und bei "Invalidenrenten nach dem reglementarischen Rentenalter und bei Altersrenten" (Art. 124a ZGB). Letztere Konstellation liegt im hier zu beurteilenden Fall nicht vor.
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Der Unterschied zwischen den Bestimmungen von Art. 123 und 124 ZGB liegt im Wesentlichen darin, dass die Teilung nach Art. 123 ZGB lediglich die "erworbenen" (d.h. die "tatsächlich" angesparten und verzinsten) Austrittsleistungen betrifft, während sie sich nach Art. 124 ZGB auf eine "hypothetische" Austrittsleistung bezieht, die zusätzlich Gutschriften (samt Zins) aus der Weiterführung des Alterskontos nach Eintritt der Invalidität (vgl. Art. 14 der Verordnung vom 18. April 1984 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge [BVV 2; SR 831.441.1] im obligatorischen und reglementarische Beitragsbefreiung im weitergehenden Bereich) beinhaltet (Botschaft vom 29. Mai 2013 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Vorsorgeausgleich bei Scheidung], BBl 2013 4900 Ziff. 1.5.2 und 4907 Ziff. 2.1; JUNGO/GRÜTTER, in: FamKomm Scheidung, Bd. I, 3. Aufl. 2017, N. 6 ff. zu Art. 124 ZGB; FLEISCHANDERL/HÜRZELER, in: FamKomm Scheidung, Bd. II, Anhang Sozialversicherungsrechtliche Fragen in Bezug auf Trennung und Scheidung, 3. Aufl. 2017, S. 432 Rz. 206; GEISER/WALSER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 6. Aufl. 2018, N. 2 zu Art. 124 ZGB).
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2.4 Die zu teilende Austrittsleistung eines Ehegatten entspricht der Differenz zwischen der Austrittsleistung zuzüglich allfälliger Freizügigkeitsguthaben im Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens und der Austrittsleistung zuzüglich allfälliger Freizügigkeitsguthaben im Zeitpunkt der Eheschliessung. Die Austrittsleistung und das Freizügigkeitsguthaben im Zeitpunkt der Eheschliessung sind auf den Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens aufzuzinsen. Barauszahlungen und Kapitalabfindungen während der Ehedauer werden nicht berücksichtigt (Art. 22a Abs. 1 FZG). Gegenseitige Ansprüche der Ehegatten auf Austrittsleistungen oder auf Rentenanteile werden verrechnet (Art. 124c Abs. 1 ZGB).
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Erwägung 3 | |
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Erwägung 4 | |
4.1 Mit Bezug auf die Anwendung von Art. 123 und 124 ZGB hat die Vorinstanz einzig erwogen, der Vorsorgefall sei beim Beschwerdeführer bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens am 19. Februar 2018 nicht eingetreten, da ausweislich der Akten bis zu diesem Zeitpunkt kein Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung entstanden sei. Ein allenfalls bei der Invalidenversicherung hängiges Verfahren sei daher bei der Teilung der Vorsorgeguthaben nicht zu berücksichtigen.
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Damit hat das kantonale Gericht (implizit) den tatsächlichen Rentenbezug mit dem Eintritt des Vorsorgefalls gleichgestellt resp. als massgebendes Abgrenzungskriterium zwischen Art. 123 und 124 ZGB erachtet und (ausschliesslich) die erste der beiden Bestimmungen für anwendbar gehalten.
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Erwägung 4.2 | |
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In BGE 142 V 419 E. 4.4 S. 424 relativierte das Bundesgericht mit Blick auf diese Rechtsprechung die Bedeutung des (tatsächlichen) Rentenbezugs: Es präzisierte, dass die vollständige Kürzung eines Anspruchs auf eine Invalidenrente der beruflichen Vorsorge zufolge Überentschädigung nichts am Eintritt des Vorsorgefalles Invalidität nach Massgabe der ersten Säule im Rahmen einer Scheidung ändert. In den zitierten Fällen stand jeweils schon vor dem damals massgeblichen Zeitpunkt (Rechtskraft des Scheidungsurteils) fest, ob (zumindest gegenüber der Invalidenversicherung) Anspruch auf eine Invalidenrente bestand (BGE 142 V 419 Bst. A S. 420; BGE 134 V 28 E. 3.1 S. 30; BGE 129 III 481 E. 3 S. 483).
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Sodann erwog das Bundesgericht im Urteil 9C_191/2013 vom 8. Juli 2013 E. 4 (SVR 2014 BVG Nr. 2 S. 5; in Bestätigung des Urteils 9C_388/2009 resp. BGE 136 V 225 und unter Verweis auf das Urteil 9C_899/2007 vom 28. März 2008 E. 5.2, in: FamPra.ch 2008 S. 654) Folgendes: Das Berufsvorsorgegericht ist grundsätzlich an die im Scheidungsurteil festgelegte Teilung gebunden und hat diese bloss zu vollziehen. Das gilt auch dann, wenn nach dem massgebenden Zeitpunkt ([damals] Rechtskraft des Scheidungsurteils) ein Vorsorgefall eintritt. Anders verhält es sich jedoch, wenn sich nachträglich herausstellt, dass de facto bereits vor dem massgebenden Zeitpunkt ein Vorsorgefall eingetreten ist. In diesem Fall kann das ganze in den (a)Art. 122/141-142 ZGB und (a)Art. 25a FZG geregelte Verfahren nicht zur Anwendung gelangen. Hat in einem solchen Fall das Berufsvorsorgegericht die Teilung nach (a)Art. 122 ZGB noch nicht vorgenommen, hat es allenfalls das Verfahren zu sistieren, wenn die rückwirkende Ausrichtung von Invalidenleistungen auf einen Zeitpunkt vor Eintritt der Rechtskraft des Scheidungsurteils wahrscheinlich ist oder diesbezügliche Abklärungen der Vorsorgeeinrichtung im Gange sind, oder - wenn eine rückwirkende Ausrichtung feststeht - die Sache an das Scheidungsgericht zu überweisen, damit es - allenfalls auf dem Wege der Revision des Scheidungsurteils - eine angemessene Entschädigung nach (a)Art. 124 Abs. 1 ZGB festsetze. Dies hat auch zu gelten, wenn vorgelagert sogar noch ein Verfahren der Invalidenversicherung läuft. Denn Anspruch auf BVG-Invalidenleistungen haben Personen, die im Sinne der IV zu mindestens 40 % invalid sind (Art. 23 lit. a 1. Halbsatz BVG). Massgebender Zeitpunkt für den Eintritt des Vorsorgefalls Invalidität ist das Inkrafttreten der Verfügung der Invalidenversicherung. Denn mit der Entstehung eines Rentenanspruchs gegenüber der Invalidenversicherung entsteht auch ein solcher aus obligatorischer beruflicher Vorsorge.
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Erwägung 4.3 | |
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Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen (Auslegung nach dem Wortlaut). Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss der Richter unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat er insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historische Auslegung). Weiter hat der Richter nach dem Zweck, dem Sinn und den dem Text zugrunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologische Auslegung). Wichtig ist auch der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt, und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematische Auslegung). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (BGE 146 V 51 E. 8.1 S. 63; BGE 145 III 109 E. 5.1 S. 114; BGE 144 III 29 E. 4.4.1 S. 34 f.; BGE 131 III 314 E. 2.2 S. 315 f.; BGE 121 III 460 E. 4a/bb S. 465; je mit Hinweisen).
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4.3.2 Nach Art. 124 Abs. 1 ZGB ist für dessen Anwendung entscheidend, ob ein Ehegatte im (neu massgeblichen) Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens eine Invalidenrente "bezieht" ("perçoit"; "percepisce"). Zwar erscheint dieser Wortlaut klar. Indessen wird das Element des tatsächlichen Rentenbezugs bereits mit Blick auf die Formulierung von Art. 124 Abs. 3 ZGB hinsichtlich einer (allenfalls vollständigen) "Überentschädigungskürzung der Invalidenrente" relativiert (vgl. dazu auch obenstehende E. 4.2.2 mit Hinweis auf BGE 142 V 419 E. 4.4 S. 424).
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4.3.5 In systematischer Hinsicht ist zu beachten, dass der Betrag nach Art. 124 Abs. 1 ZGB in der Regel nicht für den Vorsorgeausgleich verwendet werden kann, wenn eine Invalidenrente infolge des Zusammentreffens mit Leistungen der Unfall- oder Militärversicherung gekürzt wurde. In diesem Fall ist eine angemessene Entschädigung gemäss Art. 124e Abs. 1 ZGB geschuldet (Art. 124 Abs. 3 ZGB i.V.m. Art. 26a BVV 2; BBl 2013 4909 Ziff. 2.1). Der Grund für diese Ausnahmeregelung - Vermeidung von Überentschädigung zu Lasten des Versichertenkollektivs - besteht unabhängig davon, ob der Rentenanspruch bereits bei Einleitung des Scheidungsverfahrens oder erst nachträglich feststeht.
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4.4 Nach dem soeben (in E. 4.3) Gesagten ist für die Anwendbarkeit von Art. 124 ZGB entscheidend, ob vor Einleitung des Scheidungsverfahrens ein Anspruch auf eine Invalidenrente aus beruflicher Vorsorge entstanden resp., mit anderen Worten, der Vorsorgefall Invalidität eingetreten ist. Im Bereich der obligatorischen beruflichen Vorsorge fällt der Eintritt des Vorsorgefalls mit der Entstehung des Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung zusammen, auch wenn die Rente aus beruflicher Vorsorge (zur Vermeidung einer Überentschädigung) aufgeschoben wird. Gleiches gilt für die weitergehende Vorsorge, sofern - wie hier - das Reglement nichts Abweichendes enthält (BGE 142 V 419 E. 4.3.3-4.4 S. 423 f.; GEISER/WALSER, a.a.O., N. 7 zu Art. 124 ZGB; FLEISCHANDERL/HÜRZELER, a.a.O., S. 432 f. Rz. 207). Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung schliesst der Umstand, dass ein definitiver Entscheid über den Anspruch auf eine Invalidenrente noch aussteht und deshalb (noch) keine Rente bezogen wird, weder den Eintritt des Vorsorgefalls im entscheidenden Zeitpunkt noch die Anwendung von Art. 124 ZGB aus (so auch MEYER/UTTINGER, in: BVG und FZG, 2. Aufl. 2019, N. 42 zu Art. 73 BVG; JUNGO/GRÜTTER, a.a.O., N. 5 zu Art. 122 ZGB und N. 13 f. zu Art. 124 ZGB).
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