BGE 146 V 306 | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 21.11.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
28. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_688/2019 vom 30. Juni 2020 | |
Regeste |
Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG; anrechenbare Einnahmen bei Verschwendung des Vermögens. | |
Sachverhalt | |
A. Die 1942 geborene A., Bezügerin einer Altersrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung, meldete sich im Oktober 2016 zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (nachfolgend: SVA) ermittelte einen Einnahmenüberschuss, weshalb sie mit Verfügung vom 3. Dezember 2016 einen Anspruch verneinte. Am 12. April 2017 trat A. in ein Altersheim ein. Mit Verfügung vom 30. Mai 2017 sprach ihr die SVA eine Ergänzungsleistung von monatlich Fr. 523.- ab 1. April 2017 zu. Mit einer weiteren Verfügung vom 12. Juli 2017 hob sie die Ergänzungsleistung auf Ende Juli 2017 auf. Mit Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2017 hielt die SVA an allen drei Verfügungen fest. Zudem verneinte sie den Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand für das Einspracheverfahren.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, nachdem es A. eine reformatio in peius angedroht hatte, mit Entscheid vom 21. August 2019 ab. Gleichzeitig korrigierte es den Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2017 insoweit, als es die für die Zeit vom 1. April bis zum 31. Juli 2017 gewährte Ergänzungsleistung auf monatlich Fr. 489.- herabsetzte.
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C. A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 21. August 2019 sei ihr eine Ergänzungsleistung von monatlich Fr. 5'105.95 ab 1. April 2017 und von monatlich Fr. 5'577.95 ab 1. August 2017 zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Ausgleichskasse zurückzuweisen. Ausserdem sei ihr für das Einspracheverfahren ihr Rechtsvertreter als unentgeltlicher Rechtsbeistand beizugeben. Für das Verfahren vor Bundesgericht ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
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Die SVA und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. A. lässt eine Kostennote einreichen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
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2.2 Die Vorinstanz hat die anerkannten jährlichen Ausgaben auf Fr. 40'827.- ab Oktober 2016, Fr. 41'031.- ab Januar 2017, Fr. 100'149.- ab April 2017 und Fr. 83'349.- ab August 2017 festgelegt. Als anrechenbare jährliche Einnahmen hat sie Fr. 65'140.- ab Oktober 2016, Fr. 61'165.- ab Januar 2017, Fr. 94'289.- ab April 2017 und einen nicht bezifferten, aber die anerkannten Ausgaben übersteigenden Betrag ab August 2017 festgestellt. Entsprechend dem jeweiligen Ausgaben- resp. Einnahmenüberschuss hat sie den Anspruch auf jährliche Ergänzungsleistung für die Monate April bis und mit Juli 2017 (in der Höhe von jährlich Fr. 5'860.- resp. monatlich Fr. 489.-) bejaht und für die übrige Zeit verneint.
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Streitig und zu prüfen sind diesbezüglich einzig die ab April 2017 anrechenbaren Einnahmen mit Blick auf die vorinstanzliche Behandlung des Vermögensverzehrs.
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Erwägung 2.3 | |
2.3.1 Als Einnahmen angerechnet werden auch Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG). Der Tatbestand dieser Bestimmung ist erfüllt, wenn die Leistungsansprecherin ohne rechtliche Verpflichtung oder ohne adäquate Gegenleistung auf Einkünfte oder Vermögen verzichtet hat (BGE 140 V 267 E. 2.2 S. 270; BGE 134 I 65 E. 3.2 S. 70; BGE 131 V 329 E. 4.4 in fine S. 336). Dabei ist ein Verzicht nicht alleine deswegen anzunehmen, weil jemand vor der Anmeldung zum Ergänzungsleistungsbezug über seinen Verhältnissen gelebt haben könnte; das System der Ergänzungsleistungen bietet keine gesetzliche Handhabe für eine wie auch immer geartete "Lebensführungskontrolle" (BGE 121 V 204 E. 4b S. 206; BGE 115 V 352 E. 5d S. 354 f.; Urteil 9C_435/2017 vom 19. Juni 2018 E. 3.2 mit weiteren Hinweisen).
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In zeitlicher Hinsicht ist zu beachten, dass für die Berücksichtigung eines Vermögensverzichts in der EL-Berechnung grundsätzlich unerheblich ist, wie weit die Verzichtshandlung zurückliegt (Urteil 9C_435/2017 vom 19. Juni 2018 E. 3.2 mit Hinweisen).
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2.3.2 Die leistungsansprechende Person hat sich im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht an der Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu beteiligen. Insbesondere hat sie bei einer ausserordentlichen Abnahme des Vermögens diejenigen Tatsachen zu behaupten und soweit möglich auch zu belegen, die einen Vermögensverzicht ausschliessen. Ist ein einmal bestehendes Vermögen nicht mehr vorhanden, trägt sie die Beweislast dafür, dass es in Erfüllung einer rechtlichen Pflicht oder gegen eine adäquate Gegenleistung hingegeben worden ist. Dabei genügt weder die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts noch Glaubhaftmachen, sondern es gilt der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Dieser ist erfüllt, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich in Betracht fallen. Bei Beweislosigkeit, d.h. wenn es dem Leistungsansprecher nicht gelingt, einen (überdurchschnittlichen) Vermögensrückgang zu belegen oder die Gründe dafür rechtsgenügend darzutun, wird ein Vermögensverzicht angenommen und ein hypothetisches Vermögen sowie darauf entfallender Ertrag angerechnet (Urteil 9C_435/2017 vom 19. Juni 2018 E. 3.3 mit Hinweisen).
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Erwägung 2.4 | |
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2.5 Die soeben (in E. 2.4.1) wiedergegebenen vorinstanzlichen Feststellungen werden nicht angefochten und bleiben für das Bundesgericht verbindlich (nicht publ. E. 1). Unbestritten ist auch, dass die Schenkungen Verzichtsvermögen darstellen, das im Rahmen von Art. 17a ELV anrechenbar ist. Näher zu betrachten ist die Qualifikation der weiteren nicht existenznotwendigen Auslagen (Fr. 325'830.-).
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Das kantonale Gericht ist - wie zuvor die Verwaltung - implizit davon ausgegangen, dass die Versicherte dafür (zumindest teilweise; vgl. nachfolgende E. 2.7) adäquate Gegenleistungen erhalten habe. Es ist der Auffassung, die stetige Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach in entsprechendem Umfang der Verzichtstatbestand nicht erfüllt ist (vgl. obenstehende E. 2.3.1), sei zu ändern. Zur Begründung führt es im Wesentlichen an, der durch einen verschwenderischen Lebensstil und deshalb selbstverschuldet herbeigeführte Armutsschaden könne nicht im Rahmen einer (Sozial-)Versicherungsleistung gedeckt werden. Würden dennoch Ergänzungsleistungen ausgerichtet, so wiesen diese nicht die wesensmässigen Charakteristika der Sozialversicherung, sondern der Sozialhilfe auf, wofür dem Bund aber keine Regelungskompetenz zukomme. Eine Vermögensverschwendung lasse die anschliessende Geltendmachung von Ergänzungsleistungen als rechtsmissbräuchlich erscheinen. Die Folgen eines entsprechenden Lebenswandels dürften nicht auf die Allgemeinheit überwälzt werden; bei der Anwendung des Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG gehe es nicht darum, einer bestimmten Lebensführung einen "moralischen Stempel" aufzudrücken, sondern die vorwerfbare Schadensherbeiführung von der Versicherungsdeckung auszunehmen. Dies entspreche auch der Auffassung des Gesetzgebers: Die von den Eidg. Räten am 22. März 2019 beschlossene (noch nicht in Kraft getretene) EL-Reform (BBl 2019 2603) sehe im neuen Art. 11a Abs. 3 ELG u.a. vor, dass ein Vermögensverzicht anzunehmen ist, wenn ab der Entstehung des Anspruchs auf eine Hinterlassenenrente der AHV beziehungsweise auf eine Rente der IV pro Jahr mehr als 10 Prozent des Vermögens verbraucht wurden, ohne dass ein wichtiger Grund dafür vorliegt. Dahinter könne nur der Gedanke stecken, dass die genannten systematischen und teleologischen Aspekte zu einer Korrektur der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG zwängen.
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Erwägung 2.6 | |
2.6.1 Eine Praxisänderung muss sich auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung als zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis des Gesetzeszwecks, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht. Einen ernsthaften sachlichen Grund für eine Praxisänderung kann unter anderem die genauere oder vollständigere Kenntnis des gesetzgeberischen Willens darstellen (BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303 mit Hinweisen).
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Das kantonale Gericht hat (verbindlich; nicht publ. E. 1) festgestellt, dass diese Auslagen - nebst "hohen Beträgen" für Luxusprodukte - die Differenz zwischen dem anerkannten und dem tatsächlichen Wohnungsmietzins (Fr. 14'400.- pro Jahr) und die Kosten einer Zusatzversicherung zur obligatorischen Krankenversicherung enthalten, nicht aber die gegenüber der Steuerbehörde für die Jahre 2014-2016 deklarierten (und bereits beim Existenzbedarf berücksichtigten) Krankheits- und Behinderungskosten von Fr. 21'018.- sowie (mangels Belegen) von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Ausgaben für die Spitex. Indessen lässt sich weder dem angefochtenen Gerichtsentscheid noch dem Einspracheentscheid vom 8. Dezember 2017 eine weitergehende Feststellung betreffend ausserordentliche Abnahme des Vermögens und die einer solchen gegenüberstehenden Gegenleistungen (wie Luxusprodukte und Dienstleistungen) resp. Rechtspflichten (wie Steuern) entnehmen (vgl. obenstehende E. 2.3.2). Die Sache ist zur diesbezüglichen Sachverhaltsfeststellung und neuem Entscheid über den Ergänzungsleistungsanspruch an die Verwaltung zurückzuweisen, wodurch der Beschwerdeführerin der Instanzenzug gewahrt wird. Insoweit ist die Beschwerde begründet.
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