BGE 146 V 331 | |||
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31. Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Regionale Sozialdienste A. und B. gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_135/2020 vom 30. September 2020 | |
Regeste |
Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG; Art. 16 Abs. 2 FZV; Zeitpunkt der Anrechnung von Guthaben eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Ausrichtung von Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente. |
Der in Art. 16 Abs. 2 FZV normierte Anspruch auf Auszahlung des Guthabens eines Freizügigkeitskontos entsteht mit Rechtskraft der Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung (E. 5). | |
Sachverhalt | |
A. B. wurde vom 1. November 2013 bis zum 30. April 2018 durch die Regionalen Sozialdienste A. unterstützt. Gestützt auf eine Verfügung der IV-Stelle Bern vom 8. Februar 2018 bezog er rückwirkend ab November 2014 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Im April 2018 erhielt er sein Freizügigkeitsguthaben aus beruflicher Vorsorge in Höhe von Fr. 111'393.- ausbezahlt. Im Juni 2018 meldete er sich bei der Ausgleichskasse des Kantons Bern (fortan: Ausgleichskasse) zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Die Verwaltung gewährte mit Verfügungen vom 7. November 2018 rückwirkend ab 1. November 2014 Ergänzungsleistungen in verschiedener Höhe, wobei sie bei den Einnahmen ab 1. November 2014 einen Verzehr des im April 2018 ausbezahlten Freizügigkeitsguthabens berücksichtigte. Auf Einsprache hin brachte sie von diesem die im Rahmen der Sonderveranlagung errechnete Steuer von Fr. 5'569.80 in Abzug (Einspracheentscheid vom 29. Juli 2019).
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B. Die hiergegen eingereichten Beschwerden der Regionalen Sozialdienste A. sowie des B. wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern nach Vereinigung der Verfahren mit Entscheid vom 14. Januar 2020 ab.
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C. Die Regionalen Sozialdienste A. und B. führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragen, es sei der vorinstanzliche Entscheid vom 14. Januar 2020 aufzuheben und das vom Versicherten per 10. April 2018 herausgelöste Freizügigkeitsguthaben in Höhe von Fr. 111'393.- abzüglich der Steuerbelastung von Fr. 5'569.80 und des Vermögensfreibetrags von Fr. 37'500.- bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen einnahmeseitig (erst) ab 1. März 2018, eventualiter ab 8. Februar 2018, als Vermögen zu berücksichtigen. Zur Neuberechnung sei die Sache an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
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Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Regionalen Sozialdienste A. nehmen mit Eingabe vom 11. Mai 2020 abschliessend Stellung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägungen: | |
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3. Strittig ist, ob das Guthaben eines Freizügigkeitskontos bei rückwirkender Zusprache einer ganzen Invalidenrente und Ergänzungsleistungen in der Berechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs ebenfalls rückwirkend als (verzehrbares) Vermögen zu berücksichtigen ist. Es handelt sich um eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 95 lit. a i.V.m. Art. 106 Abs. 1 BGG).
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3.3.1 In BGE 140 V 201 E. 2.2 S. 203 f. hielt das Bundesgericht fest: "Demzufolge ist der EL-berechtigten Person das Freizügigkeitskapital, welches sie gestützt auf Art. 16 Abs. 2 FZV beziehen könnte, in dem Zeitpunkt, in dem sie Anspruch auf eine ganze Invalidenrente begründet, als Vermögen anzurechnen (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts P 56/05 vom 29. Mai 2006 E. 3, in: SVR 2007 EL Nr. 3 S. 5 und Urteil 9C_612/2012 vom 28. November 2012 E. 3.3; CARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 164)." Im zu beurteilenden Fall wurde der Versicherten am 11. April 2011 rückwirkend ab 1. Juli 2010 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zugesprochen, mit Verfügung vom 10. Mai 2012 monatliche Ergänzungsleistungen und Beihilfen ebenfalls für die Zeit ab 1. Juli 2010. Das vorhandene Freizügigkeitsguthaben liess sich die Versicherte erst am 10. Juli 2012 auszahlen; es wurde indes bei der EL-Berechnung bereits mit Wirkung ab 2011 berücksichtigt. Das Bundesgericht erwog, es reiche der mögliche Bezug des Freizügigkeitskontos für dessen Berücksichtigung in der EL-Berechnung und schützte die Anrechnung ab dem Jahr 2011. Wie die Beschwerdeführer indes richtig aufzeigen, war Streitgegenstand einzig die Höhe der Ergänzungsleistungen ab Mai 2011. Das Bundesgericht hatte sich mit der Frage einer Anrechnung von Freizügigkeitsguthaben rückwirkend auf den Zeitpunkt des Anspruchsbeginns für Invalidenrente und Ergänzungsleistungen angesichts des Verbots, über die Parteibegehren hinauszugehen (Art. 107 Abs. 1 BGG), gar nicht zu befassen.
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3.3.3 Nichts anderes ergibt sich aus dem Urteil 9C_390/2012 vom 20. Juli 2012, wonach Freizügigkeitskapital anrechenbares Vermögen bildet, sofern die Auszahlung verlangt werden könnte. Die dort zitierten Urteile 9C_41/2011 vom 16. August 2011 E. 6.2 und 9C_ 112/2011 vom 5. August 2011 E. 2 äussern sich zur hier strittigen Frage nicht. Das erste betraf den Erlass einer Rückforderung von Ergänzungsleistungen. Die Versicherte hatte es unterlassen, nach Zusprache einer ganzen Invalidenrente (auch) an ihren Ehemann der EL-Durchführungsstelle dessen Freizügigkeitskonto anzugeben. Die Rückforderung betraf nicht den Zeitraum ab Berentung des Ehemannes, sondern ab Kenntnis der diesbezüglichen Verfügung. Das zweite Urteil betraf die Verwirkung eines Rückforderungsanspruchs und damit zusammenhängend die Frage, inwieweit aus dem Anmeldeformular zum Bezug von Ergänzungsleistungen hervorging, dass auch Freizügigkeitsguthaben aufzuführen gewesen wären. Betroffen war auch hier ein Rückforderungsanspruch für die Zeit nach Erlass der Rentenverfügung der Invalidenversicherung. Schliesslich beschlägt der ebenfalls zitierte BGE 135 I 288 E. 2.4 S. 289 f. die Fälligkeit der Freizügigkeitsleistung bei Wegzug ins Ausland.
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4. Die Anrechnung des Freizügigkeitskapitals als verzehrbarer Vermögenswert im Sinne des Art. 11 Abs. 1 lit. c ELG setzt nach der referierten Rechtsprechung nicht einen tatsächlich erfolgten Bezug, sondern den bloss möglichen im Sinne eines rechtlich zulässigen Bezuges voraus. Möglich ist der Bezug des Guthabens, wenn der Versicherte eine volle (recte: ganze) Rente der Invalidenversicherung bezieht (Art. 16 Abs. 2 FZV). Die Beantwortung der Streitfrage hängt mithin davon ab, ab welchem Zeitpunkt im Sinne von Art. 16 Abs. 2 FZV von einem Bezug der Invalidenrente auszugehen ist. Es ist auszulegen, ob damit der Zeitpunkt des - oft rückwirkenden - Anspruchsbeginns gemeint ist oder der Zeitpunkt, in dem der Rentenanspruch hoheitlich feststeht und damit die Renten(nach)zahlung ausgelöst wird.
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Art. 16 Auszahlung der Altersleistungen
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2 Beziehen die Versicherten eine volle Invalidenrente der Eidgenössischen Invalidenversicherung und wird das Invaliditätsrisiko nach Artikel 10 Absätze 2 und 3 zweiter Satz nicht zusätzlich versichert, so wird die Altersleistung auf Begehren der Versicherten vorzeitig ausbezahlt.
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Art. 16 Paiement des prestations de vieillesse
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2 Si l'assuré perçoit une rente entière d'invalidité de l'assurance fédérale et si le risque d'invalidité n'est pas assuré à titre complémentaire au sens de l'art. 10, al. 2 et 3, deuxième phrase, la prestation de vieillesse lui est versée plus tôt, sur sa demande.
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Art. 16 Pagamento delle prestazioni di vecchiaia
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2 Se gli assicurati percepiscono una rendita completa d'invalidità dell'assicurazione federale invalidità e il rischio d'invalidità non è coperto a titolo complementare secondo l'articolo 10 capoversi 2 e 3 secondo periodo, la prestazione di vecchiaia è versata anticipatamente su domanda dell'assicurato.
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5.2 Bei Renten der Invalidenversicherung sind auseinanderzuhalten die Anspruchsentstehung, der Anspruchsbeginn und die Rentenzahlung (Urteil 9C_348/2018 vom 23. Januar 2019 E. 3.2; MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 29 IVG; zur Abgrenzung zwischen Anspruchsentstehung und Anspruchsbeginn vgl. auch Urteile 9C_953/2011 vom 25. Oktober 2012 E. 6.2, in: SVR 2013 IV Nr. 12 S. 29; 9C_ 432/2012 und 9C_441/2012 vom 31. August 2012 E. 3.2 f.). Der Rentenanspruch entsteht grundsätzlich - mit Gestaltungsverfügung der IV-Stelle, die einerseits die Erfüllung der gesetzlichen Anspruchserfordernisse, die Anspruchsentstehung und den Anspruchsbeginn feststellt, anderseits gestützt darauf eine Rente hoheitlich zuspricht (vgl. Urteil 9C_341/2017 vom 27. September 2017 E. 5.2.2) - rückwirkend frühestens mit Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung (Art. 29 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 29 Abs. 1 ATSG) auf den Zeitpunkt, in dem mit Erfüllung des leistungsbegründenden Sachverhalts (Art. 28 Abs. 1 IVG) der Versicherungsfall eingetreten ist. Anspruchsbeginn ist der Beginn des Monats, in dem der Rentenanspruch entsteht (Art. 29 Abs. 3 IVG). Erst die Rentenverfügung löst die effektive Renten(nach)zahlung aus.
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Die drei Sprachfassungen von Art. 16 Abs. 2 FZV knüpfen die Entstehung des Anspruchs auf Auszahlung des Freizügigkeitsguthabens übereinstimmend an den Bezug bzw. den Erhalt einer ganzen Rente. Ob damit der Beginn des Rentenanspruchs oder aber der Zeitpunkt der Leistungsverfügung der IV-Stelle als Auslöser der Rentenzahlung gemeint ist, ergibt sich aus diesem Wortlaut nicht unmittelbar (vgl. auch BGE 139 V 442 E. 4.2.1 S. 447). Es ist demnach nach der wahren Tragweite der Norm zu suchen (oben E. 5 Ingress).
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5.4 Nicht mit der Auszahlung der Freizügigkeitsleistung vergleichbar ist - entgegen der Beschwerdegegnerin, die zu Recht darauf hinweist, dass eine rückwirkende Berücksichtigung zumindest das Bestehen des Anspruchs im fraglichen Zeitraum voraussetzt - die Nachzahlung von Dauerleistungen (etwa: Renten der Invalidenversicherung oder einer Pensionskasse). Dabei handelt es sich um Leistungen, die in Erfüllung eines rückwirkend entstandenen Anspruchs (oben E. 5.2) nachträglich ausgerichtet werden, und die für die rückwirkende Festsetzung des Ergänzungsleistungsanspruchs diesen Zeitraum betreffend grundsätzlich zu berücksichtigen sind, ansonsten eine Überentschädigung resultieren würde (vgl. BGE 122 V 134 E. 2d S. 138 f.; Urteil 8C_205/2008 vom 1. Oktober 2008 E. 4.2). Demgegenüber kann der hier strittige Anspruch auf Auszahlung des Freizügigkeitsguthabens nach dem soeben (E. 5.3) Gesagten erst mit rechtskräftiger Zusprache einer ganzen Rente der Invalidenversicherung entstehen; von einer Verfügbarkeit des Vermögenswerts vor diesem Zeitpunkt kann keine Rede sein. Damit unterscheidet sich der zu beurteilende Fall auch von der Berücksichtigung des Anteils an einer unverteilten Erbschaft, die - bei hinreichender Klarheit über den Anteil - grundsätzlich rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Erwerbs der Erbschaft im Zeitpunkt des Todes der Erblasserin angerechnet wird (Urteil 9C_447/2016 vom 1. März 2017 E. 4.2.2).
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6. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie eine Anrechnung des Freizügigkeitsguthabens bereits ab 1. November 2014 geschützt hat. Die Beschwerde ist begründet. Der vorinstanzliche Entscheid vom 14. Januar 2020 und der Einspracheentscheid vom 29. Juli 2019 sind aufzuheben. Es wird festgestellt, dass das per 10. April 2018 herausgelöste Freizügigkeitsguthaben in Höhe von Fr. 111'393.- abzüglich der Steuerbelastung von Fr. 5'569.80 und des Vermögensfreibetrags von Fr. 37'500.- bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen einnahmeseitig ab 1. März 2018 als verzehrbares Vermögen zu berücksichtigen ist. Zur Berechnung des Leistungsanspruchs ist die Sache an die Ausgleichskasse zurückzuweisen.
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7. Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Die Regionalen Sozialdienste A. haben keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). Der durch diese vertretene B. hat ebenfalls keinen Anspruch auf Parteientschädigung, schliesst er sich doch vollumfänglich dem Rechtsstandpunkt der in eigenem Namen prozessierenden Regionalen Sozialdienste A. an. Für die Wahrung seiner Interessen sind damit weder ihm selbst noch der Vertretung entschädigungspflichtige Arbeitsaufwände angefallen. Aus demselben Grund erübrigt sich auch eine Rückweisung an die Vorinstanz zur Neuverlegung der Parteientschädigung im kantonalen Gerichtsverfahren.
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