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3. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_706/2019 vom 28. August 2020 | |
Regeste |
Art. 10 Abs. 3 UVG (in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung); Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des UVG vom 25. September 2015; Art. 18 UVV (in der ab 1. Januar 2017 geltenden Fassung). | |
Sachverhalt | |
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A.a Die 1981 geborene A. arbeitete ab September 2010 bei der Firma B. im Zustelldienst und war dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen die Folgen ![]() ![]() | 2 |
A.b Mit Eingabe vom 9. Februar 2017 ersuchte A. die Suva um eine wiedererwägungs- oder revisionsweise Anpassung der Pflegeentschädigung, da der effektive Pflegeaufwand höher sei als der bei der Leistungsfestsetzung ermittelte Aufwand. Zudem sei die Pflegeentschädigung entsprechend der per 1. Januar 2017 geänderten Rechtslage anzupassen. Die Suva nahm diese Gesuche als Wiedererwägungsbegehren und als Begehren um prozessuale Revision der Verfügung vom 29. Juli 2015 entgegen. Mit Verfügung vom 8. März 2017 trat die Suva auf das Wiedererwägungsgesuch der Beschwerdeführerin vom 9. Februar 2017 nicht ein und verneinte zudem die Voraussetzungen einer prozessualen Revision im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie ab, soweit sie darauf eintrat. Zwischenzeitlich teilte sie A. am 12. Mai 2017 mit, die Pflegeentschädigung werde per 1. April 2017 an erhöhte Spitex-Tarife angepasst. Die Entschädigung belaufe sich neu auf Fr. 5'596.- pro Monat.
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B. Die gegen den Einspracheentscheid vom 4. Januar 2018 geführte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 13. September 2019 ab, soweit es darauf eintrat.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A. beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. ![]() | 5 |
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Auf Aufforderung des Gerichts hin erläuterte die Suva ihre Praxis zur Anwendung der seit 1. Januar 2017 geltenden Verordnungsbestimmungen in intertemporalrechtlicher Hinsicht.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Erwägung 4 | |
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4.2 Die formelle Rechtskraft einer Verfügung über Dauerrechtsverhältnisse gilt nicht voraussetzungslos (vgl. BGE 140 V 514 E. 3.2 S. 516; BGE 135 V 201 E. 5.1 S. 204 f. mit Hinweisen; BGE 127 V 10 E. 4a S. 13 mit Hinweisen). Diese beschränkt sich vielmehr auf den Sachverhalt und die Rechtslage zur Zeit des Verfügungserlasses. Der Sachverhalt kann aber schon zur Zeit des Erlasses der Verfügung unrichtig festgestellt worden sein oder er kann sich nachträglich ändern. Ebenso kann die Verfügung auf einer anfänglich unrichtigen ![]() ![]() | 12 |
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Erwägung 5 | |
5.1 Mit Verfügung vom 8. März 2017 trat die Suva auf das Wiedererwägungsgesuch der Beschwerdeführerin vom 9. Februar 2017 nicht ein. Dabei wies sie zu Recht darauf hin, dass der Nichteintretensentscheid nicht mit einem ordentlichen Rechtsmittel angefochten werden könne. Auf die Beschwerde der Versicherten trat die Vorinstanz in Bezug auf das Gesuch um Wiedererwägung folgerichtig nicht ![]() ![]() | 15 |
Erwägung 5.2 | |
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Erwägung 6 | |
6.1 Hinsichtlich der per 1. Januar 2017 revidierten Fassung von Art. 18 Abs. 2 UVV erwog die Vorinstanz, die Anpassung einer Leistung dränge sich vor allem auf, wenn die Rechtsänderung die ![]() ![]() | 19 |
6.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck der Übergangsbestimmungen lasse sich ein Anwendungsverbot resp. ein Verbesserungsverbot ableiten. Abs. 1 der Übergangsbestimmung beinhalte lediglich eine Besitzstandsgarantie, wonach in altrechtlichen Fällen die bisherigen Leistungen weiterhin zu gewähren seien. Art. 18 UVV in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung habe die Leistungspflicht des Unfallversicherers für nichtmedizinische Hilfe aber ausgedehnt. Spätestens nach dem 1. Januar 2017 seien deshalb sämtliche unfallbedingten Pflegeleistungen sowie andere Hilfeleistungen vom obligatorischen Unfallversicherer zu vergüten, sofern sie nicht durch die Hilflosenentschädigung abgedeckt seien. Es wäre weder mit dem verfassungsmässigen Gleichheitsgrundsatz noch mit den staatsvertraglichen Verpflichtungen der Schweiz gemäss Art. 34 der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit vom 16. April 1964 (SR 0.831.104; für die Schweiz in Kraft seit 17. September 1978) resp. dem Übereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 28. Juni 1952 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit (SR 0.831.102; für die Schweiz in Kraft seit 18. Oktober 1978) vereinbar, wenn nicht alle gemäss UVG versicherten Personen dieselben Versicherungsleistungen erhalten würden. Der Bundesrat habe in der Botschaft zur UVG-Revision denn auch explizit festgehalten, dass die bisherige Verordnungsbestimmung staatsvertragswidrig sei, weil entgegen den staatsvertraglichen Vorgaben nicht sämtliche unfallbedingten oder durch eine Berufskrankheit notwendig werdenden Pflegeleistungen abgedeckt seien. Entsprechend wäre die Suva bei einer verfassungs- und staatsvertragskonformen Auslegung der ![]() ![]() | 20 |
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Erwägung 7 | |
7.1 In intertemporalrechtlicher Hinsicht gilt für die Beurteilung der Frage, welches Recht bei einer Änderung der Rechtsgrundlagen Anwendung findet, der Grundsatz, dass diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des rechtlich zu ordnenden oder zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 140 V 41 E. 6.3.1 S. 44 f. mit Hinweisen; BGE 125 V 42 E. 2b S. 44; BGE 123 V 70 E. 2 S. 71; BGE 121 V 97 E. 1a S. 100; vgl. auch MEYER/ARNOLD, ![]() ![]() | 22 |
7.2 Sodann sind nach der Rechtsprechung zum Sozialversicherungsrecht ursprünglich fehlerfreie Verfügungen über Dauerleistungen unter Vorbehalt anders lautender Übergangsbestimmungen sowie allfälliger wohlerworbener Rechte grundsätzlich an Änderungen der Rechtslage anzupassen (vgl. BGE 135 V 201 E. 6.1.1 S. 205; BGE 135 V 215 E. 5.1.1 S. 219; BGE 135 V 319 E. 3.2 S. 323; BGE 123 V 133 E. 2b S. 135; ![]() ![]() | 23 |
Erwägung 8 | |
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"Der Bundesrat kann heute festlegen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang der Versicherte Anspruch auf Hauspflege hat. Diese Regelung steht indessen im Widerspruch zu den internationalen Abkommen, die die Schweiz ratifiziert hat. Gemäss der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit (EOSS) und dem Übereinkommen Nr. 102 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit umfasst medizinische Betreuung die ![]() ![]() | 27 |
Bei den Erläuterungen zu Art. 10 Abs. 3 E-UVG betonte der Bundesrat erneut, dass er aufgrund von internationalen Verpflichtungen die Pflege zu Hause nicht einschränken dürfe, falls die Voraussetzungen für diese gegeben seien. Aus diesem Grund werde der Passus "... und in welchem Umfang" gestrichen. Weiter werde der veraltete Begriff "Hauspflege" durch "Hilfe und Pflege zu Hause" ersetzt (BBl 2014 7935 Ziff. 2.4).
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Der Bundesrat kann die Leistungspflicht der Versicherung näher umschreiben und die Kostenvergütung für Behandlung im Ausland begrenzen. Er kann festlegen, unter welchen Voraussetzungen der Versicherte Anspruch auf Hilfe und Pflege zu Hause hat.
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1 Die versicherte Person hat Anspruch auf ärztlich angeordnete medizinische Pflege zu Hause, sofern diese durch eine nach den Artikeln 49 und 51 der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung zugelassene Person oder Organisation durchgeführt wird. ![]() | 33 |
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a. ärztlich angeordnete medizinische Pflege zu Hause durch eine nicht zugelassene Person, sofern diese Pflege fachgerecht ausgeführt wird;
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b. nichtmedizinische Hilfe zu Hause, soweit diese nicht durch die Hilflosenentschädigung nach Artikel 26 abgegolten ist.
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9.1 Art. 10 Abs. 3 UVG räumt dem Bundesrat eine umfassende Rechtsverordnungskompetenz ein. Diese schliesst auch die Kompetenz zum Erlass von allfälligem Übergangsrecht mit ein (vgl. Urteil H 44/80 vom 30. April 1981 E. 3a). Die Verordnung enthält in Bezug auf die Neuregelung der Hilfe und Pflege zu Hause keine spezifischen Übergangsbestimmungen, die eine Anpassung der Verfügung vom 29. Juli 2015 an die geänderte Rechtslage ausschliessen würden. Auch aus den Materialien ergeben sich keine Hinweise, dass eine spezifische übergangsrechtliche Ordnung in Bezug auf die ![]() ![]() | 39 |
9.2 Zwar erfuhr die Hilfe und Pflege zu Hause auch auf Gesetzesstufe eine Änderung, indem der Passus "und in welchem Umfang" aus Gründen der Vereinbarkeit mit Staatsvertragsrecht gestrichen wurde (vgl. E. 8.3 hiervor). Die hier streitige Pflegeentschädigung betrifft aber eine Rechtsänderung auf Stufe Verordnung: Die bisherige Freiwilligkeit von Beiträgen an die medizinische Pflege zu Hause durch eine nicht zugelassene Person wurde im Interesse der Rechtsgleichheit aufgegeben und stattdessen ein Leistungsanspruch verankert, sofern die nicht zugelassene Person die medizinische Pflege zu Hause fachgerecht ausführt (Art. 18 Abs. 2 lit. a UVV). Ebenso wurde ein Leistungsanspruch auf Beiträge für die nichtmedizinische Hilfe zu Hause geschaffen, soweit diese nicht bereits durch eine Hilflosenentschädigung abgegolten wird (Art. 18 Abs. 2 lit. b UVV). Zur Aufhebung der Freiwilligkeit der Beiträge an eine medizinische Hauspflege durch eine nicht zugelassene Person kam es im Übrigen erst, nachdem die Suva, die Schweizerische Paraplegiker-Vereinigung und der Verein Inclusion Handicap dies im Rahmen des Anhörungsverfahrens angeregt hatten (vgl. Änderung der Verordnung über die Unfallversicherung [UVV], Zusammenfassung der Anhörungseingaben [Ergebnisbericht], August 2016, S. 4 und 8). Die Einführung des Leistungsanspruchs hat ihren Ursprung demnach nicht in der Neufassung von Art. 10 Abs. 3 UVG, und der Gesetzgeber hatte (resp. konnte) bei Erlass der Übergangsbestimmungen im UVG die neue Fassung von Art. 18 UVV nicht im Auge (haben). Die Verordnungsnovelle ist vielmehr Ergebnis der dem Verordnungsgeber vom Gesetzgeber eingeräumten umfassenden Regelungskompetenz. Dabei hätte der Bundesrat gegenüber der grundsätzlich sofortigen Anwendung des neuen Rechts (vgl. E. 7.2 ![]() ![]() | 40 |
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"Absatz 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des Gesetzes vom 25. September 2015 hält den Grundsatz fest, dass die Leistungen gemäss dem im Zeitpunkt des Unfalles geltenden Recht gewährt werden, mithin grundsätzlich keiner Kürzung unterliegen. Absatz 2 beinhaltet jedoch eine Abweichung von dieser Regel. Um die Überentschädigungen in absehbarer Zeit vermindern zu können, sollen die mit der Gesetzesrevision eingeführten Kürzungsregeln auch auf Renten anwendbar sein, die vor dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuerungen entstanden sind. Allerdings soll die Anwendbarkeit der Kürzungsregeln auf bereits laufende Renten nur mit einem zeitlichen Aufschub und in abgestufter Form eingeführt werden."
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Aus den Materialien ergibt sich somit nicht, dass die neuen Verordnungsbestimmungen betreffend die Hilfe und Pflege zu Hause einzig auf Unfälle nach der Rechtsänderung Anwendung finden sollen. Hingegen wird aus den Ausführungen des BAG zur Neufassung des Art. 18 Abs. 2 UVV ersichtlich, dass mit der Verordnungsänderung dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtsgleiche Behandlung (vgl. Art. 8 Abs. 1 BV) Nachachtung verschafft werden sollte (vgl. E. 8.5 hiervor). Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber die Anpassung altrechtlicher Fälle an die Verordnungsänderung ausschliessen wollte. Die gegenteilige Auffassung würde denn auch zu unbilligen Resultaten führen, indem es zu einer auf Jahre oder Jahrzehnte anhaltenden Ungleichbehandlung zwischen alt- und neurechtlichen Fällen käme.
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9.5 Da nach dem Gesagten Verfügungen über Dauerleistungen grundsätzlich an Änderungen der Rechtslage anzupassen sind (vgl. E. 7.2 hiervor), die Übergangsbestimmungen in der Verordnung der Anwendung der neuen Bestimmung von Art. 18 UVV auf Unfälle vor dem 1. Januar 2017 nicht entgegenstehen (vgl. Art. 147b UVV; vgl. E. 9.2 hiervor) und durch die Rechtsänderung eine unbefriedigende Rechtslage beseitigt werden sollte (vgl. für einen konkreten Anwendungsfall auch BGE 99 V 200 E. 3a S. 203 f.), rechtfertigt es sich, Art. 18 UVV in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung ex nunc et pro futuro auch auf Unfälle anzuwenden, welche sich vor der Rechtsänderung ereignet haben. Mithin sind auch gestützt auf einen rechtskräftigen Entscheid zugesprochene Leistungen im Lichte der Verordnungsnovelle zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Eine solche Anpassung ist auch unter dem Gesichtspunkt der (unechten) Rückwirkung zulässig (vgl. E. 7.1 hiervor). ![]() | 46 |
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