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24. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_378/2020 vom 21. Januar 2021 | |
Regeste |
Art. 15 UVG; Art. 24 Abs. 3 UVV; Berentung eines Lehrlings und Rentenrevision. | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a Der über sein Lehrverhältnis als Sanitärzeichner bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen Unfallfolgen versicherte A. (geboren 1967) erlitt bei einem Mofa-Unfall am 27. Mai 1985 verschiedene Verletzungen (Polytrauma mit u.a. multiplen Schädel- und Gesichtsfrakturen). Die Anstalt erbrachte ihm dafür die gesetzlichen Leistungen. Mit Verfügung vom 9. Januar 1987 sprach sie ihm nebst einer Integritätsentschädigung (Einbusse von 20 %) ab 1. Mai 1986 eine Invalidenrente zu, dies auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 25 % sowie eines versicherten Verdienstes von Fr. 31'526.-. ![]() | 2 |
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A.c In der Folge war A. im Rahmen mehrerer kürzerer Arbeitsverhältnisse erwerbstätig. Ab 2. November 2005 wurde er vom Amt für Militär und Zivilschutz des Kantons St. Gallen angestellt; diese im Zeughaus verrichtete Tätigkeit war zunächst befristet und dauerte schliesslich bis 31. Dezember 2009. Auf sein Ersuchen hin richtete ihm die Anstalt während dieser Zeit keine Rentenzahlungen aus. Nach Beendigung dieses Arbeitsverhältnisses überprüfte die Suva den Rentenanspruch. Mit Verfügung vom 22. Juni 2011 eröffnete sie dem Versicherten, ihm die Rente auf der Grundlage eines unveränderten Invaliditätsgrades von 25 % und eines versicherten Verdienstes von Fr. 31'526.- ab Januar 2010 wieder auszurichten. Die dagegen vorsorglich erhobene Einsprache liess A. wieder zurückziehen.
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A.d Nach erneuter Anmeldung zum Leistungsbezug und entsprechenden Abklärungen sprach ihm die IV-Stelle St. Gallen ab 1. September 2015 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente (monatlich Fr. 1'842.-) mitsamt einer Kinderrente (monatlich Fr. 737.-) zu. In der Folge leitete die Suva ein Revisionsverfahren ein. Im Zuge der kreisärztlichen Untersuchung erhob Dr. med. B., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, eine vollständige Arbeitsunfähigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgrund eines unfallkausalen organischen Psychosyndroms nach Hirnverletzung (ICD-10: F07.2) sowie eines sekundären Alkoholabhängigkeitssyndroms (ICD-10: F10.2). Selbst in einem geschützten Rahmen - so der Kreisarzt - wäre der Versicherte stark überfordert. Mit Verfügung vom 24. Januar 2018 sprach die Suva A. nebst einer zusätzlichen Integritätsentschädigung (Einbusse von 50 %) ab 1. September 2015 eine Invalidenrente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100 % zu, die sie bei einem versicherten Verdienst von wiederum Fr. 31'526.- als Komplementärrente auf monatlich Fr. 961.- festsetzte. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Suva mit Einspracheentscheid vom 4. Juli 2018 ab, soweit sie darauf eintrat. ![]() | 5 |
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Suva die vollumfängliche Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids. Eventuell sei dieser insoweit aufzuheben, als dem Versicherten eine Komplementärrente von mehr als Fr. 1'441.- oder (subeventuell) von mehr als Fr. 3'200.- zugesprochen wurde.
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A. schliesst auf Abweisung der Beschwerde, derweil das Bundesamt für Gesundheit auf eine Stellungnahme verzichtet.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
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Erwägung 3 | |
3.1 Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen über das anwendbare Recht ( BGE 141 V 657 E. 3.5.1 S. 661; Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des UVG vom 25. September 2015 [AS 2016 4375, 4387]), wonach auf das Unfallereignis vom 27. Mai 1985 die bis 31. Dezember 2016 gültig gewesenen Bestimmungen des UVG zur Anwendung gelangen (vgl. BGE 146 V 51 E. 2.3 S. 54), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Massgeblichkeit des per 1. Januar 1997 revidierten Verordnungsrechts zur Komplementärrente (Art. 31 ff. UVV [SR 832.202]; vgl. Urteil des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts [heute: sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] U 283/00 vom 15. März 2002 E. 2). ![]() ![]() | 11 |
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Erwägung 3.3 | |
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Taggelder und Renten werden gemäss Art. 15 Abs. 1 UVG nach dem versicherten Verdienst bemessen. Als versicherter Verdienst gilt für die Bemessung der Renten der innerhalb eines Jahres vor dem Unfall bezogene Lohn (Art. 15 Abs. 2 UVG). Das damit gesetzlich verankerte Konzept des Vorunfallverdienstes wird auch als abstrakte Berechnungsmethode bezeichnet. Es hängt eng mit dem Äquivalenzprinzip zusammen, wonach für die Bemessung des versicherten Verdienstes als leistungsbestimmender Grösse von denselben Faktoren auszugehen ist, die Basis für die Prämienberechnung bilden (vgl. zum Ganzen: BGE 139 V 28 E. 4.3.1 S. 34 und BGE 127 V 456 E. 4; je mit zahlreichen Hinweisen; vgl. auch BGE 118 V 293 E. 2e; Botschaft vom 18. August 1976 zum UVG, BBl 1976 III 167 und 189; ALFRED MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 1985, S. 321, 326, vgl. auch S. 333).
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Abs. 2 des Art. 24 UVV lautet dabei wörtlich wie folgt: "Beginnt die Rente( "Lorsque le droit à la rente naît [...]"; "Se il diritto alla rendita nasce [...]") mehr als fünf Jahre nach dem Unfall oder dem Ausbruch der Berufskrankheit, so ist der Lohn massgebend, den der Versicherte ohne den Unfall oder die Berufskrankheit im Jahre vor dem Rentenbeginn (" [...] qui précède l'ouverture du droit à la rente [...]"; "[...] precedente l'inizio del diritto alla rendita [...]") bezogen hätte, sofern er höher ist als der letzte vor dem Unfall oder dem Ausbruch der Berufskrankheit erzielte Lohn."
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Für die erstmalige Festlegung des versicherten Verdienstes war hier jedoch Art. 24 Abs. 3 UVV massgeblich: "Bezog der Versicherte wegen beruflicher Ausbildung am Tage des Unfalles nicht den Lohn eines Versicherten mit voller Leistungsfähigkeit derselben Berufsart, so wird der versicherte Verdienst von dem Zeitpunkt an, da er die Ausbildung abgeschlossen hätte, nach dem Lohn festgesetzt, den er im Jahr vor dem Unfall als voll Leistungsfähiger erzielt hätte."
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Dem Verständnis dient ein Hinweis auf den (im vorliegenden Fall nicht anwendbaren) Abs. 4 von Art. 24 UVV, der einen weiteren "Sonderfall" wie folgt regelt: "Erleidet der Bezüger einer Invalidenrente einen weiteren versicherten Unfall, der zu einer höheren Invalidität führt, so ist für die neue Rente aus beiden Unfällen der Lohn massgebend, den der Versicherte im Jahre vor dem letzten Unfall bezogen hätte, wenn früher kein versicherter Unfall eingetreten wäre. Ist dieser Lohn kleiner als der vor dem ersten versicherten Unfall bezogene Lohn, so ist der höhere Lohn massgebend."
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Erwägung 3.4 | |
3.4.1 Abs. 2 von Art. 24 UVV hat in erster Linie den Sonderfall vor Augen, wo sich der Rentenbeginn zufolge langdauernder Heilbehandlung und entsprechendem Taggeldbezug beträchtlich verzögert (vgl. Art. 15 Abs. 3 lit. a UVG; BGE 127 V 165 E. 3a S. 172 oben; ![]() ![]() | 20 |
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3.4.3 In BGE 118 V 293 E. 2e und f S. 298 bezeichnete das damalige Eidg. Versicherungsgericht die grundsätzliche Massgeblichkeit ![]() ![]() | 22 |
3.4.4 Mit der Sonderregel in Art. 24 Abs. 2 UVV soll vermieden werden, dass ein Versicherter mit langdauernder Heilbehandlung und einem um mehr als fünf Jahre nach dem Unfall entstehenden Rentenanspruch auf dem vor dem Unfall erzielten Lohn haften bleibt. Andernfalls resultierten vor allem in Zeiten überdurchschnittlich starken Lohnanstiegs stossende Ergebnisse. Angestrebt wird also die Anpassung an die normale Lohnentwicklung im angestammten Tätigkeitsbereich ( BGE 140 V 41 E. 6.4.2.2 S. 47; BGE 127 V 165 E. 3b S. 171 f.; BGE 123 V 45 E. 3c S. 51; BGE 118 V 298 E. 3b S. 303). Daraus folgt, dass im Rahmen von Art. 24 Abs. 2 UVV nicht jeder Bezug zur Grundregel von Art. 15 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 4 UVV (Massgeblichkeit der Verhältnisse vor dem Unfall) entfällt. Bei der Festsetzung des versicherten Verdienstes ist vielmehr beim angestammten Arbeitsverhältnis anzuknüpfen und haben Arbeitsverhältnisse, die erst nach dem Unfallereignis angetreten werden, unbeachtlich zu bleiben ( BGE 127 V 165 E. 3b S. 171 f.). Auch Art. 24 Abs. 2 UVV ermöglicht demnach nicht, eine vom Versicherten angestrebte berufliche Weiterentwicklung und damit eine ohne Unfall mutmasslich realisierte Lohnerhöhung mit zu berücksichtigen ( BGE 127 V 165 E. 3b S. 172 f.; RKUV 1999 Nr. U 327 S. 111, U 204/97 E. 3c). Nicht anders verhält es sich nach bisheriger Rechtsprechung, wenn zwischen dem Eintritt des versicherten Ereignisses und der Rentenfestsetzung eine berufliche Veränderung oder Karriereschritte zu höherem Einkommen führen oder ein neues Arbeitsverhältnis mit anderem Lohnniveau angetreten wird. Auch dabei handelt es sich um Änderungen in den erwerblichen Verhältnissen, die bei der Bemessung des für die Rentenberechnung massgebenden Verdienstes gemäss Art. 24 Abs. 2 UVV ausser Acht zu bleiben haben (RKUV 1999 Nr. U 340 S. 405, U 303/97 E. 3c). Genauso hatte das Eidg. Versicherungsgericht zuvor bei Saison-Arbeitnehmern entschieden, indem es die noch vor der ![]() ![]() | 23 |
Die Grundsätze dieser Rechtsprechung wurden mit E. 3a des Urteils U 427/99 vom 10. Dezember 2001 (nicht publ. in: BGE 127 V 456 , aber in: RKUV 2002 Nr. U 451 S. 61 sowie SVR 2002 UV Nr. 17 S. 57; Urteil U 286/01 vom 8. März 2002 E. 2b) explizit bekräftigt und auch in der Folgezeit mehrfach bestätigt (vgl. etwa SVR 2020 UV Nr. 37 S. 148, 8C_766/2018 E. 5.2 bis 5.5 sowie SVR 2012 UV Nr. 3 S. 9, 8C_237/2011 E. 3.3 und Urteil 8C_565/2014 vom 23. September 2014 E. 4.2; je mit Hinweisen).
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Erwägung 4 | |
4.1 Die Beschwerdeführerin hatte bei der Berechnung der Komplementärrente von einer Anpassung des versicherten Verdienstes abgesehen, weil im Rahmen eines Revisionsverfahrens rechtsprechungsgemäss (vgl. E. 3.4.2 oben) nicht darauf zurückgekommen werden dürfe und es demnach mit der Festsetzung in der rechtskräftigen Verfügung vom 22. Juni 2011 sein Bewenden habe. Dazu erwog die Vorinstanz, diese Rechtsprechung sei insofern überholt, als das Bundesgericht in jüngerer Zeit davon ausgehe, dass bei gegebenem Revisionsgrund bezüglich eines Sachverhaltselements der Rentenanspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht mit Wirkung für die Zukunft ("ex nunc et pro futuro") umfassend ("allseitig"), unter Berücksichtigung sowohl der medizinisch-gesundheitlichen als auch der beruflich-erwerblichen Situation, ohne Bindung an frühere Beurteilungen zu prüfen sei (vgl. BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11 mit Hinweisen). Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb diese ![]() ![]() | 25 |
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Erwägung 6 | |
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6.2.1 Derlei bleibt zunächst deswegen verbaut, weil der Rentenanspruch des Beschwerdegegners mit der hier streitbetroffenen Revisionsverfügung (bzw. dem an deren Stelle tretenden) Einspracheentscheid nicht neu entstand, sondern "lediglich" (von 25 % auf 100 %) erhöht wurde. Auf diesen Sachverhalt findet Art. 24 Abs. 2 UVV, wie bereits gezeigt (vgl. E. 3.4.2), nach gefestigter Rechtsprechung keine Anwendung. Zu deren Änderung besteht selbst mit Blick auf die im Revisionsverfahren erfolgende allseitige Prüfung (vgl. BGE 141 V 9 ) kein Anlass. Denn auch hier gilt es den mit ![]() ![]() | 30 |
6.2.2 Solches hat denn auch die Vorinstanz zu Recht gar nicht erst erwogen. Soweit sie stattdessen ihr Augenmerk auf die (nach Rückzug der Einsprache rechtskräftig gewordene) Verfügung vom 22. Juni 2011 gerichtet hat, womit der Beschwerdegegner nach vorübergehend rentenloser Zeit ab Januar 2010 wieder eine Invalidenrente für eine Erwerbsunfähigkeit von 25 % zugesprochen erhielt, kann ihr indessen nicht gefolgt werden. Auch wenn ihr beigepflichtet würde, dass ab diesem Zeitpunkt der Rentenanspruch des Beschwerdegegners (wieder) neu entstand und darin ein Anwendungsfall von Art. 24 Abs. 2 UVV zu erblicken wäre (vgl. E. 3.4.1), hätte dieser Standpunkt mittels Einsprache gegen die damalige Rentenverfügung verfochten werden müssen. Das entsprechende Versäumnis lässt sich entgegen der Vorinstanz selbst im Rahmen der allseitigen Prüfung gemäss BGE 141 V 9 nicht mehr beheben. Denn der versicherte Verdienst, der von Gesetzes wegen grundsätzlich abstrakt, mithin nach Massgabe des Vorunfallverdienstes festzulegen ist (vgl. E. 3.3.1), zählt als Rentenberechnungsfaktor zu den im Zeitpunkt der Verfügung bzw. des Einspracheentscheids zeitlich abgeschlossenen Sachverhalten. Als solcher hat er folglich an der Rechtskraft und der damit verbundenen Rechtsbeständigkeit teil und kann im Rahmen einer (allein auf den Invaliditätsgrad abzielenden) Revision des Rentenanspruchs im Sinne einer Anpassung für die Zukunft ("ex nunc et pro futuro") nicht erneut überprüft werden (vgl. BGE 136 V 369 ![]() ![]() | 31 |
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6.3 Nach dem Gesagten kann dem kantonalen Gericht nicht gefolgt werden, soweit es - unter Berufung auf BGE 141 V 9 - den versicherten Verdienst im Rahmen eines Rentenrevisionsverfahrens angepasst hat, obwohl dieses nicht zur (neuen) Entstehung eines Rentenanspruchs, sondern "lediglich" zu dessen Erhöhung führte. Daran ändert nichts, dass anlässlich einer früheren Rentenfestsetzung Art. 24 Abs. 2 UVV falsch angewendet worden sein könnte, weshalb hier offenbleiben kann, wie es sich im Einzelnen damit verhält. Insofern ![]() ![]() ![]() | 33 |
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