BGE 147 V 297 | |||
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33. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_763/2020 vom 2. Juli 2021 | |
Regeste |
Art. 23 Abs. 4 lit. a und Abs. 5 AHVG; Art. 46 Abs. 3 AHVV; Wiederaufleben des Anspruchs auf eine Witwen- oder Witwerrente. | |
Sachverhalt | |
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A.a Nachdem die erste Ehe der 1971 geborenen A. durch den Tod ihres Ehegatten am 2. August 1994 aufgelöst worden war, sprach ihr die Ausgleichskasse des Kantons Aargau mit Wirkung ab 1. September 1994 eine Witwenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung zu. Der Anspruch darauf erlosch, als A. am 22. Januar 2003 erneut heiratete. Nachdem diese zweite Ehe am 11. September 2008 geschieden worden war, ging A. am 11. Dezember 2009 ihre dritte Ehe ein. Diese wurde am 17. August 2019 rechtskräftig geschieden.
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A.b Im September 2019 meldete sich A. erneut zum Bezug einer Witwenrente an. Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau verneinte einen Anspruch (Verfügung vom 11. Oktober 2019, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 1. Mai 2020).
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B. Beschwerdeweise liess A. beantragen, es sei ihr mit Wirkung ab 1. September 2019 eine Witwenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung zuzusprechen. Mit Urteil vom 3. November 2020 hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde gut, hob den Einspracheentscheid vom 1. Mai 2020 auf und stellte fest, dass A. ab 1. September 2019 Anspruch auf eine Witwenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung hat.
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C. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, das kantonale Urteil sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 1. Mai 2020 zu bestätigen.
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A. lässt Abweisung der Beschwerde beantragen. Die Ausgleichskasse schliesst auf deren Gutheissung.
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Aus den Erwägungen: | |
2. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, als sie der Beschwerdegegnerin nach der rechtskräftigen Scheidung ihrer dritten Ehe am 17. August 2019 erneut eine Witwenrente zusprach. Dabei stellt sich die Frage, ob der Witwenrentenanspruch, welcher der Versicherten infolge des Todes ihres ersten Ehemannes (am 2. August 1994) ab 1. September 1994 zustand und mit der zweiten Eheschliessung am 22. Januar 2003 erlosch, nach der Scheidung ihrer dritten Ehe wieder auflebt.
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Erwägung 3 | |
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Gestützt auf diese Kompetenzdelegation wurde die Bestimmung des Art. 46 Abs. 3 AHVV (SR 831.101) erlassen, wonach der Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente, der mit der Wiederverheiratung der Witwe oder des Witwers erloschen ist, am ersten Tag des der Auflösung der Ehe folgenden Monats wieder auflebt, wenn die Ehe nach weniger als zehnjähriger Dauer geschieden oder als ungültig erklärt wird.
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Erwägung 5 | |
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6.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss der Richter unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat er insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historische Auslegung). Weiter hat der Richter nach dem Zweck, dem Sinn und den dem Text zugrunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologische Auslegung). Wichtig ist auch der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt, und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematische Auslegung). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen ( BGE 146 V 224 E. 4.5.1, BGE 146 V 95 E. 4.3.1 und 51 E. 8.1; je mit Hinweisen).
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6.3.2.1 Während die deutsche und die italienische Sprachfassung, wie sie seit der 8. AHV-Revision ab 1. Januar 1973 in Kraft standen (damaliger Art. 23 Abs. 3 AHVG), von der Scheidung oder Ungültigerklärung der "neuen" Ehe ("le nuove nozze") sprachen (dies in Übereinstimmung mit dem deutschen und italienischen Wortlaut des heutigen Abs. 5 [vgl. dazu E. 6.2]), war in der französischen Fassung damals von der Scheidung oder Ungültigerklärung der "zweiten" Ehe die Rede ("En cas d'annulation ou de dissolution du second mariage [...]").
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Bereits in den Materialien zur 6. AHV-Revision wurde die "neue" Ehe als "zweite" Ehe bezeichnet. So wurde unter anderem festgehalten, dass die vom Bundesrat näher zu regelnden Voraussetzungen sich hauptsächlich auf die Dauer der "zweiten" Ehe und die Höhe allfälliger Alimente beziehen dürften (Botschaft vom 16. September 1963 zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung, BBl 1963 II 517 ff., 570). Auch in den Materialien zur 8. AHV-Revision war vom Wiederaufleben nach Auflösung der "zweiten" Ehe die Rede (Botschaft vom 11. Oktober 1971 betreffend die achte Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung, BBl 1971 II 1057 ff., 1097). Die Botschaften zu den beiden AHV-Revisionen befassen sich denn auch nicht mit der Rechtslage im Fall, dass sich eine Frau nach der Verwitwung nicht nur ein, sondern mehrere Male verheiratete und wieder scheiden liess oder die Ehe als ungültig erklärt wurde.
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6.3.2.2 In der Botschaft zur 8. AHV-Revision legte der Gesetzgeber überdies dar, bei der Ausdehnung des Wiederauflebens des Witwenrentenanspruchs auf den Fall der Scheidung gehe es ihm um eine weitere Verbesserung des Status der geschiedenen Frau, indem Härten beseitigt werden sollten, "die sich insbesondere dann zeigten, wenn eine aus Vereinsamung oder in höherem Alter geschlossene Ehe, die nach den Erfahrungen ein erhöhtes Risiko des Scheiterns in sich birgt, nach kurzer Zeit wieder geschieden wird" (BBl 1971 II 1097).
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6.3.2.3 Der Bundesrat, welcher die näheren Voraussetzungen festzulegen hatte, sah sowohl für das Wiederaufleben nach Ungültigerklärung der Ehe als auch nach Scheidung eine Schranke von zehn Jahren vor (und für den ersten Fall in der bis 31. Dezember 1972 gültig gewesenen Fassung des damaligen Art. 46 Abs. 2 AHVV zusätzlich, dass der Mann der Frau keine Unterhaltsbeiträge schuldete oder nachweisbar nicht imstande war, die geschuldeten Beiträge zu leisten).
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6.3.3 Im Rahmen der 10. AHV-Revision wurde unter anderem die Witwerrente eingeführt und die Stellung der geschiedenen Frau erneut verbessert (Botschaft vom 5. März 1990 über die zehnte Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung, BBl 1990 II 1 ff., 37 und 41). Gesetzestechnisch wurde die Regelung, die sich bisher in Abs. 3 von Art. 23 AHVG befand, in Abs. 5 verschoben. Weiter wurde sie in der Formulierung angepasst. So entfiel insbesondere die Bezeichnung der "neuen" Ehe als "zweite" Ehe in der französischen Fassung ("Le droit renaît en cas d'annulation du mariage ou de divorce" trat an die Stelle von: "En cas d'annulation ou de dissolution du second mariage, le droit à la rente de veuve naît à nouveau [...]."). Nach der Botschaft waren die bei dieser Bestimmung vorgenommenen Änderungen rein redaktioneller Natur (BBl 1990 II 88). Dass in deren Rahmen in der französischen Fassung das Adjektiv "second" wegfiel, ohne dass dies über eine redaktionelle Änderung hinausgegangen wäre, spricht mithin - entgegen dem angefochtenen Entscheid, welcher diesem Umstand keine Bedeutung beimisst - dafür, dass der Gesetzgeber ein Wiederaufleben der Witwen- oder Witwerrente (weiterhin) lediglich nach Auflösung der zweiten Ehe vorsehen wollte (auch wenn sich die Materialien dazu wiederum nicht explizit äussern).
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6.4.4 Eine Art. 23 Abs. 5 AHVG in Verbindung mit Art. 46 Abs. 3 AHVV nachempfundene Regelung findet sich sodann in Art. 33 UVG (vgl. dazu Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung, BBl 1976 III 141 ff., 196), wo ebenfalls vorgesehen ist, dass der wegen Wiederverheiratung erloschene Anspruch auf Witwenrente wieder auflebt, wenn die neue Ehe nach weniger als zehn Jahren geschieden oder als ungültig erklärt wird. Allerdings fehlen auch hier Anhaltspunkte dafür, was gilt, wenn der Verwitwung mehrere Ehen folgen.
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6.5.3 Das Schutzbedürfnis ändert sich allerdings wieder, wenn die von der Witwe oder dem Witwer eingegangene neue Ehe wegen Scheidung oder Ungültigerklärung keinen (längeren) Bestand hat. Aus diesem Grund sah der Gesetzgeber für diesen Fall ein Wiederaufleben des Anspruchs auf die mit der Wiederverheiratung untergegangene (vgl. E. 6.5.2) Witwen- oder Witwerrente vor (wobei dies gemäss BGE 127 V 75 bedingt, dass der Anspruch vor der zweiten Eheschliessung entstanden ist; vgl. auch BAUMANN/LAUTERBURG, Scheidung, Getrenntleben und AHV/IV - Tipps für PraktikerInnen, FamPra.ch 3/2006 S. 611 ff., 624). Der Vorinstanz ist zwar beizupflichten, dass (auch) dieser Regelung des Wiederauflebens ein sozialpolitischer Gedanke zugrunde liegt, sollten doch die verwitweten Partner dadurch zusätzlich finanziell abgesichert werden. Soweit sie daraus aber ableitet, die Möglichkeit des Wiederauflebens müsse unbegrenzt - d.h. im Falle sämtlicher nach der Verwitwung eingegangener und später wieder geschiedener oder als ungültig erklärter Ehen - gegeben sein, kann ihr nicht gefolgt werden, denn dieser Schluss ist keineswegs zwingend.
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6.5.4 Vielmehr stellt sich die Frage, ob es überhaupt folgerichtig ist, die frühere Witwen- oder Witwerrente nach Auflösung der Zweitehe wieder aufleben zu lassen, dies mit Blick auf das eheliche Unterhaltsrecht, nach welchem der zweite Ehegatte den Verlust des bisherigen (d.h. früheren nachehelichen) Unterhaltsanspruchs jedenfalls nicht auszugleichen hat (vgl. dazu HÜRZELER, a.a.O., S. 399, mit Hinweis auf das Urteil 5C.49/2005 vom 23. Juni 2005 E. 2.5). Wenn der Gesetzgeber dessen ungeachtet ein Wiederaufleben des Witwen- oder Witwerrentenanspruchs vorsah, entfernte er sich (um die verwitweten Partner zu schützen, deren neue Ehe seiner Auffassung nach möglicherweise mit einem höheren Risiko des Scheiterns behaftet war; vgl. dazu E. 6.3.2.2) mithin erheblich vom System des Unterhaltsrechts. Lässt sich in diesem Sinne bereits nach der zweiten, durch Scheidung oder Ungültigerklärung aufgelösten Ehe ein Wiederaufleben des Hinterlassenenrentenanspruches aus erster Ehe dogmatisch (insbesondere aufgrund der fehlenden Parallelen zum Unterhaltsrecht) kaum rechtfertigen, erlauben Sinn und Zweck der Norm erst recht keine ausdehnende Auslegung im Sinne eines Wiederauflebens des Witwen- oder Witwerrentenanspruchs auch nach Auflösung der dritten, vierten etc. Ehe (vgl. auch HÜRZELER, a.a.O., S. 400). Dass ein Wiederaufleben in jedem Fall ausgeschlossen ist, wenn die neue Ehe mehr als zehn Jahre gedauert hat (Art. 23 Abs. 5 AHVG in Verbindung mit Art. 46 Abs. 3 AHVV), lässt sich ohne weiteres damit begründen, dass das Vertrauen des überlebenden Ehegatten, die während bzw. nach der ersten Ehe genossene Versorgungslage nach Auflösung der zweiten Ehe (durch Scheidung oder Ungültigerklärung) weiterhin fortführen zu können, nach einer derart langen Zeitspanne keinen Schutz mehr verdient. Umso mehr fehlt eine Rechtfertigung, die Versorgungssituation der ersten Ehe durch eine wiederauflebende Witwen- oder Witwerrente abzusichern, wenn die Witwe oder der Witwer inzwischen nicht nur ein zweites, sondern ein drittes oder viertes etc. Mal verheiratet war und sich erneut scheiden liess oder die Ehe als ungültig erklärt wurde. Denn auch diesfalls ist die Verbindung zur während der ersten Ehe genossenen Versorgungslage so lose, dass ein Wiederaufleben des von dieser ersten Ehe herrührenden Witwen- oder Witwerrentenanspruchs nicht mehr dem Sinn und Zweck der Norm entsprechen würde.
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7. Die Beschwerdegegnerin verwitwete am 2. August 1994 und war danach ein zweites (vom 22. Januar 2003 bis zur Scheidung am 11. September 2008) und ein drittes Mal (vom 11. Dezember 2009 bis zur Scheidung am 17. August 2019) verheiratet. Ab 1. September 1994 hatte sie Anspruch auf eine Witwenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung, welcher mit der Wiederverheiratung erlosch (Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG). Gemäss dem in E. 6.6 Gesagten lebte der Anspruch auf die Witwenrente nach der Scheidung ihrer dritten Ehe nicht wieder auf (vgl. Art. 23 Abs. 5 AHVG). Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz die Ausgleichskasse zu Unrecht verpflichtet, der Beschwerdegegnerin rückwirkend ab 1. September 2019 erneut eine Witwenrente auszurichten. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Beschwerde gutzuheissen.
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