BGE 147 V 369 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 22.12.2021, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
40. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_716/2020 vom 20. Juli 2021 | |
Regeste |
Art. 25 Abs. 1 ATSG und Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV; Rückerstattungspflicht. | |
Sachverhalt | |
1 | |
A.a Die Ausgleichskasse des Kantons Bern sprach dem 1962 geborenen A. Ergänzungsleistungen zur Rente der Invalidenversicherung vom 1. Juli 2012 bis zum 31. Dezember 2016 zu. Dabei zahlte sie die jährlichen Pauschalbeträge für die obligatorische Krankenpflegeversicherung ab dem 1. Januar 2015 direkt der Visana AG (nachfolgend: Visana) als zuständigem Krankenversicherer aus. Am 22. März 2017 teilte die Previs Vorsorge der Ausgleichskasse mit, dass sie die Invalidenleistungen aus beruflicher Vorsorge nicht korrekt berechnet habe und A. für die Zeit vom 1. April 2013 bis zum 31. März 2017 Anspruch auf eine Nachzahlung von Fr. 42'055.20 habe.
| 2 |
In der Folge berechnete die Ausgleichskasse die Ergänzungsleistungen ab 1. April 2013 neu. Am 24. April 2017 stellte sie bei der Previs Vorsorge einen Verrechnungsantrag hinsichtlich der Rentennachzahlung. Mit Verfügungen vom 28. April 2017 verpflichtete sie A. zur Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Ergänzungsleistungen (Fr. 9'290.- für die Zeit vom 1. April 2013 bis zum 31. Dezember 2014 und Fr. 2'504.- für die Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 31. Dezember 2016), wobei diese Rückforderungen mit der Nachzahlung der Previs Vorsorge verrechnet würden.
| 3 |
Die Previs Vorsorge leistete die Nachzahlung im Umfang von insgesamt Fr. 11'794.- an die Ausgleichskasse (bestätigt mit Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24. Februar 2020). Die Visana erstattete die 2015 und 2016 an sie ausbezahlten Pauschalbeträge zurück und stellte dem Versicherten eine entsprechende "Forderung KVG" über Fr. 12'961.20 in Rechnung.
| 4 |
A.b Mit Verfügung vom 21. Februar 2018 und "Einspracheverfügung" vom 11. April 2018 verneinte das kantonale Amt für Sozialversicherungen einen Anspruch des A. und seiner Familienmitglieder auf Prämienverbilligung ab dem 1. August 2015. Gleichzeitig trat es auf das "Ersuchen um Erlass der von der Krankenkasse geltend gemachten Rückforderung" wegen Unzuständigkeit nicht ein. Im Juli 2018 stellte der Versicherte ein (kantonalrechtlich begründetes) Gesuch "Härtefall gemäss 27 Abs. 3 EG KUMV" betreffend "Prämienverbilligungen für die Jahre 2015 und 2016" bei der Ausgleichskasse. Darauf trat diese mit Verfügung vom 18. Februar 2019 resp. Einspracheentscheid vom 4. Dezember 2019 nicht ein. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 24. Februar 2020 ab, soweit es darauf eintrat.
| 5 |
A.c Am 4. März 2020 ersuchte der Versicherte die Ausgleichskasse um "Erlass der Rückerstattung gemäss Art. 25 Abs. 1 ATSG" im Umfang der nachgeforderten Krankenversicherungsbeiträge. Auch darauf trat die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 29. Juni 2020 resp. Einspracheentscheid vom 13. Juli 2020 nicht ein.
| 6 |
B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 29. Oktober 2020 ab.
| 7 |
C. A. lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, "das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 29. Oktober 2020 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen".
| 8 |
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
| 9 |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
| 10 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
11 | |
12 | |
Rückerstattungspflichtig sind insbesondere der Bezüger der unrechtmässig gewährten Leistungen und Dritte oder Behörden, mit Ausnahme des Vormundes oder der Vormundin, denen Geldleistungen zur Gewährleistung zweckgemässer Verwendung nach Art. 20 ATSG oder den Bestimmungen der Einzelgesetze ausbezahlt wurden (Art. 2 Abs. 1 lit. a und b ATSV). Der Anspruch des Versicherers auf Rückerstattung richtet sich im Umfang, in welchem die unrechtmässig gewährten Leistungen gemäss der Regelung der einzelnen Sozialversicherungen mit Nachzahlungen anderer Sozialversicherungen verrechnet werden können, gegen den nachzahlungspflichtigen Versicherer (Art. 2 Abs. 3 ATSV). Wer unrechtmässige Leistungen lediglich als Inkasso- oder Zahlstelle entgegengenommen hat, ist nicht rückerstattungspflichtig ( BGE 140 V 233 E. 3.1 und 3.3; BGE 118 V 214 E. 4a; BGE 110 V 10 E. 2b; vgl. auch BGE 142 V 358 mit Blick auf Art. 35a BVG).
| 13 |
Erwägung 3 | |
14 | |
15 | |
Erwägung 4 | |
16 | |
Die vorinstanzliche Feststellung, wonach die Ausgleichskasse die hier interessierende Rückerstattung nicht vom Beschwerdeführer gefordert habe, ist unbestritten und für das Bundesgericht verbindlich (nicht publ. E. 1). Unter diesen Umständen bestand in der Tat kein Anlass, auf das Erlassgesuch (im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG) einzutreten. Abgesehen davon kann sich von vornherein nicht auf einen wirtschaftlichen Härtefall berufen, wer im Zusammenhang mit der Nachzahlung einer Sozialversicherungsleistung mit einer kompensatorischen Rückforderung rechnete oder rechnen musste (SVR 2018 EL Nr. 7 S. 17, 9C_728/2016 E. 1.2 und 2.4). Insoweit ist die Beschwerde unbegründet. Näher zu betrachten ist indessen die Rückerstattungspflicht der Visana.
| 17 |
Erwägung 4.2 | |
18 | |
Verwaltungsverfügungen (resp. Einspracheentscheide) sind nicht nach ihrem bisweilen nicht sehr treffend verfassten Wortlaut, sondern - vorbehältlich des (hier nicht interessierenden) Vertrauensschutzes - nach ihrem wirklichen rechtlichen Bedeutungsgehalt zu verstehen ( BGE 141 V 255 E. 1.2; BGE 132 V 74 E. 2; BGE 120 V 496 E. 1a; Urteil 9C_777/2019 vom 24. November 2020 E. 5.2.1, nicht publ. in: BGE 147 V 73 ).
| 19 |
20 | |
Mit diesem Angriff auf die Rückerstattungspflicht des Krankenversicherers an sich (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG) verlangte der Versicherte - alternativ resp. eventualiter zum Erlass im Sinne von Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG - wenn auch nicht ausdrücklich, so doch unmissverständlich die "Rückabwicklung" der bereits erfolgten Rückerstattung, d.h. die erneute Zahlung der Pauschalbeträge an die Visana durch die Ausgleichskasse.
| 21 |
22 | |
Dieses Rechtsverhältnis bildete auch Gegenstand des vorinstanzlichen Urteils (vgl. vorangehende E. 3.1). Im vorliegenden Verfahren verlangt der Beschwerdeführer sinngemäss wiederum (auch), dass die Ausgleichskasse verpflichtet werden soll, die Pauschalbeträge (Fr. 12'961.20) erneut zu bezahlen, wie sich aus der Beschwerdebegründung deutlich ergibt.
| 23 |
Erwägung 4.3 | |
24 | |
25 | |
26 | |
Art. 65 Abs. 1 KVG, der die direkte Auszahlung der Prämienverbilligung an den Krankenversicherer vorsieht, garantiert, dass die Beiträge tatsächlich zum Zweck der Prämienverbilligung resp. der Begleichung von Krankenversicherungsprämien für die Anspruchsberechtigten eingesetzt werden. Zudem vermindert dieses System das Risiko der Zahlungsausstände bei den Versicherten (Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates vom 28. August 2009 zur Parlamentarischen Initiative Artikel 64a KVG und unbezahlte Prämien, BBl 2009 6623 Kommentar zu Art. 65 Abs. 1 KVG). Das gilt analog für Art. 21a ELG, der erst anlässlich der Beratungen der soeben erwähnten Parlamentarischen Initiative in den Eidgenössischen Räten formuliert und beschlossen wurde (AB 2010 N 49 f.; AB 2010 S 170; vgl. auch Botschaft vom 16. September 2016 zur Änderung des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [EL-Reform], BBl 2016 7540 Kommentar zu Art. 21a ELG).
| 27 |
4.3.3 Damit besteht - im hier interessierenden Zusammenhang - die einzige Verpflichtung des Krankenversicherers darin, die Zahlungen von der Ausgleichskasse zur Anrechnung an ihre Forderungen gegenüber dem Versicherten entgegenzunehmen und einen allfälligen Überschuss an diesen weiterzuleiten. Dass er eigene Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit dem Leistungsverhältnis (wie Verrechnungsrecht, Verwaltungs- oder Fürsorgepflicht) haben soll, bringt die Ausgleichskasse nicht vor und ist auch nicht ersichtlich. Demnach ist dem Beschwerdeführer beizupflichten, dass die Visana für die Entgegennahme der jährlichen Pauschalbeträge von der Ausgleichskasse als blosse Inkasso- resp. Zahlstelle zu qualifizieren ist. Folglich trifft sie diesbezüglich auch keine Rückerstattungspflicht als Drittperson oder Behörde im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV. Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung ist die dazu im Widerspruch stehende Weisung von Rz. 4660.02 WEL bundesrechtswidrig (vgl. zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen BGE 145 V 84 E. 6.1.1; BGE 142 V 442 E. 5.2).
| 28 |
4.4 Nach dem Gesagten hätte die Ausgleichskasse die Rückforderung auch der Pauschalbeträge gegenüber dem Versicherten oder (ohne dass hier abschliessend darüber zu entscheiden ist) der nachzahlenden Vorsorgeeinrichtung geltend machen müssen. Sie kann dies nicht mehr nachholen, nachdem die (relative) einjährige Frist von Art. 25 Abs. 2 ATSG offensichtlich verwirkt ist. Diesbezüglich entfällt somit auch die Möglichkeit einer Verrechnung mit der "Rückabwicklung" resp. erneuten Leistung der Pauschalbeträge. Dass diese aus einem anderen Grund nicht möglich sein soll, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht ansatzweise geltend gemacht. In diesem Sinn ist die Beschwerde begründet.
| 29 |
© 1994-2021 Das Fallrecht (DFR). |