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46. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A.A. gegen SVA Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_42/2021 vom 1. September 2021 | |
Regeste |
Art. 9 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG; Berechnung der Ergänzungsleistung bei Personen, die eine Hilflosenentschädigung der IV beziehen. |
Bei Personen, die ihre EL aufgrund einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV erhalten, ist gestützt auf Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG und Rz. 3272.04 WEL für im selben Haushalt lebende minderjährige Kinder auch ohne rechtsverbindliche Festlegung und damit abweichend von der bisherigen Rechtsprechung (E. 3.3.1) ein familienrechtlicher Unterhaltsbeitrag als Ausgabe zu berücksichtigen. Seine Höhe entspricht der Differenz zwischen dem tatsächlich ausgerichteten EL-Betrag und dem EL-Betrag, den eine gemeinsame EL-Berechnung mit dem Kind nach Art. 9 Abs. 2 ELG ergeben würde, wobei die tatsächlich geleisteten Unterhaltsbeiträge nicht überschriten werden dürfen (E. 4.4). | |
Sachverhalt | |
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A.a Der 1993 geborene A.A. leidet an einer schweren Sehbehinderung. Seit 1. November 2011 bezieht er Ergänzungsleistungen (EL) zu einer Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung (IV).
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A.b Nach der Heirat am 11. Juni 2018 und der Geburt seiner Tochter A.B. am 6. Juli 2019 berechnete die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau (SVA) die Ergänzungsleistungen des A.A. neu. Sie setzte den Anspruch rückwirkend ab September 2018 und ab Juli 2019 neu fest (Verfügungen vom 18. Juli 2019 und 7. Februar 2020), wobei sie darauf hinwies, dass die Tochter in der Berechnung unberücksichtigt bleibe, weil sie keinen Anspruch auf eine Kinderrente habe. Daran hielt die SVA auf die von A.A. dagegen erhobenen Einsprachen hin fest (Entscheid vom 14. Mai 2020).
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B. Beschwerdeweise liess A.A. beantragen, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und die Verwaltung zu verpflichten, bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen ab Juli 2019 als Ausgabe die geleisteten familienrechtlichen Unterhaltsbeiträge im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG (SR 831.30) gemäss der in Rz. 3272.04 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen (WEL) festgelegten Berechnungsweise zu berücksichtigen. Die Ergänzungsleistungen seien ab 1. Juli 2019 in der Höhe anzupassen und auszurichten. Mit Urteil vom 16. November 2020 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab. ![]() | 4 |
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Die SVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) stellt den Antrag, die Beschwerde sei dahingehend gutzuheissen, als festzustellen sei, dass Rz. 3272.04 WEL der Bestimmung des Art. 9 Abs. 2 ELG nicht widerspreche und Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die genannte Weisungsbestimmung biete.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 3 | |
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Die Bestimmung des Art. 9 Abs. 2 ELG sieht bei der EL-Berechnung einen Einbezug lediglich der rentenberechtigten oder an der Rente beteiligten, d.h. einen Anspruch auf eine Kinderrente begründenden Kinder vor. Bei Personen, die ihre EL-Anspruchsberechtigung gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG nicht aus einer Rente, sondern aus einem Taggeld der IV ableiten und deren Kinder deshalb keinen Anspruch auf eine Kinderrente haben (und in der Regel auch nicht waisenrentenberechtigt sind), ist nach der Rechtsprechung, die von einem qualifizierten Schweigen des Gesetzgebers ausgeht, eine ![]() ![]() | 10 |
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3.3.2 Weiter sind nach der zu Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG ergangenen Rechtsprechung nur die tatsächlich erbrachten Unterhaltsbeiträge als ![]() ![]() | 13 |
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Im (in Rz. 3124.04 WEL am Ende erwähnten) Kapitel 3.2.7 der WEL, welches die familienrechtlichen Unterhaltsbeiträge betrifft, wurden mit Wirkung auf 1. Januar 2017 verschiedene Änderungen vorgenommen, welche durch das gleichzeitig in Kraft getretene neue Kindesunterhaltsrecht (Art. 276 ff. ZGB) geprägt sind (vgl. Vorwort zum Nachtrag 6 der WEL). Im Zuge dieser Neuerungen wurden sämtliche Randziffern des bisherigen Kapitels 3.2.7 (d.h. die bisherigen Rz. 3270.01 bis 3270.06 WEL) aufgehoben. Das Kapitel ist neu in die Unterkapitel 3.2.7.1 "behördlich oder gerichtlich genehmigte oder festgelegte Unterhaltsleistungen" (Rz. 3271.01 bis 3271.05 WEL) und 3.2.7.2 "nicht behördlich oder gerichtlich genehmigte oder festgelegte Unterhaltsleistungen" (Rz. 3272.01 bis 3272.05 WEL) gegliedert.
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Sowohl die Rz. 3272.04 WEL, auf welche sich der Beschwerdeführer für die von ihm geltend gemachte Anrechnung eines familienrechtlichen Unterhaltsbeitrages stützt, als auch Rz. 3272.01 WEL, die damit im Zusammenhang steht, befinden sich in diesem zweiten, die nicht behördlich oder gerichtlich genehmigten oder ![]() ![]() | 17 |
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4.3 Es stellt sich mithin die Frage, ob Rz. 3272.01 und 3272.04 WEL die anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen - insbesondere auch mit Blick auf die in E. 3.2, 3.3.1 und 3.3.2 dargelegte Rechtsprechung - überzeugend auslegen. Zu prüfen ist dabei angesichts des hier zu beurteilenden Sachverhalts einzig der Fall von Unterhaltsleistungen an minderjährige Kinder, die mit dem EL-Ansprecher im selben Haushalt leben (vgl. zu den in Rz. 3272.04 WEL ebenfalls erwähnten volljährigen, noch in Ausbildung stehenden Kindern: Urteil 9C_396/2018 vom 20. Dezember 2018 E. 5.2, in: SVR 2019 EL Nr. 6 S. 11; MÜLLER, a.a.O., N. 260 zu Art. 10 ELG; vgl. auch Botschaft vom 29. November 2013 zu einer Änderung ![]() ![]() | 19 |
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4.3.3 Es lassen sich weitere Argumente für die in Rz. 3272.01 in Verbindung mit Rz. 3272.04 WEL getroffene Lösung anführen: In der Lehre wird als nicht nachvollziehbare Konsequenz der in E. 3.2 wiedergegebenen Rechtsprechung kritisiert, dass der Bezüger einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV seinen in natura geleisteten Unterhalt nicht in der Form einer Erhöhung des massgebenden Lebensbedarfs gemäss Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 ELG (die auf 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Änderungen bei dieser Bestimmung spielen im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle) in die Berechnung einbeziehen, aber den seinen Kindern in Geld ![]() ![]() | 22 |
Eine Privilegierung des nicht mit seinem Kind zusammenlebenden EL-Ansprechers ergibt sich weiter auch daraus, dass die in E. 3.3.1 wiedergegebene Rechtsprechung als Ausgaben im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG nur die Unterhaltsleistungen anerkennt, welche in Bestand und Höhe rechtsverbindlich, d.h. richterlich, behördlich oder vertraglich festgesetzt worden sind. Über einen solchen Titel verfügt der EL-Ansprecher, der mit seinem Kind im selben Haushalt lebt und sowohl in natura als auch in Form von Geldleistungen für den Kindesunterhalt aufkommt, zumeist nicht, dies im Unterschied zum EL-Ansprecher, der von seinem Kind getrennt lebt und dessen Unterhaltspflicht in der Regel behördlich oder gerichtlich (oder allenfalls vertraglich) geregelt ist. Eine Benachteiligung des im selben Haushalt mit dem Kind lebenden EL-Ansprechers, dessen Unterhaltsleistungen (in natura und in Form von Geldleistungen) im Übrigen regelmässig höher ausfallen dürften als diejenigen des nicht im selben Haushalt lebenden EL-Ansprechers, lässt sich nicht rechtfertigen. Im Sinne einer Gleichbehandlung der beiden Versichertenkategorien ist es vielmehr angezeigt, seine Unterhaltsleistungen auch ohne rechtsverbindliche Festsetzung (bzw. ohne behördliche oder gerichtliche Genehmigung oder Festlegung, wie es in Rz. 3272.01 Satz 1 WEL heisst) als Ausgabe anzurechnen.
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Bei dieser Sachlage bestehen hinsichtlich der ausgabenseitigen Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen, welche die Bezüger einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV an ihre Kinder erbringen, gute Gründe für eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen - die neue Lösung muss besserer Erkenntnis des Gesetzeszwecks, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauen entsprechen ( BGE 146 I 105 E. 5.2.2; BGE 145 V 50 E. 4.3.1; BGE 141 II 297 E. 5.5.1; BGE 140 V 538 E. 4.5 mit Hinweisen) - sind erfüllt: Die Bestimmung ![]() ![]() | 24 |
4.3.4 In welcher Höhe einem EL-Ansprecher, der eine Hilflosenentschädigung oder ein Taggeld der IV bezieht, gestützt auf Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG Unterhaltsleistungen an gemäss Art. 9 Abs. 2 ELG ausser Rechnung fallende, mit ihm im selben Haushalt lebende minderjährige Kinder anzurechnen sind, regelt Rz. 3272.04 WEL. Die darin vorgesehene Berechnungsweise - es ist die Differenz zu ermitteln zwischen dem tatsächlich ausgerichteten EL-Betrag und dem EL-Betrag, den eine gemeinsame EL-Berechnung mit dem Kind gemäss Rz. 3133.02 WEL ergeben würde - korrigiert die in E. 4.3.2 und 4.3.3 aufgezeigte, durch nichts gerechtfertigte Benachteiligung der Bezüger von Hilflosenentschädigungen und Taggeldleistungen der IV. Sie hält damit eine dem Einzelfall gerecht werdende Auslegung ![]() ![]() | 25 |
4.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass bei Personen, die ihre EL aufgrund einer Hilflosenentschädigung oder eines Taggeldes der IV erhalten, gestützt auf Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG und Rz. 3272.04 WEL für im selben Haushalt lebende minderjährige Kinder auch ohne rechtsverbindliche Festlegung und damit abweichend von der bisherigen Rechtsprechung (E. 3.3.1) ein familienrechtlicher Unterhaltsbeitrag als Ausgabe zu berücksichtigen ist. Seine Höhe entspricht der Differenz zwischen dem tatsächlich ausgerichteten EL-Betrag und dem EL-Betrag, den eine gemeinsame EL-Berechnung mit dem Kind nach Art. 9 Abs. 2 ELG ergeben würde, wobei die tatsächlich geleisteten Unterhaltsbeiträge nicht überschritten werden dürfen. ![]() | 26 |
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