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Informationen zum Dokument  BGer U 124/2000  Materielle Begründung
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BGer U 124/2000 vom 01.09.2000
 
[AZA 7]
 
U 124/00 Hm
 
III. Kammer
 
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer; Gerichtsschreiber Signorell
 
Urteil vom 1. September 2000
 
in Sachen
 
Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Zürich, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas Ender, Oberstadtstrasse 7, Baden,
 
gegen
 
M.________, 1951, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dominique Chopard, Werdstrasse 36, Zürich,
 
und
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess eine Rechtsverweigerungsbeschwerde der M.________ gegen die Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Zürich) mit Entscheid vom 23. Februar 2000 gut und verpflichtete diese, einen anfechtbaren Einspracheentscheid zu erlassen.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Zürich die Aufhebung des kantonalen Entscheides.
 
M.________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und ersucht ferner um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau verzichtet auf Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) äussert sich nicht.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Da es sich beim angefochtenen Entscheid nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.- Gegen Verfügungen nach dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG) kann innert 30 Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden (Art. 105 Abs. 1 UVG). Einsprachen nach Art. 105 Abs. 1 UVG können schriftlich oder bei persönlicher Vorsprache mündlich erhoben werden und sind zu begründen; der Versicherer hält mündliche Einsprachen in einem Protokoll fest, das der Einsprecher unterzeichnen muss (Art. 130 Abs. 1 UVV). Gemäss Art. 106 Abs. 2 UVG kann eine Beschwerde an das kantonale Gericht auch erhoben werden, wenn der Versicherer entgegen dem Begehren des Betroffenen keine Verfügung oder keinen Einspracheentscheid erlässt. Dessen Entscheid kann beim Eidgenössischen Versicherungsgericht angefochten werden (Art. 110 UVG). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.
 
3.- a) Die Beschwerdegegnerin gelangte innert der Einsprachefrist gegen die Verfügung vom 11. April 1996 mit Eingabe vom 22. April 1996 an die Zürich, welche das Schreiben zunächst als - wenn auch ungenügend begründetes - Rechtsmittel (Einsprache) verstand. Mit Schreiben vom 26. April 1996 setzte sie Frist an zur Nachreichung einer Begründung, verbunden mit dem Hinweis, dass im Unterlassungsfall die Verfügung als rechtskräftig gelte. Diese Frist verstrich ungenutzt, so dass sich die Zürich in weiteren Schreiben auf den Standpunkt stellte, ihre Verfügung sei in Rechtskraft erwachsen. An dieser Auffassung hielt sie auch fest, als die nunmehr anwaltlich vertretene Versicherte am 28. Juni 1999 einen unverzüglichen Entscheid über die Einsprache vom 22. April 1999 beantragte.
 
b) Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess eine dagegen erhobene Rechtsverweigerungsbeschwerde gut im wesentlichen mit der Begründung, der Eingabe vom 22. April 1996 sei der Wille zur Änderung der Verfügung vom 11. April 1996 zu entnehmen. Die Versicherte habe klar zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der Auffassung, es liege kein Unfall vor, nicht einverstanden sei, und nicht bloss um eine Auskunft gebeten. Selbst wenn die Eingabe den Anforderungen an eine Einsprache nicht genügte, hätte die Zürich einen Entscheid erlassen müssen, da erst dieser klare Rechtsverhältnisse schaffe.
 
4.- Streitig ist, ob die Vorinstanz eine Rechtsverweigerung durch die Zürich zu Recht bejaht hat. Die Beschwerdeführerin rügt, das kantonale Gericht habe dem Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 22. April 1996 zu Unrecht den Charakter einer Einsprache zuerkannt. Dieses richte sich nicht in eindeutiger Art und Weise gegen das Dispositiv der Verfügung vom 11. April 1996, enthalte überhaupt keine Argumentation und nenne auch keinen Grund, weshalb die Verfügung aufgehoben werden sollte.
 
a) Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, reagierte die Beschwerdegegnerin innert der Einsprachefrist, erklärte in der Eingabe, dass sie mit der Verfügung nicht einverstanden sei, und machte diesbezüglich zumindest sinngemäss geltend, es liege ein Unfall vor. Unter diesen Umständen ist es nicht zu beanstanden, das Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 22. April 1996 als hinreichend begründete Einsprache zu qualifizieren.
 
b) Zu Recht weist die Vorinstanz auf BGE 102 Ib 373 hin, worin festgestellt wird, es widerspreche einem ordnungsgemäss geführten Verwaltungsverfahren, dieses nicht mit einem förmlichen Entscheid abzuschliessen. Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen. Anders als in jenem Fall, wird vorliegend ein Nichteintretensentscheid wohl nicht zulässig sein. Da die Beschwerdeführerin als privater Unfallversicherer weder dem VwVG noch dem kantonalen Verfahrensrecht untersteht, finden in verfahrensrechtlicher Hinsicht nur die Bestimmungen des UVG Anwendung. Darin sind zum Verfahren keine Vorschriften enthalten. Dies bedeutet, dass es der Beschwerdeführerin verwehrt ist, einer Verfahrenspartei verfahrensrechtliche Rechtsnachteile (z.B. Nichteintreten oder fiktiver Rückzug) anzudrohen, denn hiefür bedürfte es einer klaren gesetzlichen Grundlage (wie etwa Art. 52 Abs. 3 VwVG, Art. 108 Abs. 3 OG).
 
c) Da die Zürich bisher keinen verfahrensabschliessenden anfechtbaren Entscheid - dies wäre selbst bei einem angenommenen Rechtsmittelrückzug oder -verzicht erforderlich (Abschreibungsverfügung) - erlassen hat und sich auf den Standpunkt stellt, auch keinen solchen erlassen zu müssen, begeht sie klarerweise eine Rechtsverweigerung.
 
5.- Nachdem die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen ist, hat die Beschwerdegegnerin Anspruch auf eine Parteientschädigung, weshalb sich das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung als gegenstandslos erweist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
II. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin
 
auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss
 
verrechnet.
 
III. Die Zürich Versicherungs-Gesellschaft hat der Beschwerdegegnerin
 
für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
 
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung
 
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
 
bezahlen.
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht
 
des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
 
Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 1. September 2000
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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