VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 5P.232/2000  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 5P.232/2000 vom 19.10.2000
 
[AZA 0/2]
 
5P.232/2000/min
 
II. Z I V I L A B T E I L U N G ********************************
 
19. Oktober 2000
 
Es wirken mit: Bundesrichter Reeb, Präsident der II. Zivilabteilung,
 
Bundesrichter Bianchi, Bundesrichter Raselli,
 
Bundesrichterin Nordmann, Ersatzrichter Riemer sowie Gerichtsschreiber Zbinden.
 
---------
 
In Sachen
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Wilfried Caviezel, Masanserstrasse 35, Postfach 414, 7001 Chur,
 
gegen
 
Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Janett, Schulstrasse 1, 7302 Landquart, Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart,
 
betreffend
 
Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV (vorsorgliche Massnahmen
 
im Ehescheidungsverfahren), hat sich ergeben:
 
A.- Y.________ und X.________ heirateten im Jahre 1985.
 
Aus dieser Ehe gingen die Kinder L.________ (geb. 15. Februar 1986), G.________ (geb. 24. Februar 1987), F.________ (geb.
 
3. April 1989) und T.________ (geb. 2. März 1991) hervor.
 
B.-Nachdem das Scheidungsverfahren am 18. November 1998 eingeleitet worden war, wies der Bezirksgerichtspräsident Unterlandquart am 3. Februar 2000 die Kinder für die Dauer des Verfahrens zur Pflege und Erziehung Y.________ zu und stellte sie unter deren alleinige Obhut. X.________ räumte er ein Besuchsrecht ein und verpflichtete ihn zu Unterhaltsbeiträgen für seine Kinder. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde von X.________ wies der Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart mit Beiurteil vom 3. Mai 2000 ab.
 
C.- X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde unter anderem wegen Verletzung von Art. 9 BV mit dem Antrag, das angefochtene Beiurteil aufzuheben.
 
Y.________ sowie der Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart schliessen auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Gegen das Urteil des Bezirksgerichtsausschusses steht kein Rechtsmittel an das Kantonsgericht von Graubünden offen (Art. 237 ZPO/GR; vgl. PKG 1978 Nr. 21 S. 74). Im Lichte von Art. 86 Abs. 1 OG ist demnach auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.
 
2.- In privatrechtlicher Hinsicht ist auf vorliegenden Fall das seit 1. Januar in Kraft stehende Ehescheidungsrecht anwendbar (Art. 7b Abs. 1 und 3 SchlT/ZGB; AS 1999 S. 1144).
 
3.- In Bezug auf die Zuteilung der Obhut rügt der Beschwerdeführer als willkürlich, dass weder im Sinne von Art. 144 ZGB eine Befragung der Kinder durchgeführt, noch ein Bericht des regionalen Sozialdienstes oder ein Gutachten des kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes Graubünden eingeholt worden sei.
 
Der Bezirksgerichtsausschuss holte weder einen Bericht noch Gutachten ein und begründete seinen Entscheid einerseits mit der ursprünglich ablehnenden Haltung der Parteien, anderseits mit dem Hinweis, die Beschwerdegegnerin erscheine aufgrund der Umstände der Parteien als zweifellos geeignetere Person für die Obhut. Die Kinder hörte er nicht persönlich an. Dieser Punkt kam in der Vernehmlassung des Bezirksgerichtsausschusses bzw. der Beschwerdegegnerin nicht zur Sprache.
 
4.- a) Nach Art. 144 Abs. 1 ZGB sind die Eltern persönlich anzuhören, wenn Anordnungen über die Kinder zu treffen sind. Abs. 2 der genannten Bestimmung sieht vor, dass die Kinder in geeigneter Weise durch das Gericht oder durch eine beauftragte Drittperson persönlich anzuhören sind, soweit nicht ihr Alter oder andere wichtige Gründe dagegen sprechen.
 
b) Aus dem Wortlaut von Abs. 1 des Art. 144 ZGB in Verbindung mit Abs. 2 der Bestimmung lässt sich folgern, dass auch eine persönliche Anhörung der Kinder vorgeschrieben ist, wenn sie betreffende Anordnungen getroffen werden; daraus ergibt sich, dass es sich bereits im Massnahmeverfahren nach Art. 137 ZGB von Gesetzes wegen aufdrängt, die Kinder persönlich anzuhören, sofern die im Gesetz umschriebenen Massnahmen verfügt werden. Die hier vertretene Auslegung rechtfertigt sich denn auch im Lichte von Art. 12 Abs. 2 des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (SR 0.107); diese Bestimmung gebietet grundsätzlich eine Anhörung der Kinder, wenn ein Gerichts- oder Verwaltungsverfahren ihre Angelegenheiten betrifft (vgl. dazu auch: BGE 124 III 90). In der Literatur wird eine Anhörung bereits im Massnahmeverfahren nach Art. 137 ZGB unter anderem aus den vorgenannten Gründen befürwortet (vgl. insbes. Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht, Zürich 1999, N. 6 zu Art. 144 ZGB; Spühler, Neues Scheidungsverfahren, Zürich 1999, S. 30; Rumo-Jungo, Die Anhörung des Kindes unter besonderer Berücksichtigung verfahrensrechtlicher Fragen, AJP 1999 S. 1587, VII. 2.; etwas nuancierter: Schweighauser, in Schwenzer [Herausg. ], Praxiskommentar zum Scheidungsrecht, Basel 2000, N. 18 zu Art. 144 ZGB, wonach sich die Anhörung lediglich aufdrängt, wenn die Frage der Zuteilung der Obhut oder des Besuchsrechts strittig ist).
 
c) Im vorliegenden Fall sind keine Gründe ersichtlich, die im Sinne von Art. 144 Abs. 2 ZGB gegen eine solche Anhörung sprechen würden. Dies gilt bezüglich des Alters der Kinder; dabei wird keineswegs übersehen, dass das Jüngste derzeit erst ca. 9 1/2 Jahre alt ist. In dem in BGE 124 III 93/94 beschriebenen Fall wurde ein 6-jähriges Kind vor allem wegen des bis dahin fehlenden Kontaktes zum Vater, aber auch wegen anderer wichtiger Gründe nicht persönlich angehört (vgl.
 
hiezu auch Rumo-Jungo, a.a.O., S. 1581/1582). Ferner besteht auch keine Dringlichkeit, bei der eine Anhörung im Verfahren der vorsorglichen Massnahmen allenfalls unterbleiben könnte (Rumo-Jungo, a.a.O., S. 1587 Anm. 129).
 
d) Verstösst mithin das Beiurteil des Bezirksgerichtsausschusses in krasser Weise gegen Art. 144 ZGB, so ist es als willkürlich aufzuheben (Art. 9 BV).
 
5.- Damit kann offen bleiben, ob der Beizug eines Berichtes oder eines Gutachtens zur Frage der Zuteilung der Obhut in verfassungswidriger Weise abgelehnt worden ist; ob eines dieser Beweismittel einzuholen ist, wird der Bezirksgerichtsausschuss nach Anhörung der Kinder neu zu entscheiden haben. Entsprechendes gilt für die anderen im Massnahmeverfahren zwischen den Parteien strittigen Fragen, da deren Beantwortung von der Regelung der Obhut über die Kinder abhängt.
 
6.- Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.-Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Beiurteil des Bezirksgerichtsausschusses Unterlandquart vom 3. Mai 2000 aufgehoben.
 
2.-Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.-Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.
 
4.-Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgerichtsausschuss Unterlandquart schriftlich mitgeteilt.
 
_____________
 
Lausanne, 19. Oktober 2000
 
Im Namen der II. Zivilabteilung
 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
 
Der Präsident:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).