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Informationen zum Dokument  BGer I 342/2000  Materielle Begründung
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BGer I 342/2000 vom 12.02.2001
 
«AZA 7»
 
I 342/00 Vr
 
IV. Kammer
 
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Fessler
 
Urteil vom 12. Februar 2001
 
in Sachen
 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
M.________, 1981, Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater, und dieser vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno F. Bitzi, Zeughausgasse 9, Zug,
 
und
 
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug
 
A.- Beim 1981 geborenen M.________ besteht eine von der Invalidenversicherung als Geburtsgebrechen anerkannte Ohratresie rechts sowie eine Myopie. Eine optische Korrektur der Kurzsichtigkeit ist nur mit Kontaktlinsen möglich, da wegen des Ohrenleidens ein Brillenbügel keinen Halt findet. Der operative Aufbau einer Ohr(muschel)Plastik ist wegen der Abstossungsreaktion des Implantates bisher gescheitert. Am 4. Dezember 1998 ersuchte der Vater von M.________ die Invalidenversicherung um Übernahme der Kosten der Kontaktlinsen. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle Zug das Begehren mit Verfügung vom 4. Januar 1999 ab.
 
B.- Die vom Vater namens seines Sohnes hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 1. Mai 2000 in dem Sinne gut, dass es die Leistungspflicht der Invalidenversicherung im Umfang der durch das Tragen von Kontaktlinsen verursachten Mehrkosten im Vergleich zur Versorgung mit einer Brille bejahte und die Sache zur Bestimmung dieses Betrages und Neuentscheidung an die IV-Stelle zurückwies.
 
C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben.
 
Das kantonale Verwaltungsgericht beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, desgleichen der von seinem Vater und dieser durch Rechtsanwalt Dr. Bitzi vertretene M.________. Die IV-Stelle hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG hat der Versicherte (im Rahmen der im Anhang zur Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung [HVI] enthaltenen Liste) Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in seinem Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf (Satz 1). Kosten für Zahnprothesen, Brillen und Schuheinlagen werden nur übernommen, wenn diese Hilfsmittel eine wesentliche Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen (im Sinne der Art. 12 oder 13 IVG) bilden (Satz 2).
 
Nach Ziff. 7 HVI Anhang gelten Brillen als Hilfsmittel, sofern sie eine wesentliche Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen darstellen (7.01*). Kontaktlinsen können abgegeben werden, sofern sie notwendigerweise anstelle von Brillen treten und eine wesentliche Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen darstellen (7.02*).
 
2.- Es steht fest und ist unbestritten, dass bisher beim Beschwerdeführer keine medizinischen Eingliederungsmassnahmen (an den Augen) im Sinne der Art. 12 oder 13 IVG durchgeführt worden sind und insofern die Voraussetzungen für die Zusprechung von Kontaktlinsen als Hilfsmittel gestützt auf Ziff. 7.02* HVI Anhang nicht erfüllt sind. Trotzdem besteht nach Auffassung des kantonalen Gerichts eine (masslich beschränkte) Leistungspflicht der Invalidenversicherung für die zur Korrektur der Kurzsichtigkeit notwendigen Kontaktlinsen. Es bestehe, so die Vorinstanz, insofern eine echte Lücke im Gesetz und den dazugehörigen Vollziehungsverordnungen, als die Anspruchsberechtigung von Versicherten nicht geregelt werde, die wegen eines Geburtsgebrechens Hilfsmittel benötigten, auf die sie gemäss Art. 21 IVG und der Hilfsmittelverordnung eigentlich keinen Anspruch hätten (hier mangels einer medizinischen Eingliederungsmassnahme an den Augen). Diese Lücke sei unter Rückgriff auf die ratio legis der Art. 12 f. IVG zu füllen. Gegenstand der medizinischen Massnahmen im Sinne dieser Bestimmungen seien u.a. die Geburtsgebrechen und die in ihren Symptomenkreis fallenden Folgeleiden und Begleiterscheinungen. Die Unmöglichkeit, wegen der fehlenden Ohrmuschel rechts eine Brille zu tragen, sei Folge der Atresia auris congenita, eines Geburtsgebrechens also, sodass die Invalidenversicherung für die dadurch entstehenden Mehrkosten der Korrektur der Kurzsichtigkeit durch Kontaktlinsen aufzukommen habe.
 
Demgegenüber verneint das Verwaltungsgerichtsbeschwerde führende Bundesamt das Vorliegen einer vom Gericht zu füllenden echten Lücke. Vielmehr soll offensichtlich nach dem gesetzgeberischen Willen Anspruch auf Abgabe von Kontaktlinsen lediglich im Rahmen des Hilfsmittelrechts (Art. 21 IVG samt Hilfsmittelverordnung und dazugehörigem Anhang) bestehen. Im Sinne der Vorinstanz in Fällen wie dem vorliegenden einen Anspruch auf Übernahme der Mehrkosten, welche die Korrektur mit Kontaktlinsen verursache, zu bejahen, käme auch einer Benachteiligung all jener Versicherten gleich, die wegen eines Augenleidens, u.a. Refraktionsanomalien, ebenfalls Kontaktlinsen benötigen, die gesamten Kosten hiefür wegen fehlendem Geburtsgebrechen aber selber bezahlen müssten. Im Übrigen sei beim Versicherten eine Aufbauplastik der Ohrmuschel vorgesehen, nach deren Abschluss das Tragen einer Brille (wieder) möglich sei.
 
3.- a) Es ist zu Recht unbestritten, dass sich für den von der Vorinstanz bejahten Anspruch keine Grundlage in Art. 21 IVG und der HVI finden lässt. Kommt den Kontaktlinsen, soweit sie als Folge der fehlenden Brillentragfähigkeit notwendig sind, kein Hilfsmittelcharakter zu, stellt sich die Frage der Leistungspflicht der Invalidenversicherung unter dem Titel medizinische Massnahmen (Art. 12 f. IVG; vgl. BGE 115 V 194 Erw. 2d, 101 V 269 Erw. 1b und 2a). Dabei kann es, wie auch die Vorinstanz richtig erkannt hat, in masslicher Hinsicht nur um die Übernahme der Mehrkosten gehen, welche dem Beschwerdegegner daraus entstehen, dass er an Stelle einer aus optischer Sicht an sich genügenden Brille Kontaktlinsen tragen muss.
 
b) aa) Kontaktlinsen lassen sich ungeachtet von Funktion und Wirkung, welche ihnen im Einzelfall zukommt, nicht unter die in Art. 2 Abs. 1 (erster Satz) IVV genannten Massnahmen («chirurgische, physiotherapeutische und psychotherapeutische Vorkehren, die eine [...] Beeinträchtigung der Körperbewegung, der Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit zu beheben oder zu mildern trachten») subsumieren.
 
bb) Wird bei Versicherten, die mit einem Augenleiden behaftet sind und mit einer Brille an sich optimal versorgt sind oder wären, das Sehorgan als aus Auge und Brillengläser zusammengesetzt gedacht und rechtlich verstanden, stellt das Fehlen einer Brille einen Defekt der Sinneswahrnehmung dar. So gesehen lässt sich die Anpassung von Kontaktlinsen mit einem Eingriff zur Behebung dieser Störung vergleichen, wenn, soweit und solange der Aufbau einer Ohr(muschel)Plastik aus medizinischen Gründen ausser Betracht fällt. Unter diesen Bedingungen kann von einer Massnahme gesprochen werden, welche den Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstrebt.
 
c) Nach dem Gesagten besteht unter den Umständen des vorliegenden Falles Anspruch auf die Abgabe von Kontaktlinsen (Übernahme der Mehrkosten), soweit sie als Folge der gesundheitlich bedingten Unmöglichkeit, eine Brille zu tragen, notwendig sind.
 
4.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).
 
Dem Prozessausgang entsprechend hat der Beschwerdegegner Anspruch auf eine u.a. nach dem Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG, Art. 160 OG und Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht je in Verbindung Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der
 
Erwägungen abgewiesen.
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Beschwer-
 
degegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
 
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von
 
Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezah-
 
len.
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungs-
 
gericht des Kantons Zug und der IV-Stelle Zug zuge-
 
stellt.
 
Luzern, 12. Februar 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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