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Informationen zum Dokument  BGer I 511/2000  Materielle Begründung
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BGer I 511/2000 vom 22.02.2001
 
«AZA 7»
 
I 511/00 Vr
 
IV. Kammer
 
Bundesrichter Borella, Rüedi und nebenamtlicher Richter Soldini; Gerichtsschreiber Signorell
 
Urteil vom 22. Februar 2001
 
in Sachen
 
H.________, 1944, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marco Del Fabro, Limmatquai 3, Zürich,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, Zürich, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
A.- Die 1944 geborene H.________ verletzte sich im Juni 1990 bei einem Sturz und war im April 1993 in Verkehrsunfälle verwickelt. Nach Verlust der Arbeitsstelle als Hilfsbuchhalterin am 30. April 1993, meldete sie sich am 4. April 1995 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Im Rahmen des Abklärungsverfahrens wurden die medizinischen Akten der beteiligten Unfallversicherer beigezogen sowie eigene medizinische und erwerbliche Abklärungen durchgeführt. Mit drei Verfügungen vom 18. August 1998 sprach die IV-Stelle des Kantons Zürich der Versicherten für die Zeit vom 1. April 1994 bis zum 30. November 1995 und ab 1. Juli 1996 eine halbe Invalidenrente zu.
 
B.- Mit Entscheid vom 29. Juni 2000 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich eine gegen diese Verfügungen erhobene Beschwerde teilweise gut und stellte fest, dass H.________ auch für die Zeit vom 1. Dezember 1995 bis zum 30. September 1996 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente und ab 1. Oktober 1996 auf eine ganze Invalidenrente habe.
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt H.________ die Aufhebung des kantonalen Entscheides und die Zusprechung einer ganzen Rente mit Wirkung ab ab 1. April 1994 beantragen. Ferner ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) lässt sich nicht vernehmen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- a) Die Vorinstanz hat die massgebenden Bestimmungen über die Invalidität (Art. 4 und 5 IVG) und die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen (Art. 28 IVV), nicht erwerbstätigen (Art. 27 IVV) und teilweise erwerbstätigen (Art. 27bis IVV) Versicherten zutreffend dargestellt. Darauf wird verwiesen.
 
b) Nach Art. 27bis Abs. 1 IVV wird bei einem Versicherten, der nur zum Teil erwerbstätig ist, für diesen Teil die Invalidität nach Art. 28 Abs. 2 IVG festgelegt. War er daneben in einem Aufgabenbereich nach Art. 5 Abs. 1 IVG tätig, so wird die Invalidität für diese Tätigkeit nach Art. 27 IVV festgelegt. In diesem Falle ist der Anteil der Erwerbstätigkeit und der Tätigkeit im andern Aufgabenbereich festzulegen und der Invaliditätsgrad entsprechend der Behinderung in beiden Bereichen zu bemessen (gemischte Methode der Invaliditätsbemessung). Demnach ist einerseits die Invalidität im Aufgabenbereich gemäss Art. 5 Abs. 1 IVG nach dem Betätigungsvergleich (Art. 27 IVV) und anderseits die Invalidität im erwerblichen Teil nach dem Einkommensvergleich (Art. 28 IVG) zu ermitteln und danach die Gesamtinvalidität nach Massgabe der zeitlichen Beanspruchung in den genannten beiden Bereichen zu berechnen. Der Anteil der Erwerbstätigkeit ergibt sich aus dem Vergleich der im betreffenden Beruf üblichen Arbeitszeit und der von der versicherten Person ohne Invalidität geleisteten Arbeitszeit, der Anteil am andern Aufgabenbereich aus deren Differenz (vgl. BGE 104 V 136 Erw. 2a und ZAK 1992 S. 128 Erw. 1b).
 
2.- a) Unbestritten ist, dass im vorliegenden Fall der Invaliditätsgrad nach den Regeln der gemischten Methode zu ermitteln ist. Die Vorinstanz beziffert den Anteil der Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung der familiären Verhältnisse (Wegfall der letzten Kinderrente per 30. Juli 1996; Wunsch nach vermehrter, allenfalls gar ganztägiger ausserhäuslicher Arbeit) und der Gegebenheiten am Arbeitsplatz (früher gemachte Angebote auf Ausdehnung des Arbeitspensums) für die Zeit vom 1. April 1994 bis zum 30. Juni 1996 auf 50 % und ab dem 1. Juli 1996 auf 75 %. Diese Gewichtung ist nicht bestritten.
 
b) Das kantonale Gericht erwog, dass auf Grund der medizinischen Befunde für den erwerblichen Bereich eine andauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen sei. Denn übereinstimmend gingen die Ärzte davon aus, dass der Gesundheitsschaden stationär sei und eine Therapieresistenz bestehe. Für den häuslichen Tätigkeitsbereich hätten die Abklärungen eine invaliditätsbedingte Einschränkung von 15 % ergeben. Gewichtet nach der Aufteilung der beiden Bereiche ergebe sich damit für die Zeit vom 1. April 1994 bis zum 30. Juni 1996 ein Invaliditätsgrad von 57,5 % ([0,5 x 100] + [0,5 X 15]), ab 1. Juli 1996 ein solcher von 78,75 % ([0,75 X 100] + [0,25 X 15]).
 
3.- a) Streitig ist die invaliditätsbedingte Einschränkung im häuslichen Tätigkeitsbereich für einzelne Teilbereiche. Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz vor, sich einseitig auf den Bericht vom 30. April 1997 des Abklärungsdienstes der IV-Stelle abgestützt und dem ärztlichen Zeugnis vom 19. September 1998 von Dr. med. S.________, der auch in Bezug auf die Haushaltsarbeiten eine erhebliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit bescheinige, unberücksichtigt gelassen zu haben. Diese Beweiswürdigung sei nicht statthaft, denn beim Bericht des (verwaltungsinternen) Abklärungsdienstes handle es sich um eine blosse Parteibehauptung, weshalb dieser grundsätzlich nicht geeignet sei, für sich allein den Beweis zu erbringen. Hinzu komme, dass er unzulänglich sei für jene Bereiche, in denen sich die Schmerz- und Ausdauerproblematik, manchmal auch die Konzentrationsprobleme, bemerkbar machten. Dort seien zu günstige Einschätzungen vorgenommen worden, weil ausser Acht gelassen worden sei, dass die Beschwerdeführerin für die ihr zugemuteten Arbeiten sehr viel mehr Zeit benötige (regelmässig notwendige Unterbrechungen). Die IV-Stelle habe es unterlassen, die Angaben der Beschwerdeführerin zu hinterfragen. Deshalb sei nicht erkannt worden, dass diese von falscher Bescheidenheit und von der Gewohnheit, Schmerzen und schlechte Lebensqualität einfach zu dulden, geprägt seien. Dies alles habe zu einem falschen Bild geführt. Richtigerweise müssten die Einschränkungen in den Bereichen "Ernährung" auf 33 % und in "Wohnungspflege" sowie "Wäsche und Kleiderpflege" auf je 50 % angesetzt werden. Damit ergebe sich eine gewichtete Behinderung in der Haushaltsarbeit von 37 % und insgesamt ab dem 1. April 1994 ein Invaliditätsgrad von 68,5 % ([100 % + 37 %] : 2).
 
b) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG). Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten, sondern dessen Inhalt (BGE 122 V 160 Erw. 1c mit Hinweisen). Der Einwand der Beschwerdeführerin, der Bericht der Abklärungsstelle sei lediglich eine Parteibehauptung der Beschwerdegegnerin ist daher unbegründet.
 
c) Es ist daher zu prüfen, ob der Bericht vom 30. April 1997 des Abklärungsdienstes den Anforderungen, welchen anstalts- bzw. verwaltungsinterne Entscheidungsgrundlagen nach der Rechtsprechung zu genügen haben, erfüllt. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht namentlich im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung wiederholt festgestellt hat, sind die Versicherungsträger bis zum Erlass einer Verfügung nicht Partei, sondern ein dem Gesetzesvollzug dienendes Verwaltungsorgan. Deshalb sind auch anstaltsinterne Entscheidungsgrundlagen, welche im Administrativverfahren angeordnet wurden, beweistauglich, solange sie nicht durch konkrete Indizien erschüttert werden (RKUV 1993 Nr. U 167 S. 96 Erw. 5a mit Hinweisen). Diese Grundsätze gelten auch für die Belange der Militärversicherung (nicht publiziertes Urteil B. vom 25. Februar 1993 [M 4/92]). Die IV-Stelle hat den Sachverhalt nach Massgabe des Gesetzes festzustellen, weshalb auch für sie diese gleichen Regeln gelten.
 
Es besteht kein Anlass, an der Objektivität des Abklärungsdienstes zu zweifeln. Die Ergebnisse sind im genannten Bericht sehr sorgfältig dargestellt. Zunächst werden die konkreten Umstände (Lage und Verhältnisse im Haus, Einrichtung, technische Gerätschaft, usw.) umfassend beschrieben. Die festgestellten Einschränkungen sind einlässlich und nachvollziehbar begründet und lassen keine Widersprüche erkennen. Nicht zu übersehen ist in diesem Zusammenhang, dass die mit der Abklärung betrauten Personen ein reiches Erfahrungswissen besitzen. Die Ausführungen vom 19. September 1998 von Dr. S.________ sind demgegenüber sehr allgemein und abstrakt gehalten. Sie setzen sich auch nicht mit den Einzelheiten der ihm bekannten Beurteilungen des Abklärungsdienstes auseinander. Dieses Zeugnis konnte bei der Vorinstanz keine ernsthaften Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Berichtes des Abklärungsdienstes wecken, weshalb sie ohne weiteres auf diese verwaltungsinterne Entscheidungsgrundlage abstellen durfte.
 
d) Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, Verwaltung und Vorinstanz hätten es unterlassen zu berücksichtigen, dass sie für die Haushaltarbeiten bedeutend mehr Zeit aufwenden müsse. In diesem Zusammenhang ist auf die Pflicht zur Schadenminderung hinzuweisen.
 
Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts (BGE 123 V 233 Erw. 3c, 117 V 278 Erw. 2b, 400, je mit Hinweisen; Riemer-Kafka, Die Pflicht zur Selbstverantwortung, Freiburg 1999, S. 57, 551 und 572; Landolt, Das Zumutbarkeitsprinzip im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Diss. Zürich 1995, S. 61).
 
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts gilt dieser Grundsatz auch bei der Bestimmung der relevanten Einschränkung im häuslichen Tätigkeitsbereich. Die Versicherte muss daher im Rahmen ihrer Schadenminderungspflicht die übliche Mithilfe der anderen Familienangehörigen in Anspruch nehmen (ZAK 1984 S. 139 f. mit Hinweis). Sie lebt zusammen mit ihrem Partner und zwei volljährigen, jedoch arbeitslosen Söhnen (geb. 1974 und 1976) in einem gemeinsamen Haushalt (Hausteil). Es ist ihr grundsätzlich zumutbar, ihre Angehörigen für verschiedenartige Entlastungen heranzuziehen. Es sind dies insbesondere jene Massnahmen, die ein vernünftiger Mensch in der gleichen Lage ergriffe, wenn er keinerlei Entschädigung zu erwarten hätte. Geht es um die Mitarbeit von Familienangehörigen, ist deshalb danach zu fragen, wie sich eine vernünftige Familiengemeinschaft einrichtete, wenn keine Versicherungsleistungen zu erwarten wären. Sodann ist zu berücksichtigen, dass der Ansprecherin infolge Wegfallens der ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit mehr Zeit für die Erledigung der verbliebenen Aufgaben zur Verfügung steht. Genauso wie von einem in seinem angestammten Beruf nicht mehr einsatzfähigen Erwerbstätigen verlangt werden kann, einer andern ihr trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung noch möglichen Arbeit nachzugehen, um damit den Erwerbsausfall gering zu halten, ist es auch der Beschwerdeführerin zumutbar, das Arbeitspensum, das sie in der bisher für den Haushalt aufgewendeten Zeit nicht mehr zu bewältigen vermag, auf die früher für die ausserhäusliche Tätigkeit benötigte Zeit zu verlagern (nicht publiziertes Urteil C. vom 8. November 1993 [I 407/92]). Die Beschwerdeführerin hat, nachdem für eine ausserhäusliche Erwerbstätigkeit eine vollständige Arbeitsunfähigkeit feststeht, für die Besorgung des Haushalts nunmehr den ganzen Tag zur Verfügung. Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen eine davon abweichende Betrachtungsweise nicht zu rechtfertigen. Damit ist es ausgeschlossen, dass die Beeinträchtigung in der Haushaltführung insgesamt die behaupteten 37 % erreicht.
 
4.- Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
 
wird Rechtsanwalt Dr. Marco Del Fabro, Zürich, für das
 
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
 
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung (einschliess-
 
lich Mehrwertsteuer) von Fr. 3747.25 ausgerichtet.
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversiche-
 
rungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
 
Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 22. Februar 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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