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Informationen zum Dokument  BGer I 259/2001  Materielle Begründung
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BGer I 259/2001 vom 20.06.2001
 
[AZA 7]
 
I 259/01 Gi
 
IV. Kammer
 
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger;
 
Gerichtsschreiber Hadorn
 
Urteil vom 20. Juni 2001
 
in Sachen
 
G.________ , 1968, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Becker, Burghaldenstrasse 59, 5600 Lenzburg,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
 
Der 1968 geborene G.________ bezog seit Mai 1986 eine ganze, ausserordentliche Invalidenrente. 1996 heiratete er eine indische Staatsangehörige. In der Folge hielt er sich mehrheitlich in Indien auf. Mit Verfügung vom 7. November 2000 hob die IV-Stelle des Kantons Aargau die Zahlung der ausserordentlichen IV-Rente rückwirkend ab 1. September 1999 auf und forderte von G.________ zu Unrecht erbrachte Leistungen von insgesamt Fr. 25'862.- zurück. Gleichzeitig entzog sie einer allfälligen Beschwerde gegen diese Verfügung die aufschiebende Wirkung.
 
G.________ liess hiegegen Beschwerde führen und unter anderem die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragen. Mit Entscheid vom 20. März 2001 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. In den Erwägungen erklärte es das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung als obsolet.
 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben und beantragen, die ausserordentliche Rente sei ihm über den 1. September 1999 hinaus weiter zu gewähren. Sodann sei die aufschiebende Wirkung wieder herzustellen. Ferner ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.
 
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung, während das Bundesamt für Sozialversicherung keine Stellungnahme eingereicht hat.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- a) Nach Art. 111 Abs. 1 OG hat die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen eine Verfügung, welche zu einer Geldleistung verpflichtet, aufschiebende Wirkung. Soweit der Beschwerdeführer die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gegen die Verpflichtung zur Rückzahlung von Fr. 25'862.- verlangt, ist sein Gesuch somit gegenstandslos.
 
b) Hinsichtlich der Einstellung der ausserordentlichen Rente ab 1. September 1999 erübrigt es sich, das Gesuch um aufschiebende Wirkung zu behandeln, da unverzüglich in der Sache entschieden wird.
 
2.- Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf eine ausserordentliche Rente der Invalidenversicherung (Art. 42 AHVG, Art. 39 Abs. 1 IVG) richtig dargelegt, worauf verwiesen wird. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er wegen seines Aufenthalts in Indien diese Voraussetzungen an sich nicht mehr erfüllt.
 
Er macht jedoch geltend, es liege eine Gesetzeslücke vor.
 
Falls eine invalide Person aus zwingenden gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Schweiz leben könne, sondern sich im Ausland aufhalten müsse, wie dies bei ihm der Fall sei, führe es zu einem offensichtlich unhaltbaren Ergebnis, die ausserordentliche Rente nicht mehr zu gewähren. An derartige Situationen habe der seinerzeitige Gesetzgeber nicht gedacht, weshalb eine Lücke vorliege, welche die Gerichte auszufüllen hätten.
 
3.- Zur Rechtslage bezüglich Wohnsitz und tatsächlichem Aufenthalt in der Schweiz als Voraussetzungen für den Anspruch auf eine ausserordentliche Rente hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 111 V 182 Erw. 4 grundsätzlich Stellung genommen und Folgendes erwogen:
 
a) Neben dem zivilrechtlichen Wohnsitz sind auch der effektive Aufenthalt in der Schweiz und der Wille, diesen Aufenthalt aufrechtzuerhalten, massgebend; zusätzlich dazu muss der Schwerpunkt aller Beziehungen in der Schweiz bestehen bleiben;
 
b) der Begriff des Aufenthalts ist in objektivem Sinne zu verstehen;
 
c) das Aufenthaltsprinzip lässt die beiden Ausnahmen des voraussichtlich kurzfristigen und des voraussichtlich längerfristigen Auslandaufenthalts zu. Dabei darf es sich nur um Fälle handeln, in denen der Rentenansprecher zum vorneherein bloss eine vorübergehende und keine endgültige Ausreise aus der Schweiz beabsichtigt hat;
 
d) der Ausnahmegrund des kurzfristigen Auslandaufenthalts ist gegeben, wenn und insoweit der Auslandaufenthalt sich im Rahmen dessen bewegt, was allgemein üblich ist, bzw. er muss aus triftigen Gründen erfolgen, wie z.B. zu Besuchs-, Ferien-, Geschäfts-, Kur- oder Ausbildungszwecken, und darf ein Jahr nicht übersteigen. Die Jahresfrist darf aber nur soweit voll ausgeschöpft werden, als für diese Maximaldauer wirklich ein triftiger Grund besteht;
 
e) der Ausnahmegrund des längerfristigen Auslandaufenthalts ist gegeben:
 
aa) wenn ein grundsätzlich als kurzfristig beabsichtigter Auslandaufenthalt wegen zwingender unvorhergesehener Umstände (z.B. wegen Erkrankung oder Unfall usw.) über ein Jahr hinaus verlängert werden muss;
 
bb) wenn zum Vornherein zwingende Gründe einen voraussichtlich überjährigen Auslandaufenthalt erfordern (z.B.
 
Fürsorgemassnahmen, Ausbildung, Krankheitsbehandlung usw.).
 
4.- Vorliegend steht fest und ist nicht bestritten, dass der Beschwerdeführer seine Lebensbeziehungen (dreiköpfige Familie) nach Indien verlegt hat und aus den von ihm geltend gemachten gesundheitlichen Gründen nicht beabsichtigt, in nächster Zeit wieder in die Schweiz zurückzukehren.
 
Mangels Rückkehrabsicht kann ihm daher weder nach dem Wortlaut des Gesetzes noch im Sinne der erwähnten Rechtsprechung weiterhin eine ausserordentliche Rente gewährt werden.
 
5.- Zu prüfen bleibt der Einwand, dass die genannten Gesetzesvorschriften eine durch das Gericht zu füllende Lücke enthalten.
 
a) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 126 II 80 Erw. 6d, 126 III 104 Erw. 2c, 126 V 58 Erw. 3, 105 Erw. 3, je mit Hinweisen).
 
b) Eine Lücke des Gesetzes liegt vor, wenn sich eine gesetzliche Regelung als unvollständig erweist, weil sie auf eine bestimmte Frage keine (befriedigende) Antwort gibt. Bevor eine ausfüllungsbedürftige Lücke angenommen werden darf, ist durch Auslegung zu ermitteln, ob das Fehlen einer Anordnung nicht eine bewusst negative Antwort des Gesetzgebers, ein sog. qualifiziertes Schweigen darstellt.
 
Erst nach Verneinung dieser Frage kann von einer Lücke gesprochen werden (vgl. Häfelin/Müller, Grundriss des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. Aufl. , Zürich 1998, S. 46 Rz.
 
192 ff.). Herrschende Lehre und bundesgerichtliche Rechtsprechung unterscheiden echte und unechte Lücken (vgl. Häfelin/Müller, a.a.O., S. 46 Rz. 195 ff.; Blaise Knapp, Précis de droit administratif, 4. Aufl. , Basel/Frankfurt a.M. S. 93 Nr. 441; Ulrich Häfelin, Zur Lückenfüllung im öffentlichen Recht, in: Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Nef, Zürich 1981, S. 91 ff., alle mit Hinweisen). Während bei einer echten Lücke eine sich unvermeidlich stellende Rechtsfrage nicht beantwortet wird und das Gericht diese unter Rückgriff auf die ratio legis zu schliessen hat (BGE 125 V 11 f. Erw. 3, 124 V 307 Erw. 4c, 119 V 255 Erw. 3b, 118 V 298 Erw. 2e, je mit Hinweisen), liegt bei einer unechten Lücke eine sachlich unbefriedigende Antwort vor, deren Korrektur den rechtsanwendenden Organen grundsätzlich nicht bzw. nur unter strengen Voraussetzungen erlaubt ist (BGE 125 V 12 Erw. 3, 124 V 164 f. Erw. 4c und 275 Erw. 2a, 122 V 98 Erw. 5c und 329 Erw. 4 in fine, 121 V 176 Erw. 4d, je mit Hinweisen).
 
c) Der Wortlaut der Art. 39 Abs. 1 IVG und Art. 42 AHVG ist klar und unmissverständlich. Auf Grund dieser Bestimmungen ist die Frage, ob der Beschwerdeführer in Indien Anspruch auf eine ausserordentliche Rente hat, eindeutig zu verneinen. Demzufolge kann von einer echten Lücke nicht gesprochen werden. Allenfalls liesse sich insofern über eine unechte Lücke diskutieren, als sich fragen kann, ob diese Regelung nicht zu sachlich unbefriedigenden Antworten führt und beispielsweise ein Katalog von Ausnahmetatbeständen hätte angefügt werden sollen, in dessen Rahmen die ausserordentliche Rente selbst dann weiter gewährt werden könnte, wenn die leistungsansprechende Person die Voraussetzungen dazu an sich nicht mehr erfüllt. Diese Frage ist jedoch zu verneinen. Nach Art. 76 Abs. 1 IVG können bedürftigen invaliden Schweizern im Ausland, die der freiwilligen Versicherung beigetreten sind, aber für die bestehende Invalidität keine Rente oder für eine Hilflosigkeit keine Hilflosenentschädigung erhalten, Fürsorgebeiträge gewährt werden. Damit hat also der IV-Gesetzgeber für bestimmte, im Ausland benachteiligte Schweizer eine finanzielle Ersatzlösung vorgesehen. Sollten die versicherungsmässigen Voraussetzungen nach dieser Bestimmung (rechtzeitiger Beitritt zur freiwilligen Versicherung) nicht erfüllt sein, sieht das Bundesgesetz über die Fürsorgebeiträge an Auslandschweizer vom 21. März 1973 (SR 852. 1) unabhängig davon ebenfalls Fürsorgeleistungen an bedürftige Auslandschweizer vor. Demnach bestehen für Auslandschweizer in der Lage des Beschwerdeführers durchaus Möglichkeiten, im Ausland weiterhin in der einen oder anderen Form Unterstützung von der Schweiz zu erhalten. Deshalb besteht kein Anlass zu einer richterlichen Lückenfüllung bei Art. 39 Abs. 1 IVG bzw. Art. 42 AHVG.
 
6.- Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen (BGE 125 V 202 Erw. 4a mit Hinweisen) erfüllt sind. Der Beschwerdeführer wird jedoch auf Art. 152 Abs. 3 OG hingewiesen, wonach er dem Gericht Ersatz zu leisten haben wird, falls er dereinst hiezu imstande sein sollte.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt lic. iur. Matthias Becker, Lenzburg, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
 
aus der Gerichtskasse eine Parteientschädigung
 
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
 
ausgerichtet.
 
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung
 
zugestellt.
 
Luzern, 20. Juni 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
i.V.
 
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