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Informationen zum Dokument  BGer I 29/2001  Materielle Begründung
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BGer I 29/2001 vom 21.06.2001
 
[AZA 7]
 
I 29/01 Vr
 
IV. Kammer
 
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger;
 
Gerichtsschreiber Renggli
 
Urteil vom 21. Juni 2001
 
in Sachen
 
F.________, 1964, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Karin Caviezel, Belmontstrasse 1, 7000 Chur,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur
 
A.- F.________, geboren 1964, hat nach der Primar- und Realschule den Fähigkeitsausweis für Landwirte erworben und betreibt seit dem 31. März 1994 als Selbstständigerwerbender zusammen mit den Eltern seinen Bauernhof.
 
Am 17. Juni 1997 meldete er sich bei der IV-Stelle des Kantons Graubünden wegen Rückenbeschwerden zum Leistungsbezug an (Hilfsmittel). Die IV-Stelle gewährte mit Verfügung von 8. Mai 1998 eine Kapitalhilfe von Fr. 28'000.- in Form eines selbstamortisierenden Darlehens zur Finanzierung von invaliditätsbedingt notwendigen Investitionen (Dosiergerät für Heu, spezieller Traktorsitz).
 
Am 4. März 1999 meldete sich F.________ wegen Rückenschmerzen erneut bei der IV-Stelle zum Leistungsbezug an (Berufsberatung und Hilfsmittel). Die medizinischen Abklärungen ergaben eine Arbeitsunfähigkeit von 50 bis 100 %, phasenweise wechselnd, für die Zeit von Februar 1998 bis Januar 1999 und von 50 bis 60 % ab Februar 1999 (Arztberichte von Dr. med. U.________ vom 15. März, vom April und vom 22. Juni 1999). Ausserdem erachtete der Arzt eine Umstrukturierung auf dem Hof als angezeigt; rückenbelastende Arbeiten sollten eliminiert werden. Der IV-Berufsberater hielt in seinem Bericht vom 8. Juli 1999 fest, dass eine Umschulung als nicht sinnvoll zu betrachten sei. F.________ seinerseits wünsche ebenfalls keine Umschulung, sondern die behinderungsangepasste Weiterführung des Betriebes und die Prüfung der Rentenfrage. Daraufhin wurden die Verhältnisse durch den landwirtschaftlichen Beratungsdienst Graubünden abgeklärt. Im Abklärungsbericht für Landwirte vom 18. Oktober 1999 wird auf Grund eines Beschäftigungsvergleiches eine Arbeitsfähigkeit von 87,43 % (recte: 84,43 %) angegeben. Des Weiteren stellte die Abklärungsperson fest, dass F.________ mit Hilfe von Maschinen sämtliche Arbeiten ohne ersichtliche Einschränkung tätigen könne, dass er praktisch alle Reparaturen an seinen Geräten selber durchführe und dass er Arbeiten erledigen könne, die sicher eines gesunden Rückens bedürften. Die von F.________ in Erwägung gezogene Umstellung auf Mutterkuhhaltung stellte sie in Frage und empfahl stattdessen eine Umstellung auf Schafhaltung. In seiner Stellungnahme vom 18. Mai 2000 zum Schreiben der IV-Stelle vom 8. Mai 2000 gab F.________ an, er habe sich für die Umstellung auf Mutterkuhhaltung entschieden, weshalb er keinen Melkstand und keine Entmistungsanlage mehr benötige. Zur vorgeschlagenen Umstellung auf Schafhaltung äusserte er sich abschlägig, da dies zahlreiche Arbeiten mit sich bringe, die er wegen seines Leidens nicht ausführen könne. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle das Leistungsbegehren infolge fehlender rentenbegründender Invalidität ab.
 
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher F.________ sinngemäss die Zusprechung einer Invalidenrente beantragte, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 26. Oktober 2000 ab.
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt F.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Zusprechung einer halben Invalidenrente beantragen; eventualiter sei die Sache zur richtigen und vollständigen Feststellung des Sachverhalts und zum Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Ferner lässt er um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung und um Akteneinsicht ersuchen; ausserdem sei ihm eine Nachfrist zur weiteren Begründung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anzusetzen.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherung lässt sich nicht vernehmen.
 
D.- Nach Abschluss des Schriftenwechsels hat F.________ beantragen lassen, es seien ihm die von der Verwaltung eingereichten Akten zur Einsichtnahme zu überlassen und es sei ein zweiter Schriftenwechsel durchzuführen. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat der Rechtsvertreterin von F.________ daraufhin die Akten zur Einsichtnahme zugestellt.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Nicht stattzugeben ist dem formellen Begehren, es sei eine Nachfrist zur Ergänzung der Beschwerdebegründung anzusetzen. Der Beschwerdeführer hat während der gesetzlichen Rechtsmittelfrist Gelegenheit gehabt, seine Einwände gegen den angefochtenen Entscheid darzulegen. Anspruch auf eine Ergänzung der Beschwerdeschrift nach Ablauf der Rechtsmittelfrist besteht nicht. Nachdem sich in der Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin keine Argumente finden, die nicht schon bekannt gewesen wären oder mit welchen der Beschwerdeführer nicht zu rechnen hatte, ist auch kein zweiter Schriftenwechsel durchzuführen (BGE 119 V 323 Erw. 1).
 
2.- Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente.
 
3.- Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), die Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) sowie die Grundsätze über die Invaliditätsbemessung nach dem ausserordentlichen Bemessungsverfahren des erwerblich gewichteten Betätigungsvergleiches (in Anlehnung an die spezifische Methode für Nichterwerbstätige nach Art. 27 IVV) zutreffend dargelegt, sodass darauf verwiesen werden kann. Ergänzend ist zu erwähnen, dass die Voraussetzungen dazu nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes gerade bei Landwirten gegeben sein können (BGE 104 V 137 Erw. 2c).
 
4.- a) Wie die Vorinstanz richtig festgehalten hat, kann das landwirtschaftliche Einkommen - wie andere selbstständigerwerbend erzielte Einkommen - von zahlreichen Komponenten beeinflusst werden und auch auf Grund invaliditätsfremder Gesichtspunkte erheblichen Schwankungen unterliegen, weshalb die Steuerunterlagen keine taugliche Grundlage für die Ermittlung des Validen- und Invalideneinkommens und des Einflusses der behinderungsbedingten Verringerung der Leistungsfähigkeit auf das Einkommen bilden. Die Erträge des Bauernbetriebes des Beschwerdeführers sind zudem nur teilweise durch ihn selbst erarbeitet worden, zum anderen Teil gehen sie auf die beträchtliche Mitarbeit der Eltern zurück. Würde ein Einkommensvergleich durchgeführt, müssten diese Anteile ausgeschieden werden (Art. 25 Abs. 2 IVV). Nach Ansicht der Vorinstanz ist deren Wert nicht ermittelbar.
 
Auch wenn dem nicht ohne weiteres beigepflichtet werden kann, bleibt richtig, dass diese Sachlage die Durchführung eines Einkommensvergleiches zusätzlich erschweren würde. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers haben Verwaltung und Vorinstanz deshalb für die Bestimmung des Invaliditätsgrades zu Recht das ausserordentliche Verfahren angewendet.
 
b) Auf eine erwerbliche Gewichtung der festgestellten Behinderung bei den verschiedenen Tätigkeiten kann ausnahmsweise verzichtet werden, weil im kleinen, überschaubaren Familienbetrieb des Beschwerdeführers sämtliche vorkommenden Arbeiten in gleicher Weise zur Einkommensschöpfung beitragen und daher ohnehin alle gleich zu gewichten wären.
 
c) Da nach dem Gesagten der Invaliditätsgrad nicht auf Grund eines Einkommensvergleiches ermittelt werden kann, erübrigt sich die vom Versicherten verlangte Durchführung einer Betriebsanalyse zwecks Ausscheidung der Elternmitarbeit.
 
5.- a) Der Beschwerdeführer fordert für den Fall, dass nicht die allgemeine Methode des Einkommensvergleiches zur Anwendung kommen soll, die Erstellung eines neuen Abklärungsberichtes.
 
Auf den vorliegenden Bericht vom 18. Oktober 1999, der u.a. einen Betätigungsvergleich enthält, könne bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades nicht abgestellt werden. Den Einwendungen des Versicherten gegen den Bericht hält die Beschwerdegegnerin in ihrer letztinstanzlich eingereichten Vernehmlassung entgegen, der Bericht gründe sich auf eine Abklärung vor Ort; die angefochtene Verfügung stütze sich mithin auf seriöse Untersuchungen.
 
Dem kann nicht vollumfänglich zugestimmt werden. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gerügt, der Bericht sei von der Abklärungsperson, die in derselben Gemeinde wie der Beschwerdeführer wohnhaft ist, ohne Mitwirkung des Versicherten erstellt worden. Diesem Vorwurf ist bisher nicht widersprochen worden. Sollte er zutreffen, wäre ein solches Vorgehen unzulässig (BGE 99 Ia 46 Erw. 3b) und zudem nicht geeignet, die zu klärenden Fragen umfassend zu beantworten.
 
Gerade im Hinblick auf die Mitarbeit der Eltern ist eine genaue Abklärung des Pflichtenhefts des Versicherten erforderlich.
 
Als Validenbetätigung gilt diejenige, die der Beschwerdeführer ohne Gesundheitsschaden ausüben würde. Aus dem vorliegenden Bericht wird nicht ersichtlich, ob die Abklärungsperson die nach Eintritt des Gesundheitsschadens tätsächlich praktizierte Arbeitsteilung zwischen Sohn und Eltern zum Ausgangspunkt genommen hat und innerhalb dieses Rahmens die Einschränkung in den einzelnen Tätigkeitsbereichen geschätzt hat, oder ob sie, wie erforderlich, von der anzunehmenden Arbeitsteilung zwischen den Generationen, wie sie ohne Gesundheitsschaden gelebt würde, ausgegangen ist. Die Richtigkeit der Schlussfolgerung ist daher nicht überprüfbar.
 
b) Indem die Abklärungsperson in ihrem Bericht davon ausgeht, der Beschwerdeführer könne Arbeiten verrichten, die sicher eines gesunden Rückens bedürfen, weicht sie von der unbestritten gebliebenen ärztlichen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit (zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung: BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen) ab. Ihre Beurteilungen beruhen auf unzutreffender Grundlage, und es kann deshalb nicht auf sie abgestellt werden. Die Beschäftigung mit und ohne Gesundheitsschaden ist daher neu zu erheben.
 
6.- Auf Grund der in der Sozialversicherung generell geltenden Schadenminderungspflicht (vgl. BGE 117 V 278 Erw. 2b mit Hinweisen) obliegt es dem Versicherten, alles Zumutbare zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit beizutragen.
 
Zudem hat er die Mithilfe von Familienangehörigen in üblichem Mass in Anspruch zu nehmen. Dabei ist sowohl die gebotene Solidarität innerhalb der Familie (ZAK 1984 S. 140, bestätigt im unveröffentlichten Entscheid C. vom 8. November 1993, I 407/92, Erw. 2b) als auch der Umstand, dass die Eltern inzwischen im Pensionsalter stehen, was das Mass der erwartbaren Mithilfe verringert, zu beachten. In Zusammenhang mit der Schadenminderungspflicht wurde verschiedentlich diskutiert, ob der Beschwerdeführer durch betriebliche Umstellungen die Erwerbsfähigkeit verbessern könnte. Auch diesbezüglich kann wegen Widersprüchlichkeit auf die Feststellungen der Abklärungsperson nicht abgestellt werden. Einerseits verneint sie in Ziffer 11.2 des Berichtes die erwähnte Frage, andererseits hält sie eine Umstellung auf Schafhaltung für sinnvoller als die inzwischen verwirklichte Umstellung auf Mutterkuhhaltung. Auf die vom Beschwerdeführer in seinem Schreiben vom 18. Mai 2000 erhobenen Einwände gegen eine Umstellung auf Schafhaltung wegen gesundheitsbedingter Schwierigkeiten, die er gerade bei dieser Tätigkeit erwartet, ist im ganzen Verfahren nicht eingegangen worden.
 
Die Beschwerdegegnerin wird im Rahmen der erneuten Durchführung eines Beschäftigungsvergleiches deshalb auch zu prüfen haben, ob dem Beschwerdeführer eine betriebliche Umstellung zuzumuten ist. Dabei wird sowohl die Eignung einer anderen Betriebsstruktur in gesundheitlicher Hinsicht als auch die Frage, ob eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit erreicht werden kann, zu prüfen sein. Letzteres wird zu verneinen sein, wenn die ins Auge gefasste alternative Betriebsstruktur weniger rentabel ist. Gegebenenfalls wird die IV-Stelle zur Abklärung weitere medizinische und betriebsbezogene Berichte einholen müssen.
 
7.- Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit erweist sich sein Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
 
werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts
 
des Kantons Graubünden vom 26. Oktober 2000 und die
 
Verwaltungsverfügung vom 8. Juni 2000 aufgehoben, und
 
es wird die Sache an die IV-Stelle des Kantons Graubünden
 
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung
 
im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch
 
des Beschwerdeführers neu verfüge.
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von
 
Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung
 
zugestellt.
 
Luzern, 21. Juni 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
i.V.
 
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