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Informationen zum Dokument  BGer I 454/1999  Materielle Begründung
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BGer I 454/1999 vom 22.06.2001
 
[AZA 7]
 
I 454/99 Vr
 
III. Kammer
 
Bundesrichter Schön, Spira und Ursprung; Gerichtsschreiber
 
Krähenbühl
 
Urteil vom 22. Juni 2001
 
in Sachen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
G.________, 1972, Beschwerdegegner, vertreten durch den Verband X.________,
 
und
 
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden
 
A.- Der 1972 geborene G.________ trat nach der obligatorischen Schulzeit in die Kantonsschule in Y.________ über, musste die Mittelschulausbildung jedoch ein halbes Jahr vor der Maturitätsprüfung wegen Drogenmissbrauchs abbrechen. In den folgenden Jahren arbeitete er mit Unterbrüchen an verschiedenen Hilfsarbeiterstellen, etwa in einer Metallbauschlosserei und in einer Käserei. Nachdem er schon als Vierzehnjähriger begonnen hatte, Alkohol und Haschisch zu konsumieren, und seit dem 17. Lebensjahr auch Heroin zu sich nahm, trat er im August 1992 zu einem stationären Entzug in die Psychiatrische Klinik Z.________ ein. Von dort entwich er jedoch schon nach kurzer Zeit, wurde darauf straffällig und musste eine über zwei Jahre dauernde Freiheitsstrafe verbüssen. Anschliessend war er längere Zeit arbeitslos und bezog Taggelder der Arbeitslosenversicherung sowie Fürsorgeleistungen. Auch nach einem behördlich angeordneten erneuten Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik Z.________ ging er keiner geregelten Arbeit nach. Er liess sich Ladendiebstähle zuschulden kommen und wurde schliesslich am 10. Juni 1996 im Sinne eines fürsorgerischen Freiheitsentzugs wiederum in die Psychiatrische Klinik Z.________ eingewiesen. Im Herbst 1996 wechselte er in die Therapeutische Wohngemeinschaft A.________. Im Rahmen der dortigen Therapie kristallisierte sich allmählich der Wunsch heraus, die Maturitätsprüfung nachzuholen und allenfalls Mittelschullehrer zu werden.
 
Am 13. Juni 1997 meldete sich G.________ mit dem Begehren um berufliche Eingliederungsmassnahmen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf einen Bericht des Dr. med. K.________ von der Psychiatrischen Klinik Z.________ vom 18. Juli 1997 gelangte die IV- Stelle des Kantons Thurgau indessen zum Schluss, es liege kein invalidisierendes Leiden mit Krankheitswert vor, sodass kein Leistungsanspruch bestehe. Dies eröffnete sie dem Versicherten mit Vorbescheid vom 19. August 1997. Nach Prüfung einer Eingabe des Psychiaters Dr. med. M.________ vom 28. Oktober 1997, welcher eine Stellungnahme der Diplompsychologin J.________ von der Wohngemeinschaft A.________ beilag, hielt sie gestützt auf eine zusätzlich eingeholte Expertise des Dr. med. K.________ vom 25. August 1998 an ihrem Standpunkt fest und lehnte das Leistungsbegehren am 3. November 1998 verfügungsweise ab.
 
B.- Die hiegegen erhobene, mit einem Bericht des Psychiaters Dr. med. W.________ vom 26. Juni 1997 untermauerte Beschwerde hiess die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 10. Juni 1999 in dem Sinne gut, dass sie die Sache unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsverfügung an die IV-Stelle zurückwies, damit diese, nach Abklärung der in Frage kommenden beruflichen
 
Vorkehren, über den Leistungsanspruch neu verfüge.
 
C.- Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheids und
 
Bestätigung ihrer ablehnenden Verfügung vom 3. November 1998.
 
G.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Die kantonale Rekurskommission hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über die beruflichen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (Art. 8 Abs. 1 und 3 lit. b IVG), insbesondere über die erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 Abs. 1 und 2 lit. b IVG; Art. 5 Abs. 1 IVV) und die Umschulung (Art. 17 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 6 IVV) zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird. Dasselbe gilt hinsichtlich des Invaliditätsbegriffs (Art. 4 Abs. 1 IVG) und der nach der Rechtsprechung bei der Prüfung geistiger Gesundheitsschäden auf ihren allfälligen invalidisierenden Charakter hin zu beachtenden Grundsätze (BGE 102 V 165; SVR 2001 IV Nr. 3 S. 7 Erw. 2b; AHI 2000 S. 151 Erw. 2a mit Hinweisen). Letztere finden unter anderm auch bei Rauschgiftsucht Anwendung (ZAK 1992 S. 171 Erw. 2a mit Hinweisen). Richtig sind weiter die Ausführungen über die bei der invalidenversicherungsrechtlichen Beurteilung der Anspruchsrelevanz leistungsbeeinträchtigender Defizite bei Suchtkrankheiten bestehenden Besonderheiten (BGE 99 V 28 Erw. 2; SVR 2001 IV Nr. 3 S. 7 Erw. 2b mit Hinweisen).
 
2.- Für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens ausschlaggebend ist, ob das Leistungsvermögen des Beschwerdegegners zufolge eines Gesundheitsschadens mit Krankheitswert beeinträchtigt ist.
 
a) Wie die Vorinstanz festgehalten hat, kann dies nach der Rechtsprechung nur angenommen werden, wenn die Drogensucht ihrerseits eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger Gesundheitsschaden eingetreten ist, oder aber wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens ist, welchem Krankheitswert zukommt (BGE 99 V 28 Erw. 2; SVR 2001 IV Nr. 3 S. 7 Erw. 2b mit Hinweisen).
 
b) Angesichts der in Art. 4 Abs. 1 IVG enthaltenen Umschreibung der Invalidität als eine durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit kann die Drogensucht an sich, d.h. die ärztliche Diagnose einer Drogensucht, noch keine Invalidität im Sinne des Gesetzes begründen. Abgesehen davon, dass die Begriffe der Drogensucht und der Drogenabhängigkeit in der Medizin nicht einheitlich verwendet werden (vgl. MSD-Manual der Diagnostik und Therapie, 5. Aufl. , München 1993, S. 2979) und es an einer allgemein verbindlichen Definition fehlt, lässt die Diagnose einer Drogensucht oder -abhängigkeit nicht schon darauf schliessen, dass der versicherten Person eine Drogenabstinenz nicht mehr möglich wäre; ebenso wenig ist Drogenabhängigkeit notwendigerweise mit Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit verbunden. Vor diesem Hintergrund stellt die langjährige Rechtsprechung, welche Drogensucht nur in Zusammenhang mit den in Art. 4 Abs. 1 IVG genannten Faktoren als invalidisierend erklärt, lediglich eine Konkretisierung des Invaliditätsbegriffs dar. Es handelt sich mithin nicht um eine die generellen Invaliditätsvoraussetzungen einschränkende, sondern um eine diese verdeutlichende Rechtsprechung (SVR 2001 IV Nr. 3 S. 7 Erw. 4b).
 
3.- a) Die kantonale Rekurskommission hat aus den Stellungnahmen der Psychiater Dr. med. K.________ und Dr. med. M.________ sowie dem Bericht der Psychologin J.________ den Schluss gezogen, dass infolge Opiatabhängigkeit ein erheblicher geistiger Gesundheitsschaden eingetreten und der Versicherte auch bei der beruflichen Eingliederung auf psychosoziale Unterstützung angewiesen ist. Den geistigen Gesundheitsschaden erblickt sie in einer Persönlichkeitsstörung in Form eines Amotivationssyndroms sowie in einer Wesensänderung. Offen gelassen hat die Vorinstanz die Frage, ob schon vor Beginn der Drogensucht ein invalidisierendes psychisches Leiden bestand.
 
b) Folgt man wie die Verwaltung der im Bericht des Dr. med. K.________ vom 18. Juli 1997 dargelegten Beurteilung, findet sich für die im angefochtenen kantonalen Entscheid vertretene Auffassung, wonach ein als Folge der Drogensucht eingetretener geistiger Gesundheitsschaden vorliegt, keine Stütze. Zwar spricht Dr. med. K.________ von einem drogeninduzierten Amotivationssyndrom. Dieses jedoch als geistigen Gesundheitsschaden im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu qualifizieren, lässt sich nicht rechtfertigen. Den allenfalls durch den jahrelangen Drogenmissbrauch verstärkten Motivationsschwierigkeiten des Beschwerdegegners kann ebenso wenig Krankheitswert beigemessen werden wie der von Dr. med. K.________ festgehaltenen sozialen Verwahrlosung und der nach dessen Ansicht ebenfalls auf den Drogenkonsum zurückzuführenden Entwicklungsstörung im Bereich der sozialen Reife mit der dadurch bedingten Entfremdung von der Arbeitswelt. Der Psychiater geht denn auch davon aus, dass - unter der Voraussetzung einer definitiven Bewältigung der Drogenproblematik - beim guten Ausgangspotential des Exploranden eine Leistungsfähigkeit aufgebaut werden könne. Daraus muss aber geschlossen werden, dass die psychischen Schwierigkeiten bei der bezüglich des Suchtmittelkonsums geforderten Enthaltsamkeit keine invalidisierenden Auswirkungen zeitigen würden. An diesem Ergebnis ändert nichts, dass Dr. med. K.________ die Frage nach dem Vorliegen eines invalidisierenden psychischen Leidens bejaht hat, gehört diese Qualifizierung doch trotz der von der IV-Stelle gewählten Fragestellung - wie sich aus der vorinstanzlich dargelegten invalidenversicherungsrechtlichen Bedeutung ärztlicher Stellungnahmen (BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1) ergibt - nicht zu den Aufgaben der zur Klärung sachverhaltlicher Fragen beigezogenen Fachärzte.
 
Dass, wie Dr. med. K.________ festhält, der Beschwerdegegner weder eine Ausbildung noch sonst einen Leistungsausweis vorzuzeigen hat, wirkt sich auf dessen berufliche Entwicklung zweifellos erschwerend aus. Einen Anspruch auf von der Invalidenversicherung zu finanzierende Eingliederungsmassnahmen vermag dies jedoch nicht zu begründen. Die laut Dr. med. K.________ im Rahmen der beruflichen Eingliederung wünschbare psychosoziale Unterstützung schliesslich wird für sich genommen von den Zielsetzungen der Invalidenversicherung, für welche gesetzlich umschriebene Leistungen gewährt werden können, nicht erfasst und fällt demnach nicht in deren Zuständigkeitsbereich.
 
c) Bezüglich eines als Folge der Drogensucht eingetretenen krankhaften Zustandes lässt sich auch aus dem Bericht des Dr. med. M.________ vom 28. Oktober 1997 nichts ableiten, äussert sich dieser Arzt doch praktisch ausschliesslich zu den seines Erachtens auffälligen psychischen Manifestationen des Beschwerdegegners in der 'Vordrogenzeit'. Hier erblickt er eine Persönlichkeitsstörung, auf deren Grundlage sich die Suchtkrankheit entwickelt habe und an welcher auch nach Überwindung der Drogenabhängigkeit gearbeitet werden müsse. Diese Persönlichkeitsstörung siedelt er in Bestätigung der Einschätzung der Psychologin J.________ auf Borderline-Niveau an, wobei er auch Hinweise für depressive und narzisstische Anteile gefunden habe. Die von der Verwaltung nach Eingang des Berichts des Dr. med. M.________ eingeholte gutachterliche Meinung des Dr. med. K.________ vom 25. August 1998 zeigt indessen in überzeugender Weise auf, dass kein Anlass besteht, das Abgleiten in die Drogensucht auf eine krankhafte psychische Störung mit Krankheitswert zurückzuführen. Insbesondere ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht nachgewiesen. Bei den von Dr. med. M.________ und der Psychologin J.________ beschriebenen Verhaltensweisen handelt es sich denn auch nicht um derart ungewöhnliche Auffälligkeiten, dass von einer krankhaften psychischen Konstitution gesprochen werden müsste. Die vom Versicherten gezeigten Reaktionen auf eine angeblich problematische - von Dr. med. K.________ auf Grund der von ihm erhobenen eigenanamnestischen Angaben des Versicherten jedoch völlig anders gewertete - familiäre Situation können durchaus als charakterliche Eigenheiten des Probanden verstanden werden, ohne dessen individueller Persönlichkeitsstruktur krankhafte Züge zuordnen zu müssen. Daran ändert auch der im vorinstanzlichen Verfahren beigebrachte Bericht des Dr. med. W.________ vom 26. Juni 1997 nichts, in welchem - bei narzisstisch-neurotischer Persönlichkeitsstörung - lediglich von einer pubertären Identitätskrise als Auslöser der Drogensucht die Rede ist.
 
4.- Eine die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigende und damit invalidenversicherungsrechtlich relevante geistige oder körperliche Gesundheitsstörung mit Krankheitswert, welche zur Sucht geführt hat oder als deren Folge eingetreten ist, kann demnach nicht als erstellt gelten. Die Verwaltung hat das Leistungsbegehren somit, entgegen der vorinstanzlichen Betrachtungsweise, zu Recht abgelehnt.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 10. Juni 1999 aufgehoben.
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 22. Juni 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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