VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer C 303/2000  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer C 303/2000 vom 31.07.2001
 
[AZA 7]
 
C 303/00 Vr
 
I. Kammer
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Meyer, Ferrari
 
und Ursprung; Gerichtsschreiber Flückiger
 
Urteil vom 31. Juli 2001
 
in Sachen
 
P.________, 1960, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokatin Kathrin Bichsel, Blumenrain 3, 4001 Basel,
 
gegen
 
Kantonale Amtsstelle für Arbeitslosenversicherung, Utengasse 36, 4058 Basel, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Kantonale Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung Basel-Stadt, Basel
 
A.- Der 1960 geborene P.________, italienischer Staatsangehöriger mit Niederlassungsbewilligung, bezog während einer vom 1. Januar 1997 bis 31. Dezember 1998 dauernden Rahmenfrist und später erneut vom 1. Mai bis
 
21. November 1999 Taggelder der Arbeitslosenversicherung.
 
Nachdem die Öffentliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt am 1. Oktober 1999 ersucht worden war, zuhanden der Caisse d'Allocations familiales du Haut-Rhin, Mulhouse/F, zu bestätigen, dass P.________, dessen Adresse mit Rue Y.________ in Mulhouse angegeben wurde, für seinen 1995 geborenen Sohn G.________ Kinderzulagen bezogen habe, stellte das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit Basel-Stadt (KIGA) Nachforschungen über den Wohnort des Versicherten an. Diese umfassten unter anderem die polizeiliche Observierung der als Wohnadresse angegebenen Wohnung an der Strasse A.________ in Basel während des Zeitraums vom 28. Oktober bis 17. Dezember 1999, die Befragung der Abwartin und von Bewohnern dieser Liegenschaft, die Einholung von Auskünften der Liegenschaftsverwaltung und der Behörden in Frankreich sowie eine persönliche Kontrolle und Befragung des Versicherten in Gegenwart dreier Polizeibeamter vom 17. Dezember 1999. Daraufhin verneinte die Kantonale Amtsstelle für Arbeitslosenversicherung Basel-Stadt (KAST) einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung rückwirkend für die Zeit ab 1. Mai 1999 mit der Begründung, P.________ habe nicht in der Schweiz gewohnt, und hielt gleichzeitig fest, bereits ausbezahlte Taggelder seien durch die Öffentliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt zurückzufordern (Verfügung vom 28. Dezember 1999). Die Arbeitslosenkasse forderte daraufhin mit Verfügung vom 3. Januar 2000 die für den Zeitraum ab 1. Mai 1999 ausbezahlten Taggelder in der Höhe von Fr. 18'736.- zurück.
 
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Kantonale Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung Basel-Stadt ab (Entscheid vom 22. Juni 2000).
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt P.________ das Rechtsbegehren stellen, es seien der kantonale Entscheid und die Verfügung vom 28. Dezember 1999 aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Anspruch auf Arbeitslosentaggelder für die Zeit seit 1. Mai 1999 bestehe. Ferner lässt er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersuchen.
 
Die KAST beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Das Staatssekretariat für Wirtschaft lässt sich nicht vernehmen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Streitgegenstand bildet einerseits die Verneinung des Wohnsitzes und die damit einhergehende rückwirkende Ablehnung der Anspruchsberechtigung auf Arbeitslosenentschädigung für die Zeit ab 1. Mai 1999 durch die Verfügung vom 28. Dezember 1999 und andererseits die am 3. Januar 2000 verfügte Rückerstattung des Betrags von Fr. 18'736.-. Die Verfügung vom 3. Januar 2000 wurde mit der vorinstanzlichen Beschwerde vom 31. Januar 2000 (und somit innerhalb der Rechtsmittelfrist) sinngemäss mit angefochten, wird doch darin ausdrücklich erklärt, der Versicherte sei mit der Rückforderung nicht einverstanden (zum Verhältnis zwischen Feststellungs- und Rückforderungsverfügung vgl. BGE 126 V 399).
 
2.- a) Ein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besteht nur, wenn die versicherte Person in der Schweiz wohnt (Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG). Nach der Rechtsprechung erfüllt eine Person diese Anspruchsvoraussetzung, wenn sich ihr gewöhnlicher Aufenthalt hier befindet, was der Fall ist, wenn sie sich effektiv in der Schweiz aufhält, und wenn sie die Absicht hat, diesen Aufenthalt während einer gewissen Zeit aufrecht zu erhalten und hier in dieser Zeit auch den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen zu haben (BGE 125 V 466 f. Erw. 2a, 115 V 448 f.). Für ausländische Staatsangehörige mit Niederlassungsbewilligung gilt keine abweichende Regelung (Art. 12 AVIG e contrario).
 
b) Der Wohnsitzbegriff des Zivilgesetzbuches ist für die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG nicht massgeblich (BGE 115 V 449, 125 V 466 Erw. 2a letzter Absatz in fine). Deshalb scheidet eine analogieweise Heranziehung des in Art. 24 Abs. 1 ZGB statuierten Grundsatzes aus, wonach der einmal begründete Wohnsitz bis zum Erwerb eines neuen bestehen bleibt. Die Anspruchsvoraussetzung des Wohnens in der Schweiz gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG ist demnach nur erfüllt, wenn und solange der gewöhnliche Aufenthalt in der Schweiz (mit den Elementen der Absicht dauernden Verbleibens und des Mittelpunktes der Lebensbeziehungen) durchgehend gegeben ist. Andernfalls besteht kein Taggeldanspruch, ohne dass zu prüfen ist, ob im Ausland ein Wohnsitz im Sinne der Art. 23 ff. ZGB begründet wurde.
 
3.- Auf Grund der Akten steht fest, dass der Beschwerdeführer ab 1. September 1997 ein separat vermietetes Zimmer einer 3-Zimmer-Wohnung im Parterre der Liegenschaft Strasse A.________ in Basel gemietet hatte. Am 28. April 1999 kündigte er dieses Mietverhältnis mit Wirkung per
 
31. Juli 1999. Gemäss seinen eigenen Angaben bewohnte er in der Folge ein anderes Zimmer derselben Wohnung zusammen mit dessen Mieter, C.________, der sich meistens in Italien aufgehalten und dem er, der Beschwerdeführer, seinen Mietanteil jeweils in bar, ohne Quittung, bezahlt habe. Die Beschwerdegegnerin geht demgegenüber davon aus, dass der Beschwerdeführer nicht an der Strasse A.________ in Basel, sondern in Frankreich gewohnt habe. Sie stützt sich dabei einerseits auf den Umstand, dass die Ehefrau des Beschwerdeführers (die Heirat fand am 15. Mai 1999 statt) mit dem 1995 geborenen gemeinsamen Sohn während des vorliegend relevanten Zeitraums in Frankreich wohnte, und andererseits auf die Ergebnisse der Abklärungen des KIGA, welche gezeigt hätten, dass sich der Beschwerdeführer praktisch nie an der Strasse A.________ aufgehalten habe.
 
4.- a) Die Vorinstanz hat das Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts in der Schweiz während des Bezugs der Arbeitslosenentschädigung ab 1. Mai 1999 zu Recht als nicht erfüllt beurteilt: Zunächst bestehen bereits in Bezug auf die erste Rahmenfrist für den Leistungsbezug (1. Januar 1997 bis 31. Dezember 1998) Unklarheiten, denn der Beschwerdeführer macht keine Angaben über die Zeit vor der Miete des Zimmers an der Strasse A.________ per 1. September 1997, und schon anlässlich des Beratungsgesprächs vom 1. Dezember 1997 wurde die Unzustellbarkeit der Kassenabrechnung (es handelte sich offenbar um die Abrechnungen für September und Oktober 1997) vermerkt. Für den vorliegend relevanten Zeitraum ist durch den Rapport vom 17. Dezember 1999 über die polizeiliche Observation erwiesen, dass der Beschwerdeführer während der Zeit vom 28. Oktober 1999 bis
 
17. Dezember 1999 an der Strasse A.________ nie anbetroffen wurde. Der Beschwerdeführer lässt es an einer plausiblen Erklärung darüber fehlen, wo er sich während und vor dieser fast zweimonatigen Observierungsperiode aufgehalten hat.
 
Die Folgerung, er habe bei Ehefrau und Sohn im nahe gelegenen Frankreich geweilt und dort auch den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen gehabt, drängt sich unter diesen Umständen auf.
 
b) Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen Einwände gegen die Verwertbarkeit und Aussagekraft der Ergebnisse der polizeilichen Observierung sind nicht stichhaltig:
 
aa) Die unterzeichnete Notiz des Gfr S.________ vom 17. Dezember 1999, aus welcher hervorgeht, dass die Wohnung an der Strasse A.________ vom 28. Oktober 1999 bis 17. Dezember 1999 durch zwei Polizeibeamte zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten observiert wurde, wobei festgestellt wurde, dass sich "in dieser Wohnung überhaupt nichts tat" und der Beschwerdeführer auch nie betroffen werden konnte, genügt der Protokollierungspflicht. Eine detailliertere Rapportierung über einen so einfachen Sachverhalt kann nicht verlangt werden.
 
bb) Da die Observierung ergab, dass sich in der fraglichen Wohnung überhaupt nichts tat, bestand keine Notwendigkeit, eine anwesende Person zu identifizieren. Zudem begegneten die zum Treffen mit dem KIGA und dem Beschwerdeführer vom 17. Dezember 1999 aufgebotenen Beamten, darunter DetKpl W.________, der an der Observierung beteiligt war, bei dieser Gelegenheit dem Beschwerdeführer. DetKpl W.________ konnte daher durchaus angeben, ob er den Beschwerdeführer während der Observierungszeit gesehen hatte.
 
Der Einwand, die observierenden Beamten hätten den Beschwerdeführer nicht gekannt und könnten deshalb nicht beurteilen, ob er sich in der fraglichen Wohnung aufgehalten habe, ist haltlos.
 
cc) Was die Zulässigkeit des Einschaltens der Polizei anbelangt, sind die Organe der Arbeitslosenversicherung befugt, von der Polizei (als Teil der kantonalen Verwaltung) Auskünfte und Unterlagen einzufordern, die zur Festsetzung, Änderung, Verrechnung oder Rückforderung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung notwendig sind (Art. 125 Abs. 1 AVIV, in der bis 31. Dezember 2000 gültig gewesenen Fassung).
 
Darin liegt eine hinreichende materiellgesetzliche Grundlage für die verwaltungsverfahrensrechtliche Amtshilfe (vgl. nunmehr deren umfassende Regelung auf der Stufe des formellen Gesetzes in Art. 96a AVIG, eingefügt durch Bundesgesetz vom 23. Juni 2000, in Kraft seit 1. Januar 2001 [AS 2000 2772, 2776]), welche die Kantonspolizei dem Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit Basel-Stadt - in dessen Eigenschaft als kantonaler Amtsstelle für die bundesrechtliche Arbeitslosenversicherung (Art. 85 Abs. 1 lit. e in Verbindung mit Art. 81 Abs. 2 AVIG) - im Falle des Beschwerdeführers geleistet hat.
 
5.- a) Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG muss die Kasse Leistungen der Versicherung zurückfordern, auf welche der Empfänger keinen Anspruch hatte. Eine auf Grund einer formell rechtskräftigen Verfügung ausgerichtete Leistung ist in der Sozialversicherung nur zurückzuerstatten, wenn entweder die für die Wiedererwägung oder die prozessuale Revision erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 126 V 399 Erw. 1 mit Hinweis). Diese Grundsätze gelten auch, wenn die Arbeitslosenkasse eine Geldleistung nicht förmlich, sondern nur formlos, d.h. faktisch, zugesprochen hat, sofern die faktisch verfügte Leistung rechtsbeständig geworden ist, was vorliegend auf die dem Versicherten bis November 1999 ausgerichteten Taggelder ohne weiteres zutrifft (BGE 122 V 368 f. Erw. 3). Die Arbeitslosenkasse hat im Rückforderungsverfahren zu prüfen, ob ein Rückkkommenstitel gegeben ist. Die Feststellung der KAST, dass der Beschwerdeführer während des vorliegend relevanten Zeitraums vom 1. Mai bis
 
21. November 1999 nicht anspruchsberechtigt war, ist demgegenüber für die Kasse verbindlich (BGE 126 V 401 f.
 
Erw. 2b/cc).
 
b) Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 126 V 23 Erw. 4b, 46 Erw. 2b, 125 V 389 Erw. 3, je mit Hinweisen).
 
Von der Wiedererwägung ist die so genannte prozessuale Revision von Verwaltungsverfügungen zu unterscheiden. Danach ist die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 126 V 24 Erw. 4b, 46 Erw. 2b, je mit Hinweisen).
 
c) Ernsthafte Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer in der Schweiz wohne, kamen erstmals auf, als der Arbeitslosenkasse Ende September 1999 das an den Beschwerdeführer an eine Adresse in Frankreich gerichtete Schreiben einer dortigen Behörde vorgelegt wurde. Vor der Einleitung der entsprechenden Nachforschungen am 19. Oktober 1999 war der Verwaltung lediglich bekannt, dass "ein Kind" des Beschwerdeführers in Frankreich wohne, während von der Mutter dieses Kindes ebenso wenig die Rede war wie von den undurchsichtigen Wohnverhältnissen an der Strasse A.________. Die anschliessend getätigten Abklärungen führten zum Ergebnis, dass der Beschwerdeführer während des relevanten Zeitraums nicht in der Schweiz wohnte. Damit hat die Arbeitslosenkasse eine neue Tatsache entdeckt, die ohne weiteres geeignet war, zu einer anderen Beurteilung der Anspruchsberechtigung des Beschwerdeführers auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung zu führen. Unter diesen Umständen waren die Voraussetzungen für eine prozessuale Revision gegeben, und es lag ein Rückkommenstitel vor, auf Grund dessen die Arbeitslosenkasse befugt war, auf die geleistete Taggeldzahlung zurückzukommen und zu Unrecht bezogene Leistungen zurückzufordern.
 
6.- Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokatin Kathrin Bichsel, Basel, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus
 
der Gerichtskasse eine Entschädigung (einschliesslich
 
Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- ausgerichtet.
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, der Kantonalen Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung Basel- Stadt, dem Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und
 
Arbeit Basel-Stadt, der Öffentlichen Arbeitslosenkasse
 
Basel-Stadt und dem Staatssekretariat für Wirtschaft
 
zugestellt.
 
Luzern, 31. Juli 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der I. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).