BGer U 145/2001 | |||
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BGer U 145/2001 vom 06.12.2001 | |
[AZA 7]
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U 145/01 Gb
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IV. Kammer
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Präsident Borella, Bundesrichter Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Ackermann
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Urteil vom 6. Dezember 2001
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in Sachen
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National-Versicherung, Rechtsdienst, Steinengraben 41, 4051 Basel, Beschwerdeführerin,
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gegen
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G.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Klein, Malzgasse 18, 4010 Basel,
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und
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Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
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A.- G.________, geboren 1969, arbeitete seit September 1993 als Zahnarztgehilfin bei Dr. med. dent. H.________ und war bei der National-Versicherung (im folgenden "National") unfallversichert. Am 20. September 1996 stiess - wegen offensichtlich missverständlicher Verkehrsregelung durch einen Polizisten - ein aus einer Querstrasse kommender Autofahrer seitlich mit ihrem Wagen zusammen. G.________ suchte am gleichen Tag ihren Hausarzt Dr. med. S.________, FMH Innere Medizin, auf, welcher eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) mit ausgeprägten subjektiven Beschwerden diagnostizierte. Nachdem am 4. November 1996 eine SPECT-Untersuchung durchgeführt worden war, zwei Aufenthalte in der Rehabilitationsklinik X.________ stattgefunden hatten (Austrittsberichte vom 11. Februar 1997 und vom 10. Februar 1998), Psycho- und Physiotherapie durchgeführt sowie diverse Arztberichte eingeholt worden waren und eine Begutachtung im Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) stattgefunden hatte (Bericht vom 27. Januar 1999), stellte die "National" mit Verfügung vom 22. April 1999 ihre Leistungen per Ende März 1999 ein, da keine Unfallfolgen mehr vorlägen. Nach Beizug der durch G.________ veranlassten Begutachtung der Neurologischen Abteilung der Klinik Y.________ vom 13. September 1999 hielt die "National" mit Einspracheentscheid vom 20. April 2000 an ihrer leistungseinstellenden Verfügung von April 1999 fest.
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B.- Auf Beschwerde der G.________ hin hob das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 26. März 2001 den Einspracheentscheid vom 20. April 2000 auf und wies die Sache an die "National" zu weiterer Abklärung und erneuter Verfügung zurück.
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C.- Die "National" führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei der Einspracheentscheid vom 20. April 2000 zu bestätigen und festzustellen, dass die geltend gemachten Beschwerden nicht unfallkausal seien.
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G.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während das Bundesamt für Sozialversicherung sowie der Krankenversicherer auf eine Vernehmlassung verzichten.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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1.- Das kantonale Gericht hat die massgebliche Grundlage des natürlichen Kausalzusammenhangs als Anspruchsvoraussetzung für die Leistungspflicht der Unfallversicherung nach Art. 6 Abs. 1 UVG in materiell- und beweisrechtlicher Sicht zutreffend dargelegt (BGE 119 V 337 Erw. 1 mit Hinweisen). Darauf kann verwiesen werden. Was den vorliegend zunächst zu prüfenden Nachweis des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen den typischen Symptomen, die nach einem Schleudertrauma der HWS auftreten können, und dem als ursächlich in Frage kommenden Unfall anbelangt (Tatfrage, über die der Richter im Rahmen der Beweiswürdigung nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat; BGE 119 V 338 oben), ist ergänzend festzuhalten, dass nach der in BGE 119 V 340 Erw. 2b/aa erfolgten Klarstellung der Rechtsprechung auch bei Schleudermechanismen der HWS in erster Linie die medizinischen Fakten (insbesondere die fachärztlichen Erhebungen über Anamnese, Verletzungsfolgen, unfallfremde Faktoren und Vorzustand), die medizinischen Erkenntnisse hinsichtlich des objektiven Befundes sowie die Diagnose die massgeblichen Grundlagen für die Kausalitätsbeurteilung bilden. Das Vorliegen eines Schleudertraumas wie auch seine Folgen müssen dabei durch zuverlässige Angaben gesichert sein.
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2.- Streitig ist, ob die Vorinstanz die Sache zu Recht an die "National" zur ergänzenden Abklärung des natürlichen Kausalzusammenhangs zurückgewiesen hat. Weiter sind die Beweiswerte der beiden vorliegenden Gutachten umstritten.
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a) Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG). Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei - d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln - sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist also entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3a, AHI 2001 S. 113 Erw. 3a, je mit Hinweis).
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b) Die "National" irrt, wenn sie meint, das Gutachten des ZMB sei ein Gerichtsgutachten im Sinne von BGE 125 V 352 Erw. 3b/aa; vielmehr liegt ein vom UVG-Privatversicherer im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eingeholtes Gutachten externer Spezialärzte vor (BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb). Wenn diese auf Grund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht in die Akten Bericht erstatten und bei der Erörterung der Befunde zu schlüssigen Ergebnissen gelangen, ist diesem Gutachten bei der Beweiswürdigung volle Beweiskraft zuzuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise bestehen. Die nach Art. 68 Abs. 1 UVG zugelassenen Privatversicherer haben sinngemäss die in Art. 57 f. BZP genannten Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten zu beachten (BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb in fine).
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c) Entgegen der Auffassung der "National" kommen auch Privat- oder Parteigutachten Beweiswert zu, sofern sie schlüssig und nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit vorliegen. Der Umstand allein, dass eine ärztliche Stellungnahme von einer Partei eingeholt und in das Verfahren eingebracht wurde, rechtfertigt keine Zweifel an ihrem Beweiswert (BGE 125 V 353 Erb. 3b/dd). Daraus folgt jedoch nicht, dass ein solches Gutachten den gleichen Rang wie ein vom Gericht oder von einem Unfallversicherer nach vorgegebenem Verfahrensrecht eingeholtes Gutachten besitzt. Es verpflichtet indessen - wie jede substanziiert vorgetragene Einwendung gegen eine solche Expertise - den Richter anhand der von der Rechtsprechung aufgestellten Richtlinien für die Beweiswürdigung zu prüfen, ob es in rechtserheblichen Fragen die Auffassungen und Schlussfolgerungen des vom Gericht oder vom Unfallversicherer förmlich bestellten Gutachters derart zu erschüttern vermag, dass davon abzuweichen ist (BGE 125 V 354 Erw. 3c; AHI 2001 S. 115 Erw. 3c).
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3.- a) Die Sozialversicherungsgerichte haben im Leistungsbereich täglich mit Beweiserhebungen und -würdigungen umstrittener Sachverhalte zu tun, was medizinische Kenntnisse und entsprechende Erfahrung voraussetzt. Im Beschwerdeverfahren geht es zunächst einzig darum, sich kritisch mit der tatbeständlichen Frage auseinanderzusetzen, ob der rechtserhebliche Sachverhalt durch die Verwaltung in jeder Hinsicht in rechtsgenüglicher Weise abgeklärt worden ist, wie dies der Bundesgesetzgeber und der im Sozialversicherungsrecht geltende Untersuchungsgrundsatz verlangen (in vorliegender Sache Art. 108 Abs. 1 lit. c UVG). Wird eine Sachverhaltsfeststellung als unvollständig erachtet, muss eine Rückweisung, verbunden mit einem konkreten Auftrag zur ergänzenden Abklärung, erfolgen. Im Unterschied zu einem gestützt auf einen vollständig abgeklärten Sachverhalt materiell endgültigen Sachentscheid geht es bei einer unvollständigen Sachverhaltsabklärung nicht darum, das vorhandene, aber noch nicht ausreichende Beweismaterial schon in diesem Verfahrensstadium in jeder Hinsicht umfassend zu würdigen (nicht veröffentlichtes Urteil S. vom 4. November 1998, U 26/97).
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b) Vom Richter, der zur Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs auf den Beizug von medizinischen Sachverständigen angewiesen ist, kann zwar nicht verlangt werden, dass er die verschiedenen Meinungen einander gegenüberstellt und gleichsam wie ein Oberexperte medizinisch korrekt darlegt, wo allfällige Schwächen liegen und welche Fachmeinung zutreffend ist. Hingegen hat der Richter festzustellen, wo und wie weit die Meinungen in rechtserheblichen Fragen auseinandergehen und er hat zu sagen, weshalb er der einen Meinung folgt - beispielsweise, weil sie ihm schlüssig erscheint - und nicht der anderen (SVR 2000 Nr. UV 10 S. 35 Erw. 4b).
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c) Die Vorinstanz hat in diesem Sinne hinreichend begründet, weshalb die in den Akten liegenden Gutachten des ZMB und der Klinik Y.________ widersprüchlich und nicht geeignet sind, die Frage des natürlichen Kausalzusammenhanges schlüssig zu beantworten. Insbesondere beantwortet das von der "National" - nicht im Einvernehmen mit der Versicherten und unter Nichtbeachtung ihrer Mitwirkungsrechte - eingeholte Gutachten des ZMB wesentliche Fragen zur Diagnose eines Schleudertraumas oder eines äquivalenten Verletzungsmechanismus' nicht.
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d) Bei festgestellter Abklärungsbedürftigkeit verletzt die Rückweisung der Sache an den UVG-Privatversicherer als solche weder den Untersuchungsgrundsatz noch das Gebot eines einfachen und raschen Verfahrens (Art. 108 Abs. 1 lit. a UVG). Anders verhält es sich nur dann, wenn die Rückweisung einer Verweigerung des gerichtlichen Rechtsschutzes gleichkäme (beispielsweise dann, wenn auf Grund besonderer Gegebenheiten nur ein Gerichtsgutachten oder andere gerichtliche Beweismassnahmen geeignet wären, zur Abklärung des Sachverhaltes beizutragen) oder wenn die Rückweisung nach den Umständen als unverhältnismässig bezeichnet werden müsste (RKUV 1999 Nr. U 342 S. 410 Erw. 3a mit Hinweisen). Dies trifft hier nicht zu. Die Vorinstanz hat demnach zu Recht weitere Aktenergänzungen angeordnet und die Sache deshalb an die "National" zurückgewiesen.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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III. Die National-Versicherung hat der Beschwerdegegnerin
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für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
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eine Parteientschädigung von Fr. 3'208.70
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(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
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IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht
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des Kantons Solothurn, der Assura, Marly, und
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dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
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Luzern, 6. Dezember 2001
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Im Namen des
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Eidgenössischen Versicherungsgerichts
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Der Präsident der IV. Kammer:
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Der Gerichtsschreiber:
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