BGer I 298/2001 | |||
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BGer I 298/2001 vom 15.02.2002 | |
[AZA 7]
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I 298/01 Gi
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III. Kammer
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Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
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Gerichtsschreiber Hadorn
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Urteil vom 15. Februar 2002
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in Sachen
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O.________, 1970, Beschwerdeführerin, vertreten durch Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,
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gegen
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IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin,
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und
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Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
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A.- Mit in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 10. November 1998 lehnte die IV-Stelle des Kantons Bern die Abgabe eines Rollstuhls an die 1970 geborene O.________, seit 1. Dezember 1995 Bezügerin einer halben und seit
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1. November 1997 einer ganzen IV-Rente, ab. Hierauf beschaffte sich O.________ auf eigene Kosten einen Faltrollstuhl.
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Am 29. März 2000 stellte O.________ ein Gesuch um Abgabe eines Elektrorollstuhls. Mit Verfügung vom 28. Juni 2000 lehnte die IV-Stelle dieses Begehren ebenfalls ab.
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B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 26. März 2001 ab.
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C.- O.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei ihr ein Elektrorollstuhl auf Kosten der IV abzugeben.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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1.- a) Gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG hat der Versicherte im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in seinem Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf. Ferner bestimmt Art. 21 Abs. 2 IVG, dass der Versicherte, der infolge seiner Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel hat.
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b) Die Befugnis zur Aufstellung der Hilfsmittelliste und zum Erlass ergänzender Vorschriften im Sinne von Art. 21 Abs. 4 IVG hat der Bundesrat in Art. 14 IVV an das Eidgenössische Departement des Innern übertragen, welches die Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) mit anhangsweise aufgeführter Hilfsmittelliste erlassen hat. Laut Art. 2 Abs. 1 HVI besteht im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste Anspruch auf Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind. Die im HVI-Anhang enthaltene Liste von Hilfsmitteln umfasst unter Ziff. 9 in der Kategorie "Rollstühle" einerseits solche ohne motorischen Antrieb (Ziff. 9.01) und andererseits Elektrorollstühle für Versicherte, die einen gewöhnlichen Rollstuhl nicht bedienen und sich nur dank elektromotorischem Antrieb selbstständig fortbewegen können (Ziff. 9.02).
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c) Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Anspruch auf einen Elektrorollstuhl wiederholt (BGE 116 V 99 Erw. 3 mit Hinweisen; SVR 1996 IV Nr. 81 S. 237 Erw. 3c; Urteile K. vom 25. Mai 1994, I 340/93, M. vom 1. September 1992, I 185/92, D. vom 25. März 1991, I 269/90) festgehalten, dass der Begriff "sich fortbewegen" gemäss Ziff. 9.02 HVI Anhang die Verschiebung ohne Dritthilfe im häuslichen Bereich wie auf ausser Haus umfasst.
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Diese Auslegung deckt sich mit der Rechtsprechung zu Art. 42 Abs. 2 IVG, welche im Hinblick auf die Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung u.a. auf die Hilfsbedürftigkeit bei der alltäglichen Lebensverrichtung "Fortbewegung (im oder ausser Haus)" abstellt (dazu BGE 117 V 148 Erw. 2).
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2.- a) Die IV-Stelle und ihr folgend die Vorinstanz lehnten die Abgabe eines Elektrorollstuhls mit der Begründung ab, schon 1998 habe kein geistiges oder körperliches Leiden vorgelegen, welches die Abgabe eines nicht motorisierten Rollstuhls gerechtfertigt hätte. Daran habe sich bis heute nichts geändert. Wohl spreche der Hausarzt, Dr.
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med. K.________, Facharzt FMH für Allgemeinmedizin, im Bericht vom 13. März 2000 von neu aufgetretenen Schmerzen im Schulterbereich. Dies allein vermöge keine relevante Verschlechterung des somatischen Gesundheitszustandes zu belegen.
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Die Einschränkungen der Beschwerdeführerin seien in erster Linie auf psychische Leiden zurückzuführen, welche die Abgabe eines Rollstuhles nicht indizierten.
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Hiegegen legt die Beschwerdeführerin einen neuen Bericht von Dr. K.________ vom 27. April 2001 ins Recht, wonach der körperliche Zustand sich seit Herbst 1998 eindeutig verschlimmert habe. Die Gehstrecke betrage heute nur noch maximal 30 Meter, während sie 1998 noch bei knapp 100 Metern gelegen habe. Wegen der Schultergelenkbeschwerden könne die Versicherte den normalen Rollstuhl nicht mehr bedienen. Trotz entzündungshemmender Tabletten nehme das Leiden eindeutig zu. Für die Mobilisation ausser Haus sei die Versicherte dringend auf einen Elektrorollstuhl angewiesen.
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b) Soweit die Vorinstanz auf die ablehnende Verfügung betreffend die Abgabe eines mechanischen Rollstuhls verwiesen und erwogen hat, es sei im Sinne der revisionsrechtlichen Vorschriften (Art. 41 IVG, Art. 87 Abs. 3 und 4 IVG) keine relevante Verschlechterung des Gesundheitszustandes eingetreten, kann ihr zumindest in der Begründung nicht gefolgt werden. Die Abgabe eines Elektrorollstuhls stellt nach der Rechtsprechung (ZAK 1992 S. 361 ff. Erw. 3b und c) im Vergleich zum Anspruch auf einen mechanischen Rollstuhl einen unabhängigen, neuen Versicherungsfall dar. Demnach setzt die Abgabe eines motorisierten Rollstuhls voraus, dass über eine Gehbehinderung hinaus die Funktionsfähigkeit der Arme derart eingeschränkt ist, dass die Versicherte einen Rollstuhl nicht mehr aus eigener Kraft anzutreiben vermag (ZAK 1992 S. 362 Erw. 3b).
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c) Bereits im Bericht vom 13. März 2000 stützte Dr.
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K.________ den Anspruch auf einen Elektrorollstuhl auf die selben Argumente wie im erwähnten Bericht vom 27. April 2001. Die IV-Stelle begründet ihre ablehnende Haltung mit zwei Vernehmlassungen ihres ärztlichen Dienstes vom 19. September 1998 und vom 21. Oktober 1998, welche das ursprüngliche Gesuch um Abgabe eines mechanischen Rollstuhls betrafen. Laut der ersten Stellungnahme sei weder eine psychiatrische noch eine rheumatologische Indikation für einen Rollstuhl ersichtlich; das vom Hausarzt geschilderte weichteilrheumatische Leiden habe im Gutachten der Rheumatologie nicht bestätigt werden können. Gemäss der zweiten Stellungnahme liege kein somatisches Leiden vor, welches die Benützung eines Rollstuhls erfordere. Das Eingehen auf den "Rollstuhl-Wunsch" der Versicherten wäre ein "ungünstiges Mitagieren in der Spirale Richtung Immobilität". Gestützt auf diese Stellungnahmen lehnte die IV-Stelle nicht nur den damaligen Antrag auf Abgabe eines mechanischen Rollstuhls ab, sondern ohne zusätzliche Abklärungen auch den heutigen betreffend den Elektrorollstuhl.
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d) Es trifft zwar zu, dass die Rheumatologische Klinik und Poliklinik am Spital im Gutachten vom 7. August 1996 kein weichteilrheumatisches Leiden diagnostiziert hat.
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Indessen ist die Rede von chronischen, psychogenen Schmerzen.
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In der Folge wurde die Beschwerdeführerin nur noch in psychiatrischer Hinsicht untersucht (Expertisen von Dr.
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med. I.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 9. September 1996 und 13. März 1998; Bericht von Dr. med. Z.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 30. September 1997). In diesen Berichten wird eine schwierige psychische Situation beschrieben, jedoch nicht näher auf die daraus entstandenen somatischen Folgen Bezug genommen. Zur Notwendigkeit eines Elektrorollstuhls lässt sich diesen medizinischen Unterlagen nichts entnehmen, namentlich auch nicht, dass die Abgabe eines solchen nur die "Spirale Richtung Immobilität" fördern und damit für die Versicherte schädlich wäre. Somit stehen die aktuellen Angaben des Hausarztes den älteren, diesen widersprechenden Einschätzungen des ärztlichen Dienstes gegenüber. Eine solche Aktenlage erlaubt keine schlüssige Beurteilung des streitigen Anspruches. Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie abkläre, ob die gegenwärtigen somatischen und psychischen Leiden der Versicherten die Abgabe des beantragten Hilfsmittels rechtfertigen.
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3.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der durch den Schweizerischen Invalidenverband vertretenen Beschwerdeführerin ist eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 159 Abs. 1 OG; BGE 122 V 278).
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
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gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts
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des Kantons Bern vom 26. März 2001 und die angefochtene
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Verfügung vom 28. Juni 2000 aufgehoben werden
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und die Sache an die IV-Stelle des Kantons Bern
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zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen
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verfahre.
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II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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III. Die IV-Stelle des Kantons Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- zu bezahlen.
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IV.Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses
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zu befinden haben.
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V.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht
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des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
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Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und
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dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
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Luzern, 15. Februar 2002
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Im Namen des
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Eidgenössischen Versicherungsgerichts
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Der Präsident der III. Kammer:
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Der Gerichtsschreiber:
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