VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer C 151/2001  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer C 151/2001 vom 01.03.2002
 
[AZA 7]
 
C 151/01 Vr
 
I. Kammer
 
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin
 
Widmer, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber
 
Hadorn
 
Urteil vom 1. März 2002
 
in Sachen
 
Staatssekretariat für Wirtschaft, Abteilung Arbeitsmarkt und Arbeitslosenversicherung, Bundesgasse 8, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
P.________, 1979, Beschwerdegegner,
 
und
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
A.- Der 1979 geborene P.________ beendete am 13. August 1999 seine Lehre als Anlage- und Apparatebauer. Vom 1.
 
bis 24. September 1999 arbeitete er als Schlosser. Ab
 
27. September 1999 bezog er von der Arbeitslosenkasse der Gewerkschaft Bau & Industrie GBI Taggelder. Die Kasse zog zur Ermittlung ihrer Leistungen den ungekürzten Pauschalansatz für Absolventen einer Berufslehre von Fr. 127.- im Tag als versicherten Verdienst bei. Im Rahmen einer Revision beanstandete das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) diese Berechnung. Es vertrat die Ansicht, dass die Pauschalansätze im vorliegenden Fall um 50 % zu kürzen seien, weil P.________ seinen Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ungeachtet der dreiwöchigen Beschäftigung als Schlosser direkt im Anschluss an eine Berufslehre gestellt habe. In der Folge forderte die Arbeitslosenkasse vom Versicherten mit Verfügung vom 17. August 2000 Fr. 1546. 25 an zu viel ausbezahlten Leistungen zurück.
 
B.- Die von P.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 19. April 2001 gut. Es hob die angefochtene Verfügung auf, wobei es erwog, dass der Versicherte trotz der nur sehr kurzen Tätigkeit als Schlosser nicht mehr unter diejenigen Personen falle, welche im Anschluss an eine Berufslehre Arbeitslosenentschädigung bezögen, weshalb seine Taggelder nicht gekürzt werden dürften.
 
C.- Das seco führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben. Es macht geltend, gemäss seinen Weisungen entfalle eine Kürzung der Pauschalansätze erst dann, wenn die betreffende Person im Anschluss an die berufliche Ausbildung mindestens während eines Monats eine vollzeitliche, unselbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Die bloss dreiwöchige Tätigkeit als Schlosser genüge somit nicht.
 
P.________ äussert sich in ablehnendem Sinn, während die Arbeitslosenkasse auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- a) Nach Art. 23 Abs. 2 AVIG setzt der Bundesrat u.a. für Versicherte, die im Anschluss an eine Berufslehre Arbeitslosenentschädigung beziehen, Pauschalansätze als versicherten Verdienst fest. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der Bundesrat in Art. 41 Abs. 1 AVIV solche Pauschalansätze festgesetzt. Für Personen mit einer abgeschlossenen Berufslehre oder mit gleichwertiger Ausbildung an einer Fachschule oder einer ähnlichen Lehranstalt gilt ein Pauschalansatz von Fr. 127.- im Tag (lit. b). Nach Art. 41 Abs. 2 AVIV werden die Pauschalansätze um 50 % reduziert bei Versicherten, die im Anschluss an eine Berufslehre Arbeitslosenentschädigung beziehen (lit. a), weniger als 25 Jahre alt sind (lit. b) und keine Unterhaltspflicht gegenüber Kindern im Sinne von Art. 33 AVIV zu erfüllen haben (lit. c). Gemäss einer in ALV-Praxis 98/2, Blatt 2/8, publizierten Weisung des Bundesamtes für Wirtschaft und Arbeit (BWA; heute seco) vom 15. Mai 1998 finden die Pauschalansätze keine Anwendung auf Personen, die im Anschluss an eine berufliche Ausbildung während mindestens eines Monats eine vollzeitige, unselbstständige Erwerbstätigkeit zu einem berufs- und ortsüblichen Lohn ausgeübt haben. In diesem Fall ist grundsätzlich der letzte erzielte Lohn massgebend.
 
b) Gemäss Art. 95 Abs. 1 AVIG muss die Arbeitslosenkasse Leistungen der Versicherung, auf die der Empfänger keinen Anspruch hatte, zurückfordern. Die Rückforderung nach Massgabe dieser Bestimmung ist nur unter den Voraussetzungen der Wiedererwägung oder prozessualen Revision der formell rechtskräftigen Verfügung, mit welcher die betreffende Leistung zugesprochen worden ist, zulässig. Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 122 V 21 Erw. 3a, 119 V 183 Erw. 3a, 477 Erw. 1). Im Rahmen der prozessualen Revision, die von der Wiedererwägung unterschieden werden muss, ist die Verwaltung verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 122 V 21 Erw. 3a, 119 V 184 Erw. 3a, 477 Erw. 1a).
 
2.- Weder die Arbeitslosenkasse noch die Vorinstanz haben je auf die erwähnte Weisung des BWA bzw. seco Bezug genommen.
 
a) Verwaltungsweisungen sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Es soll sie bei seiner Entscheidung mit berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Es weicht anderseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 126 V 68 Erw. 4b, 125 V 379 Erw. 1c, je mit Hinweisen).
 
b) Laut der genannten Weisung wird der versicherte Verdienst nicht nach den Pauschalansätzen ermittelt, wenn die betroffene Person im Anschluss an die berufliche Ausbildung während mindestens eines Monats eine vollzeitige, unselbstständige Erwerbstätigkeit zu einem berufs- und ortsüblichen Lohn ausgeübt hat. Dies bedeutet umgekehrt, dass die Regelung mit den Pauschalansätzen (und deren Kürzung um 50 %) bei denjenigen Versicherten zur Anwendung kommt, die unmittelbar nach dem Lehrabschluss keine, eine weniger als einen Monat dauernde, unterbezahlte oder selbstständige Beschäftigung ausgeübt haben. Auf den Beschwerdeführer trifft dies insofern zu, als seine Tätigkeit als Schlosser nur drei Wochen gedauert hat. Daher ist die Voraussetzung der mindestens einmonatigen unselbstständigen Erwerbstätigkeit nicht erfüllt. Nach der erwähnten Weisung gilt daher, dass der Versicherte somit im Anschluss an eine Berufslehre Arbeitslosenentschädigung bezogen hat, weshalb grundsätzlich die Pauschalansätze zur Anwendung kommen müssten. Diese wären sodann um 50 % zu kürzen, da die entsprechenden Voraussetzungen nach Art. 41 Abs. 2 AVIV erfüllt sind. Bevor jedoch endgültig entschieden werden kann, ist zu prüfen, ob die Weisung eine dem Einzelfall gerecht werdende Auslegung zulässt und angewendet werden kann.
 
c) Weder Gesetz (Art. 23 Abs. 2 AVIG) noch Verordnung (Art. 41 AVIV) definieren, was unter "im Anschluss an eine Berufslehre" zu verstehen ist. Bei dieser Ausgangslage muss die Verwaltung konsequenterweise berechtigt sein, mittels Weisungen näher zu umschreiben, unter welchen Voraussetzungen Arbeitslosenentschädigung als "im Anschluss an eine Berufslehre" bezogen gilt. Die vom seco getroffene Regelung beruht somit auf ausreichenden rechtlichen Grundlagen. Sie verhindert, dass Absolventen einer Berufslehre, die an wenigen Tagen zu einem Lohn arbeiten, welcher den bisherigen Lehrlingslohn übersteigt, sich bereits einen versicherten Verdienst in dieser Höhe anrechnen lassen können. Dadurch wird Missbräuchen vorgebeugt. Absolventen einer Berufslehre sollen erst nach einer gewissen Arbeitsperiode (mit entsprechenden Beitragszahlungen an die Arbeitslosenversicherung) höhere Entschädigungen beziehen können. Die Weisung ermöglicht es, dieses Ziel zu erreichen, weshalb sie als sachgerecht zu bezeichnen ist. Zudem gewährleistet sie eine rechtsgleiche Behandlung aller Versicherten in ähnlicher Lage, müssen doch sämtliche Betroffenen gleichermassen mindestens einen vollen Monat Arbeitszeit nachweisen, um in den Genuss höherer als der (gekürzten) Pauschalansätze zu gelangen. Die Weisung des seco ist daher mit Gesetz und Verordnung vereinbar, sachlich begründet und führt im Einzelfall zu gerechten Ergebnissen.
 
d) Nach dem Gesagten steht einer Anwendung der Weisung auf den vorliegenden Fall nichts entgegen. Da der Beschwerdeführer somit "im Anschluss an eine Berufslehre" Arbeitslosenentschädigung bezogen hat, gelangen die Pauschalansätze zur Anwendung. Diese müssen überdies gekürzt werden (Erw. b hievor). Daher hat die Vorinstanz die Rückerstattungsverfügung zu Unrecht aufgehoben. Das kantonale Gericht hat in seinem Entscheid nicht nur die Weisung des seco unberücksichtigt gelassen, sondern auch widersprüchlich argumentiert.
 
Einerseits erwog es, der Beschwerdeführer habe Arbeitslosenentschädigung im Anschluss an eine Berufslehre bezogen, anderseits aber verneinte es die für solche Fälle vorgesehene Kürzung der Pauschalansätze, da das Leistungsbegehren nicht mehr direkt nach Abschluss der Berufslehre gestellt worden sei.
 
e) Da die ursprüngliche Verfügung der Arbeitslosenkasse, mit welcher dem Beschwerdeführer Taggelder aufgrund ungekürzter Pauschalansätze für den versicherten Verdienst zugesprochen worden sind, zweifellos unrichtig war und eine Berichtigung angesichts des zu viel ausgerichteten Betrages von erheblicher Bedeutung ist, sind die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung erfüllt (vgl. Erw. 1b hievor). Der Beschwerdeführer hat daher grundsätzlich die zu Unrecht bezogenen Leistungen zurückzuerstatten. Es bleibt ihm jedoch die Möglichkeit, ein Erlassgesuch zu stellen, was er bisher trotz des entsprechenden Hinweises in der vorinstanzlichen Verfügung vom 9. Oktober 2000 nicht getan hat.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
 
der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
 
Kantons Zürich vom 19. April 2001 aufgehoben.
 
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Arbeitslosenkasse der Gewerkschaft Bau & Industrie GBI, Zürich, dem Amt
 
für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenversicherung,
 
Zürich, zugestellt.
 
Luzern, 1. März 2002
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der I. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).