VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer H 76/2001  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer H 76/2001 vom 21.03.2002
 
[AZA 7]
 
H 76/01 Vr
 
IV. Kammer
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari;
 
Gerichtsschreiber Jancar
 
Urteil vom 21. März 2002
 
in Sachen
 
Q.________, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
A.- Q.________ war seit 8. Dezember 1993 einziges Verwaltungsratsmitglied der X.________ AG. Am 6. Januar 1999 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet. Am 21. Mai 1999 wurde das Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt. Mit Verfügung vom 3. November 1999 verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Zürich Q.________ zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Mahngebühren, Verzugszinsen und Betreibungskosten) im Betrag von Fr. 124'569. 35. Der Belangte erhob hiegegen Einspruch.
 
B.- Die Ausgleichskasse reichte am 11. Januar 2000 beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Klage ein mit dem Antrag, der Beklagte sei zu verpflichten, ihr Schadenersatz in Höhe von Fr. 104'531. 90 zu bezahlen. Mit Entscheid vom 25. Januar 2001 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Klage gut.
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Q.________ die Abweisung der Klage.
 
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Stellungnahme.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- a) Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 119 V 80 Erw. 1b, 118 V 69 Erw. 1b mit Hinweis).
 
b) Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
c) Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglichkeit, im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend eingeschränkt.
 
Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II 99 Erw. 1c, 120 V 485 Erw. 1b, je mit Hinweisen). Zwar ist der Verwaltungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht, wonach Verwaltung und Gericht von sich aus für die richtige und vollständige Abklärung des Sachverhalts zu sorgen haben; doch entbindet das die Rechtsuchenden nicht davon, selber die Beanstandungen vorzubringen, die sie anzubringen haben (Rügepflicht), und ihrerseits zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen (Mitwirkungspflicht). Unzulässig und mit der weit gehenden Bindung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts an die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung gemäss Art. 105 Abs. 2 OG unvereinbar ist es darum, neue tatsächliche Behauptungen und neue Beweismittel erst im letztinstanzlichen Verfahren vorzubringen, obwohl sie schon im kantonalen Beschwerdeverfahren hätten geltend gemacht werden können und - in Beachtung der Mitwirkungspflicht - hätten geltend gemacht werden müssen. Solche (verspätete) Vorbringen sind nicht geeignet, die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG erscheinen zu lassen (BGE 121 II 100 Erw. 1c, AHI 1994 S. 211 Erw. 2b mit Hinweisen).
 
2.- a) Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie die Rechtsprechung zur subsidiären Haftbarkeit der Organe (BGE 123 V 15 Erw. 5b, 108 V 202 Erw. 3a), zur Haftungsvoraussetzung des zumindest grobfahrlässigen Verschuldens (BGE 121 V 244 Erw. 4b, 108 V 186 Erw. 1b, 193 Erw. 2b; ZAK 1985 S. 576 Erw. 2, 619 Erw. 3a) und zum dabei zu berücksichtigenden - differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 202 Erw. 3a und 203 Erw. 3b) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.
 
b) Das kantonale Gericht hat mit zutreffender Begründung, auf die verwiesen wird (Art. 36a Abs. 3 OG), dargelegt, dass den Beschwerdeführer eine Schadenersatzpflicht im eingeklagten Umfang trifft.
 
c) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nichts, namentlich auch nicht in masslicher Hinsicht, vorgebracht, was die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz bezüglich Haftungsvoraussetzungen und Schadenshöhe als mangelhaft im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG oder die rechtliche Würdigung hiezu als bundesrechtswidrig erscheinen liesse.
 
aa) Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, trotz Fehlens von Venture Capital in den Jahren 1994 bis 1995 sei es ihm durch den Verkauf von Aktien erfolgreich gelungen, neue Mittel für die Firma zu beschaffen.
 
Die schlechte finanzielle Lage der X.________ AG sei dadurch entstanden, dass sie im Rahmen eines Prozesses gegen die Y.________ AG zur Bezahlung von Schadenersatz verpflichtet worden sei. Weiter sei ihr ein Schaden von Fr. 200'000.- infolge des Konkurses der Firma Z.________ AG entstanden. Im Weiteren hätten sich Verkaufsverhandlungen betreffend neuentwickelte Technologien mit Konkurrenten der Y.________ AG sowie Verhandlungen für ein grosses Sicherheitsprojekt zwischen der Bank A.________, der B.________ und der Gruppe C.________ zerschlagen. Zu beachten sei, dass die Firma N.________ das Produkt "G.________" der X.________ AG in ihre strategischen Papiere aufgenommen habe, sodass gute Geschäftsaussichten bestanden hätten, welche es erlaubt hätten, die Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen. Seine persönliche Solidarbürgschaft bei der Bank D.________ zeige, dass er alles unternommen habe, um die Firma zum Erfolg zu führen. Weiter habe er alle eigenen persönlichen Mittel für das Geschäft eingesetzt.
 
bb) Was den Konkurs der Firma Z.________ AG vom 14. Januar 1997 anbelangt, ist in keiner Weise belegt, dass die behauptete Forderung der X.________ AG kolloziert worden wäre. Aber selbst wenn dies zuträfe, würde es den Beschwerdeführer nicht entlasten. Denn es geht nicht an, das Schicksal einer Gesellschaft von der Bezahlung einer einzigen offenen Forderung abhängig zu machen. Gerade eine unsichere Forderung entbindet die verantwortlichen Organe aufgrund des finanziellen Risikos nicht, dafür besorgt zu sein, dass bis zu deren Begleichung nur so viele Löhne ausbezahlt werden, dass die Beitragsforderungen noch gedeckt sind oder dass mindestens die entsprechenden Sicherstellungen getätigt werden (SVR 1995 AHV Nr. 70 S. 214 Erw. 5).
 
Die Berufung auf den verlorenen Prozess gegenüber der Y.________ AG ist ebenfalls unbehelflich. Denn das entsprechende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts ist am 7. September 1998, also nur vier Monate vor Konkurseröffnung ergangen, und der Beschwerdeführer hat mit der Y.________ AG noch Ende Oktober 1998 über die Begleichung der Forderung verhandelt. Dieser Prozess vermag mithin nicht zu erklären, weshalb die Beiträge regelmässig seit 1996 nicht bezahlt wurden.
 
Es ist zwar nicht auszuschliessen, dass es einem Arbeitgeber, der sich in angespannter finanzieller Lage befindet, durch das Nichtbezahlen der Beiträge gelingt, die Existenz seines Unternehmens zu retten. Ein solches Vorgehen führt praxisgemäss allerdings nur dann nicht zu einer Haftung gemäss Art. 52 AHVG, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt seiner Entscheidung aufgrund der objektiven Umstände und einer seriösen Beurteilung der Lage damit rechnen durfte, dass er die Forderung der Ausgleichskasse innert nützlicher Frist würde befriedigen können (BGE 108 V 188 Erw. 2, bestätigt in BGE 121 V 243). Aus den zu berücksichtigenden Unterlagen sind jedoch keinerlei Hinweise oder konkrete Massnahmen ersichtlich, welche dem Beschwerdeführer, der sich der finanziellen Probleme bewusst war, bei objektiver Betrachtungsweise die Annahme erlaubt hätten, die Gesellschaft könnte durch die Nichtbezahlung der Sozialversicherungsbeiträge saniert und die Beiträge könnten innert nützlicher Frist nachbezahlt werden. Insbesondere geht aus den Akten nicht hervor, dass die Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge überhaupt aufgrund einer ins Auge gefassten Sanierung aufgeschoben wurde. Vielmehr geht aus dem Schreiben der Y.________ AG an den Beschwerdeführer vom 27. Oktober 1998 hervor, dass kein Sanierungsplan vorlag.
 
Gerade in einer solchen Situation hätte der Beschwerdeführer als einziger Verwaltungsrat der Gesellschaft dafür besorgt sein müssen, dass bis zur Bezahlung der Beitragsforderung nur so viele Löhne ausbezahlt werden, dass die Beiträge gedeckt sind. Hier aber wurden seit 1996 Löhne ausbezahlt, ohne darauf die geschuldeten Beiträge zu bezahlen.
 
cc) Dass nach dem Konkurs der X.________ AG aufgelaufene Beiträge für den einzigen noch verbliebenen Mitarbeiter durch das Konkursamt bezahlt worden sein sollen, ist im vorliegenden Verfahren irrelevant.
 
dd) Unbehelflich ist die Berufung des Beschwerdeführers auf das Eingehen einer Solidarbürgschaft gegenüber der Bank D.________, da damit keine Beiträge bezahlt wurden (nicht veröffentlichtes Urteil R. vom 20. Juli 2000 Erw. 5b, H 396/99). Im Übrigen konnte er diese Bürgschaft, die nach dem Konkurs der Firma eingefordert wurde, mangels Aktiven gar nicht erfüllen.
 
Der Umstand, dass er, wie er geltend macht, alle seine privaten Mittel investiert haben soll, vermag ihn praxisgemäss nicht zu entlasten, weil in einem solchen Verhalten kein Rechtfertigungsgrund für die verletzte Beitragszahlungspflicht liegt (nicht veröffentlichtes Urteil J. vom 4. September 2001 Erw. 2c, H 18/01).
 
ee) Nichts zu seinen Gunsten ableiten kann der Beschwerdeführer aus dem Einwand, der Wechsel des Firmensitzes von E.________ nach F.________ habe zu administrativen Problemen bei der Abrechnung der Ausgleichskasse geführt und er habe von ihr eine genaue Aufstellung der in E.________ und F.________ bezahlten Beiträge verlangt, die aber nicht gemacht worden sei.
 
ff) Irrelevant ist im Weiteren das Vorbringen des Beschwerdeführers, die AHV-Gesetzgebung sei ihm nicht im Detail bekannt gewesen. Denn niemand kann aus seiner Rechtsunkenntnis Vorteile ableiten (BGE 124 V 220 Erw. 2b/aa mit Hinweisen).
 
gg) Der Beschwerdeführer hat im letztinstanzlichen Prozess weitere Dokumente - Geheimhaltungsverpflichtung mit der Y.________ AG vom 20. April 1994, ein Schreiben an Rechtsanwalt J.________ vom 6. Oktober 1998, eine Einladung zur 2. Gläubigerversammlung betreffend den Konkurs über die Firma Z.________ AG (undatiert), einen Revisionsbericht der Treuhand I.________ betreffend Jahresrechnung 1997 der X.________ AG, ein Schreiben an lic. oec. publ. S.________ vom 2. Mai 1997 sowie Schreiben der Lebensversicherungs-Gesellschaft H.________ vom 12. Januar und 25. Februar 1999 - eingereicht, welche der Vorinstanz nicht bekannt waren.
 
Diese Unterlagen bzw. deren Einholung bei Dritten hätte er bereits im kantonalen Verfahren vornehmen bzw. einreichen können und im Rahmen der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten müssen. Daher handelt es sich bei diesen Beweismitteln um unzulässige Noven (vgl. Erw. 1c hiervor), welche nicht berücksichtigt werden können. Aber selbst wenn diese Unterlagen als zulässige Beweismittel entgegengenommen werden könnten, vermöchten sie den Beschwerdeführer in keiner Weise zu entlasten.
 
3.- Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Entsprechend dem Ausgang des Prozesses gehen die Gerichtskosten zulasten des Beschwerdeführers (Art. 156 Abs. 1 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit
 
darauf einzutreten ist.
 
II.Die Gerichtskosten von total Fr. 5000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 21. März 2002
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der IV. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).