BGer U 369/2000 | |||
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BGer U 369/2000 vom 22.03.2002 | |
[AZA 7]
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U 369/00 Vr
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III. Kammer
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Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Nussbaumer
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Urteil vom 22. März 2002
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in Sachen
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L.________,1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch ihren Vater, und dieser vertreten durch den Rechtsdienst A.________,
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gegen
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Visana Versicherungen AG, Juristischer Dienst, Weltpoststrasse 19/21, 3000 Bern, Beschwerdegegnerin,
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und
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Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
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A.- L.________ (geb. 1968) schloss im Jahre 1990 ihre Lehre als Krankenschwester im Spital X.________ ab. Gegen Ende dieser Ausbildung traten erstmals psychische Probleme auf. Zwischen 1989 und Mai 1990 führte L.________ aus diesem Grund regelmässig Gespräche mit einer Gemeindehelferin. Anschliessend begab sie sich bei Dr. med. K.________, Psychiater, in Behandlung. Nach zwei Konsultationen am 11. und 22. Mai 1990 brach sie die Behandlung wieder ab. Vom 25. Juni bis 6. Juli 1990 war sie in der Klinik C.________ für Psychosomatik wegen mehrmaliger Suiziddrohungen hospitalisiert. Ab Mai 1991 hielt sie sich während eines Jahres als "Lebensschülerin" in der Wohngemeinschaft M.________ auf, wo sie anschliessend als Angestellte tätig war. Am 15. September 1992 trat sie die Stelle als Krankenschwester im Spital Y.________ an und war dadurch bei der Visana Versicherungen AG obligatorisch gegen Unfall versichert. Am 20. Dezember 1992 unternahm sie einen Suizidversuch, indem sie sich an ihrem Arbeitsplatz verschiedene Medikamente besorgte, welche sie sich als Kurzinfusion oder oral zuführte. Kurz darauf wurde sie bewusstlos in ihrer Wohnung aufgefunden und hospitalisiert. Seither ist sie wegen schwerster Hirnschädigungen massiv pflegebedürftig.
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Am 13. März 1997 liess L.________ den Suizidversuch als Unfall anmelden. Die Visana Versicherungen AG traf Sachverhaltsabklärungen bei den Eltern der Versicherten, zog Berichte der Klinik C.________ für Psychosomatik vom 23. Juli 1990 sowie der Abteilung für Neuropsychologische Rehabilitation des Spitals Z.________ vom 28. Mai 1993 bei und holte Berichte des Spitals Y.________ vom 21. Juli 1997 und des Dr. med. H.________, Psychiatrie/Psychotherapie FMH, vom 30. Oktober 1997 ein. Mit Verfügung vom 1. April 1998 verneinte sie ihre Leistungspflicht, da kein Unfall im Sinne des Unfallversicherungsrechts vorliege. Die hiegegen erhobene Einsprache wies sie nach Einholung eines Berichts des Psychiaters Dr. med. K.________ vom 2. Oktober 1998 mit Entscheid vom 30. November 1998 ab.
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B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 27. Juli 2000 ab.
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C.- L.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, die Leistungspflicht anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen für die Folgen des Unfalls vom 20. Dezember 1992 auszurichten. Eventuell sei eine umfassende psychiatrische Abklärung zu veranlassen.
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Die Visana Versicherungen AG schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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1.- a) Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalls, Nichtberufsunfalls oder einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 UVG). Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper (Art. 9 Abs. 1 UVV). Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG mit Ausnahme der Bestattungskosten kein Anspruch auf Versicherungsleistungen. Indessen findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).
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b) Nach der Rechtsprechung muss der Leistungsansprecher, da er das Vorliegen eines Unfalles zu beweisen hat, auch die Unfreiwilligkeit der Schädigung und - bei Suizid - die Urteilsunfähigkeit nach Art. 16 ZGB zur Zeit der Tat nachweisen (RKUV 1996 Nr. U 247 S. 171 Erw. 2a, 1988 Nr. U 55 S. 362 Erw. 1b; nicht veröffentlichtes Urteil I. vom 24. September 1999, U 54/99, Erw. 4a/bb). Den Parteien obliegt jedoch in dem von der Untersuchungsmaxime beherrschten Sozialversicherungsprozess keine subjektive Beweislast im Sinne von Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht im Sozialversicherungsprozess nur in dem Sinne, dass im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes aufgrund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen).
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Weil die Frage der Urteilsfähigkeit aufgrund von inneren Tatsachen (innerseelische Abläufe) zur Zeit einer bestimmten Handlung zu beurteilen (BGE 113 V 63 unten) und ein strikter Beweis nach der Natur der Sache ausgeschlossen ist, dürfen an den Nachweis der Urteilsunfähigkeit keine strengen Anforderungen gestellt werden. Der Beweis der Urteilsunfähigkeit gilt als geleistet, wenn eine durch übermächtige Triebe gesteuerte Suizidhandlung als wahrscheinlicher erscheint als ein noch in erheblichem Mass vernunftgemässes und willentliches Handeln (RKUV 1996 Nr. U 267 S. 311 Erw. 2c; nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 1. Juli 1993, U 136/92, Erw. 6b, welches - wie in RKUV 1996 Nr. U 267 S. 311 Erw. 2d ausdrücklich festgehalten wird - an der bisherigen Rechtsprechung nichts geändert hat).
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c) Aufgabe des medizinischen Experten ist es, den Geisteszustand des Untersuchten möglichst genau zu beschreiben und aufzuzeigen, ob und in welchem Masse sein geistiges Vermögen bei der fraglichen Handlung versagt hat. Welche rechtlichen Schlüsse aus dem Ergebnis der medizinischen Begutachtung zu ziehen sind, entscheidet der Richter (BGE 98 Ia 325 Erw. 3 mit Hinweisen; Bucher, Berner Kommentar, N 151 zu Art. 16 ZGB; vgl. auch BGE 114 V 314 Erw. 3c und 112 V 32; nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 1. Juli 1993, U 136/92, Erw. 6b).
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2.- a) Der Psychiater Dr. med. K.________, welchen die Versicherte am 11. und 22. Mai 1990 zu zwei Konsultationen aufsuchte, diagnostiziert im Bericht vom 2. Oktober 1998 eine depressive Neurose bei ängstlich-selbstunsicherer junger Frau mit Selbstwertproblematik, Existenzkrisen und selbstaggressiven Impulsen bei strenger Über-Ich-Struktur. Seiner Auffassung nach bestand eine tiefgreifende Störung, eine Geisteskrankheit sei jedoch nicht feststellbar gewesen. Ferner erwähnt Dr. med. K.________, dass die Versicherte immer wieder in depressiv-resignative bzw. depressiv-verzweifelte Zustände geraten sei und dabei auch Suizidgedanken entwickelt habe.
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Nach dem Bericht der Klinik C.________ für Psychosomatik vom 23. Juli 1990, wo die Versicherte vom 25. Juni bis 6. Juli 1990 hospitalisiert war, wird die Diagnose einer neurotisch-depressiven Entwicklung mit Suizidalität bei massiven Überforderungstendenzen diagnostiziert. Beim Eintritt in die Klinik sei die Versicherte in einem klaren Bewusstseinszustand und allseits orientiert gewesen. Sie habe aber eher ernst und ausgeglichen, höflich und zurückhaltend gewirkt. Sinnestäuschungen und Wahnideen seien keine vorhanden gewesen. Auch scheine sie nicht suizidal. Das Gedächtnis sei normal und der Gedankengang logisch. Während des zweiwöchigen Aufenthaltes habe die mehrschichtige Problematik recht offen, aber eher nur ansatzweise besprochen werden können. Beim Austritt habe die Versicherte wieder zunehmend ängstlich gewirkt und habe wieder nur noch Berge gesehen. Sie habe wegen der Ausbildung (Erwartungsdruck) nicht länger bleiben wollen, weshalb sie in einem ansatzweise gebesserten Zustand wieder in die alten Verhältnisse entlassen worden sei.
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Die Abteilung für Neuropsychologische Rehabilitation des Spitals Z.________, wo die Versicherte vom 13. April bis 1. Juni 1993 hospitalisiert war, hält im Bericht vom 28. Mai 1993 fest, wenngleich sichere Hinweise fehlten, sei doch eine beginnende Psychose vor dem Suizidversuch nicht ganz auszuschliessen. Die behandlungsbedürftige Depression, soziale Kontaktstörungen sowie die auffälligen Tatsachen, dass die Versicherte aus eigenen Stücken in einer psychiatrischen WG gewohnt habe, seien Anhaltspunkte hiefür.
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Dr. med. B.________, Chefarzt Medizin des Spitals Y.________, wo die Versicherte gearbeitet hatte, führt im Schreiben vom 23. April 1996 an die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin aus, als offizieller Hausarzt der Therapeutischen Wohngemeinschaft M.________ habe er indirekt auch in hausärztlicher Funktion mit der Versicherten zu tun gehabt. Es sei allen bekannt gewesen, dass die Versicherte seit längerer Zeit wegen massiven psychischen Schwierigkeiten und Depressionen behandelt werden musste. Der Suizidversuch selbst sei aber trotzdem für alle völlig überraschend aufgetreten, wobei die Versicherte zum Zeitpunkt des Ereignisses sicher unfähig gewesen sei, vernunftsgemäss zu handeln. Retrospektiv gesehen habe sie wahrscheinlich wieder in einer tieferen Depression, als von aussen her vermutet werden konnte, gesteckt. Die frühere Aussage, dass die Erwerbsunfähigkeit absichtlich herbeigeführt worden sei, sei medizinisch völlig unhaltbar, angesichts der schweren vorbestehenden Krankheit. Das Suizidereignis sei in dem Sinne plötzlich und unerwartet aufgetreten, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo die Zurechnungsfähigkeit ganz klar nicht gegeben gewesen sei. Im Arztzeugnis UVG vom 21. Juli 1997 verneint Dr. med. B.________ demgegenüber die Frage, ob ausschliesslich Unfallfolgen vorliegen, und führt zur Begründung an, es handle sich ausschliesslich um Folgen der schweren Depression.
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Dr. med. H.________, Psychiatrie/Psychotherapie FMH, führt im Bericht vom 30. Oktober 1997 an die Beschwerdegegnerin aus, bei Durchsicht der Akten zeigten sich keine Hinweise dafür, dass bei der Versicherten je eine Geisteskrankheit vorgelegen hatte. Da bereits früher im Jahre 1990 eine neurotische Depression bei Überforderungssituation gestellt worden sei, könne angenommen werden, dass dies auch anlässlich des Suizidversuchs vor Weihnachten 1992 der Fall gewesen sei. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die bevorstehende Weihnachtszeit eine Rolle gespielt habe. Der Abschiedsbrief wirke völlig klar. Da keine Geisteskrankheit vorgelegen habe, sei auch keine Urteilsunfähigkeit gegeben. Es sei heute bei forensischen Begutachtungen fast unmöglich geworden, auch bei eindeutig vorhandenen Geisteskrankheiten eine vollständige Unzurechnungsfähigkeit nachzuweisen. Interessanterweise werde dagegen aber bei Suizidversuchen praktisch immer versucht, eine Urteilsunfähigkeit zu erreichen, sogar wenn keine Geisteskrankheit vorliege.
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b) Gestützt auf diese medizinischen Akten ist mit dem kantonalen Gericht - ohne dass es zusätzlicher Abklärungen bedürfte - davon auszugehen, dass eine Geisteskrankheit beweismässig nicht erstellt ist, sich die Beschwerdeführerin jedoch in einem depressiven Zustand befand, dessen Schwere sich im Nachhinein nicht mehr feststellen lässt. Die Vorgehensweise der Beschwerdeführerin (sie musste sich am Arbeitsplatz Medikamente und das Insulin beschaffen, welche sie sich auf dem Zimmer oral und durch Injektion zuführte) sowie der am Vortag des Suizidversuchs geschriebene Abschiedsbrief, welcher verständlich und klar abgefasst war, weisen auf eine geplante, vorbereitete Handlung hin. Dr. med. H.________, auf dessen Ausführungen mit dem kantonalen Gericht abzustellen ist, verneint denn auch eine Urteilsunfähigkeit der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Suizidversuches. Soweit Dr. med. B.________ im Schreiben vom 23. April 1996 eine andere Auffassung vertritt, kann ihm nicht gefolgt werden, zumal er seine Stellungnahme im Arztzeugnis UVG vom 21. Juli 1997 relativiert. Auf Grund der gesamten Aktenlage ist mithin ein noch in erheblichem Masse vernunftgemässes und willentliches Handeln wahrscheinlicher als ein Handeln im Zustand voller Urteilsunfähigkeit. Aus diesem Grund muss ein Unfall und damit die Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin verneint werden.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht
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des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
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Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
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zugestellt.
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Luzern, 22. März 2002
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Im Namen des
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Eidgenössischen Versicherungsgerichts
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Der Präsident der III. Kammer:
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Der Gerichtsschreiber:
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