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Informationen zum Dokument  BGer 1P.28/2002  Materielle Begründung
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BGer 1P.28/2002 vom 09.04.2002
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.28/2002/bmt
 
Urteil vom 9. April 2002
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, Bundesrichter Aeschlimann, Ersatzrichter Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Tophinke.
 
Y.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Gerhard Hofmann, Steinbrüchel Hüssy, Grossmünsterplatz 8, Postfach, 8024 Zürich,
 
gegen
 
S.X.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas Dufner, Kirchstrasse 24A, Postfach 1332, 8580 Amriswil,
 
Stadtrat Bischofszell, Flurkommission, Rathaus, Marktgasse 11, 9220 Bischofszell,
 
Departement für Inneres und Volkswirtschaft des Kantons Thurgau, Verwaltungsgebäude, 8501 Frauenfeld,
 
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Frauenfelderstrasse 16, 8570 Weinfelden.
 
Flurstreitigkeit
 
(Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 31. Oktober 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
S.X.________ und Y.________ sind Eigentümerin bzw. Eigentümer benachbarter Grundstücke in Bischofszell. Auf dem Grundstück von Y.________ stehen an der Grenze zum Grundstück von S.X.________ mehrere Bäume, die zumindest mehrheitlich vor 1958 gepflanzt worden sind. Im Jahre 1992 leiteten S.X.________ und ihr Ehemann K.X.________ gegen Y.________ ein Verfahren ein, wonach die Bäume zu fällen seien. Das Verfahren endete mit rechtskräftigem Entscheid des Departements für Inneres und Volkswirtschaft des Kantons Thurgau (DIV) vom 12. Februar 1993, wonach einige der Bäume zu fällen seien, andere hingegen nicht. Der Entscheid stützte sich auf das am 1. Oktober 1958 in Kraft getretene Flurgesetz vom 6. Februar 1958, wonach für die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gepflanzten Bäume ein begrenzter Bestandesschutz galt, indem sie nur gefällt werden mussten, wenn sie zu einer ungerechtfertigten, den Nachbarn erheblich schädigenden oder beeinträchtigenden Einwirkung führten.
 
B.
 
Am 1. Januar 1997 trat das neue Gesetz vom 7. Februar 1996 über Flur und Garten (FlGG) in Kraft, wodurch das Flurgesetz vom 6. Februar 1958 aufgehoben wurde. Nach § 5 Abs. 1 FlGG dürfen Bäume nie höher gehalten werden als das Doppelte ihres Grenzabstandes. Als Übergangsbestimmung legt § 35 FlGG fest, dass für Verfahren, welche vor dem Inkrafttreten des Gesetzes anhängig gemacht worden sind, das bisherige Recht gilt.
 
C.
 
Am 10. Februar 2000 erhob S.X.________ bei der Flurkommission von Bischofszell Klage gegen Y.________ mit dem Begehren, bezüglich der entlang der gemeinsamen Grenze stehenden Pflanzungen den flurgesetzlichen Zustand gemäss § 5 FlGG herzustellen. Die Flurkommission Bischofszell hiess am 15. August 2000 das Begehren gut und verpflichtete Y.________, den flurgesetzlichen Zustand herzustellen. Sie erwog, das neue FlGG sei auch auf die vor seinem Inkrafttreten gepflanzten Bäume anwendbar. Infolge dieser geänderten Rechtslage stehe der rechtskräftige Entscheid aus dem Jahre 1993 einer neuen Beurteilung nicht entgegen. Y.________ erhob dagegen erfolglos Rekurs an das DIV und anschliessend Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau. Dieses wies das Rechtsmittel mit Urteil vom am 31. Oktober 2001, zugestellt am 27. November 2001, ab, soweit es darauf eintrat.
 
D.
 
Y.________ erhob am 11. Januar 2002 staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Streitsache zur neuen Entscheidung zurückzuweisen. Zudem beantragte er Erteilung der aufschiebenden Wirkung. Diese wurde mit Verfügung des Präsidenten der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 14. Februar 2002 zuerkannt.
 
E.
 
S.X.________, das DIV und das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau beantragen Abweisung der Beschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das FlGG, auf welches sich der angefochtene, kantonal letztinstanzliche Endentscheid stützt, ist vorbehaltenes kantonales Privatrecht im Sinne von Art. 5 Abs. 1 und Art. 688 ZGB. Es ist kein anderes bundesrechtliches Rechtsmittel gegeben (vgl. Art. 43 OG). Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher zulässig (Art. 84 Abs. 2, Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 OG). Die Beschwerdefrist ist in Beachtung der Gerichtsferien eingehalten (Art. 34 Abs. 1 lit. c und Art. 89 OG). Der Beschwerdeführer ist als Eigentümer der Bäume, die gemäss dem angefochtenen Entscheid gefällt werden müssen, zur Beschwerde legitimiert (Art. 88 OG). Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist einzutreten.
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, § 5 FlGG verletze so, wie diese Bestimmung von den kantonalen Instanzen ausgelegt und angewendet worden sei, die Eigentumsgarantie und die Rechtsgleichheit. Er anerkennt zwar das Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage und eines öffentlichen Interesses, hält aber die Vorschrift in Bezug auf die vor 1958 gepflanzten Bäume für unverhältnismässig. Die Regelung sei zwar allenfalls geeignet, die angestrebten öffentlichen Ziele zu erreichen, aber nicht erforderlich und zudem nicht verhältnismässig im engeren Sinne. Auch die alte Regelung habe eine - weniger einschneidende - Regelung des nachbarlichen Zusammenlebens ermöglicht. Es sei nicht anzunehmen, dass durch § 5 FlGG die Anzahl der Nachbarstreitigkeiten abnehmen werde. Diese Regelung führe zu einer neuen Verteilung von rechtlichen Machtmitteln zwischen Nachbarn, aber weder generell noch im vorliegenden Fall zu einer Verbesserung des nachbarlichen Verhältnisses. Er habe seine Liegenschaft gerade wegen der schönen Bäume und Gartenanlage gekauft und verliere nun die durch das alte Gesetz geschützte Rechtsposition. Zudem unterlasse die Regelung gebotene Unterscheidungen, indem es alle Bäume gleich behandle, obwohl es sich aufdränge, alte, nach dem früheren Recht bestandesgeschützte Pflanzen anders zu behandeln als Neupflanzungen oder solche Bäume, die bereits nach dem bisherigen Recht unzulässig waren.
 
2.2 Das DIV macht geltend, es gehe im vorliegenden Fall nicht um einen staatlichen Eingriff, sondern um eine privatrechtliche Regelung, so dass sich eine Prüfung der Verletzung verfassungsmässiger Rechte im Rahmen einer akzessorischen Normenkontrolle erübrige.
 
Alles staatliche Recht, auch das Zivilrecht, muss sich an die verfassungsrechtliche Ordnung halten (vgl. auch Art. 35 Abs. 1 BV). Zwar ist das Bundeszivilrecht aufgrund von Art. 191 BV für die Gerichte massgebend, auch wenn es verfassungswidrig ist (BGE 125 III 209 E. 5). Hingegen findet Art. 191 BV für kantonales Zivilrecht keine Anwendung. Dieses ist daher akzessorisch auf seine Verfassungsmässigkeit überprüfbar. Dies heisst allerdings nicht, dass die Regeln, welche für die Beurteilung öffentlichrechtlicher Grundrechtseingriffe aufgestellt worden sind, unbesehen auf privatrechtliche Verhältnisse übertragen werden können. Diese Regeln beruhen ideengeschichtlich auf der Vorstellung einer grundsätzlich staatsfreien Gesellschaft, in welche der Staat (mit dem öffentlichen Recht) nur unter besonderen Voraussetzungen eingreifen darf. Die staatlichen Eingriffe erscheinen in dieser Vorstellung als grundsätzlich entbehrlich und daher rechtfertigungsbedürftig. Demgegenüber wäre auch in einer (theoretischen) staatsfreien Gesellschaft eine Regelung des Verhältnisses zwischen den Privaten unentbehrlich. Dies ist die traditionelle Aufgabe des Privatrechts, welches wesensgemäss die Interessensphären zwischen Privaten abgrenzt und damit unvermeidlich der Freiheit des einen Schranken setzen muss, um die Freiheit des andern zu schützen. In dieser unausweichlichen Abgrenzung der Interessensphären kann für sich allein noch keine Grundrechtsverletzung liegen. Die Verfassung ist erst verletzt, wenn die Schrankenziehung in einer nicht mehr vertretbaren Weise erfolgt, indem sie dem einen ein Verhalten verbietet oder vorschreibt, ohne dass dies mit dem Schutz berechtigter Interessen anderer gerechtfertigt werden kann (vgl. BGE 125 III 185 E. 4a und c; 120 II 76 E. 5c).
 
2.3 Bäume an der Grenze zwischen zwei Grundstücken führen zwangsläufig und gerichtsnotorisch zu Interessenkonflikten. Was dem einen Nachbarn gefällt oder erwünschten Sichtschutz bietet, bedeutet für den andern ungewollten Schattenwurf und Verlust der Aussicht. Jede gesetzliche Regelung muss die eine oder die andere Seite mehr oder weniger stark benachteiligen. Der thurgauische Gesetzgeber hat in dieser Konfliktsituation eine Lösung getroffen, welche vertretbar ist. Sie kann nicht schon deshalb unzulässig sein, weil sie nicht im strengen Sinne notwendig ist. Wohl wären andere Regelungen, die dem baumbesitzenden Eigentümer mehr entgegenkommen, auch möglich und denkbar, doch gingen sie einfach zulasten der anderen beteiligten Seite. Es ist auch nicht unzulässig, diese Gewichtung in einem neuen Gesetz anders zu treffen als im bisherigen. Es liegt im Wesen des demokratischen Staates, dass der Gesetzgeber aufgrund gewandelter Anschauungen und Wertungen die einmal erlassenen Gesetze wieder revidieren kann. Dass dadurch die gegenseitige rechtliche Situation der Betroffenen verändert wird, ist die normale Folge einer Gesetzesänderung und kann für sich allein nicht zu deren Unzulässigkeit führen. Sodann darf der Gesetzgeber auch das Interesse an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit berücksichtigen und eine Regelung aufstellen, die anders als die bisherige nicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abstellt, sondern eine eindeutige quantitative Grenze festlegt.
 
2.4 Schliesslich ist es weder unverhältnismässig noch rechtsungleich, die gesetzliche Regelung auch auf altrechtliche Bäume anzuwenden. Dass neues Recht auf Sachverhalte angewendet wird, die zwar unter altem Recht begründet worden sind, aber unter dem neuen Recht andauern (unechte Rückwirkung), ist verfassungsrechtlich zulässig, sofern nicht wohlerworbene Rechte entgegenstehen (BGE 124 III 266 E. 4e S. 271 f., mit Hinweisen). Die Anwendung des neuen Rechts ist namentlich auch im Bundeszivilrecht für die Umschreibung des Eigentumsinhalts vorgesehen (Art. 17 Abs. 2 SchlT ZGB), wozu grundsätzlich auch die Bestimmungen des Nachbarrechts gehören (Paul Mutzner, in Berner Kommentar, 2. Aufl. 1926, N 57 ff. zu Art. 17 SchlT ZGB). Eine Bestandesgarantie für altrechtlich begründete Sachverhalte wird demgegenüber im Baurecht angenommen (vgl. z.B. Art. 24c des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1979 über die Raumplanung, Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700). Dies findet seine innere Rechtfertigung darin, dass Bauten oft für den Eigentümer oder Benutzer von existenzieller Bedeutung sind und typischerweise einen erheblichen wirtschaftlichen Wert darstellen, der durch den Abbruch vernichtet würde. Ersteres trifft in der Regel für Bäume nicht zu. Deren wirtschaftlicher Wert kann durch das Fällen unter Umständen gerade realisiert werden. Die in Bezug auf Bauten üblichen Besitzstandsgarantien müssen daher nicht auf Bäume angewendet werden. Damit besteht kein verfassungsrechtlicher Grund, welcher es als zwingend erscheinen liesse, die unter dem alten Recht gepflanzten Bäume anders zu behandeln als neurechtliche. Insgesamt ist die thurgauische Gesetzgebung, welche auch die vorbestehenden Bäume dem neuen Recht unterstellt, verfassungsmässig.
 
2.5 Der Beschwerdeführer macht auch nicht besondere Gründe geltend, welche das Fällen der Bäume in seinem Fall als unverhältnismässig erscheinen liessen. Er bringt einzig vor, damit gehe die über Jahre gepflegte Gartenanlage verlustig. Indessen bedürfen die hier fraglichen Bäume gerichtsnotorisch keiner besonderen Pflege. Auch wird der Garten des Beschwerdeführers im Übrigen nicht beeinträchtigt. Dass optisch das Grundstück nach der Fällung anders aussehen wird als vorher, ist weder unverhältnismässig noch rechtsungleich.
 
3.
 
3.1 Der Beschwerdeführer rügt weiter eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Willkürverbots. Das Verwaltungsgericht habe auf S. 14 seines Entscheids ausgeführt, er - der Beschwerdeführer - wäre durch das Gesetz nicht betroffen, wenn er die Bäume an einem andern Ort gepflanzt hätte; zudem sei nicht belegt, dass die Bäume gefällt werden müssten, weil man sie nicht zurückschneiden könne. Zu diesen beiden Sachverhaltsbehauptungen habe er sich nicht äussern und Beweis führen können, wodurch sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei. Ferner seien die Behauptungen willkürlich: Er habe die Liegenschaft erst in den 80er Jahren gekauft, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Bäume nicht mehr hätten verpflanzt werden können. Es sei zudem einsichtig, dass man die Bäume nicht in ihrer Höhe zurückstutzen könnte.
 
3.2 Die Rügen sind offensichtlich unbegründet. Mit der Aussage, der Beschwerdeführer wäre durch das neue Gesetz nicht betroffen, wenn er die Bäume an einem andern Ort gepflanzt hätte, hat das Verwaltungsgericht nur eine Selbstverständlichkeit klargestellt. Ob die Bäume durch den Beschwerdeführer selber oder einen seiner Rechtsvorgänger gepflanzt worden sind, ist unerheblich. Was das Zurückschneiden betrifft, hat das Verwaltungsgericht klar festgehalten, dass diese Frage am Ausgang des Verfahrens ohnehin nichts zu ändern vermöchte. Es erübrigte sich, darüber Beweis zu führen oder dem Beschwerdeführer nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme einzuräumen.
 
4.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich damit als unbegründet. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 153 und Art. 153a OG). Dieser hat zudem der privaten Beschwerdegegnerin die Parteikosten zu ersetzen (Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Stadtrat Bischofszell, Flurkommission, sowie dem Departement für Inneres und Volkswirtschaft und dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 9. April 2002
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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