BGer 1A.118/2002 | |||
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BGer 1A.118/2002 vom 28.06.2002 | |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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1A.118/2002 /zga
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Urteil vom 28. Juni 2002
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I. Öffentlichrechtliche Abteilung
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Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
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Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
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Gerichtsschreiberin Gerber.
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X.________,
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Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin lic.iur. Daniela Thiel-Panico, Dorfstrasse 16, Postfach 255, 6341 Baar,
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gegen
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Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, Bundesrain 20, 3003 Bern.
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Auslieferung an Deutschland - B 131141,
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Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Bundesamts für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, vom 7. Mai 2002.
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Sachverhalt:
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A.
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Am 24. Januar 2002 ersuchte das Justizministerium Baden-Württemberg um die Auslieferung von X.________ zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 24. August 1988 wegen mehrfachen Betrugs, Verletzung der Buchführungspflicht, Bankrotts, falscher Versicherung an Eides statt und Umsatzsteuerhinterziehung. Mit Beschluss vom 27. August 1993 hatte das Amtsgericht Ludwigsburg die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, weil der Verurteilte gegen die Auflage, nach Kräften den durch seine Taten verursachten Schaden wiedergutzumachen, gröblich und beharrlich verstossen habe und seinen Wohnsitz gewechselt habe, ohne dies weisungsgemäss dem Amtsgericht mitzuteilen.
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B.
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Am 14. März 2002 erliess das Bundesamt für Justiz einen Auslieferungshaftbefehl gegen X.________. Dieser wurde am 19. März 2002 verhaftet und befindet sich seither in Auslieferungshaft.
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C.
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Am 7. Mai 2002 bewilligte das Bundesamt für Justiz die Auslieferung von X.________ an Deutschland für die dem Auslieferungsersuchen des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 24. Januar 2002 zugrunde liegenden Straftaten, mit Ausnahme der Umsatzsteuerhinterziehung.
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D.
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Hiergegen erhob X.________ am 7. Juni 2002 Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht. Er beantragt, der Auslieferungsentscheid sei aufzuheben und die Auslieferung abzulehnen; eventualiter sei die noch zu verbüssende Strafe in der Schweiz zu vollziehen. Er ersucht um die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und der Verbeiständung in der Person von Rechtsanwältin Daniela Thiel-Panico.
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E.
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Das Bundesamt für Justiz beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. In seiner Replik hält der Beschwerdeführer an seinen Anträgen fest.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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1.1 Auslieferungsfragen sind in erster Linie aufgrund der massgebenden Staatsverträge zu entscheiden. Im vorliegenden Fall gilt das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe; SR 0.353.1) samt Zweitem Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 (SR 0.353.12), dem sowohl die Schweiz als auch Deutschland beigetreten sind, ferner der ergänzende Vertrag zwischen diesen beiden Staaten vom 13. November 1969 (Zusatzvertrag, ZV; SR 0.353.913.61). Das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG; SR 351.1) und seine Verordnung vom 24. Februar 1982 (IRSV; SR 351.11) kommen nur zur Anwendung, wenn eine staatsvertragliche Regelung fehlt oder die Voraussetzungen und Bedingungen der Auslieferung nicht abschliessend regelt, oder wenn das innerstaatliche Recht das für die Auslieferung günstigere Recht darstellt (BGE 122 II 140 E. 2 S. 141 f., 373 E. 1a S. 375).
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1.2 Gegen den Auslieferungsentscheid des Bundesamtes ist unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig (Art. 55 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 IRSG). Auf die rechtzeitig erhobene Beschwerde des legitimierten Beschwerdeführers ist einzutreten.
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2.
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Es ist unbestritten, dass die Auslieferungsvoraussetzungen gemäss EAUe und Zusatzvertrag vorliegen und dass keiner der im EAUe ausdrücklich genannten Verweigerungsgründe gegeben ist. Insbesondere ist weder nach deutschem noch nach schweizerischem Recht bisher die Vollstreckungsverjährung eingetreten (Art. 10 EAUe; vgl. § 79 Abs. 3 Ziff. 3 i.V.m. § 79a Ziff. 2 lit. b deutsches StGB und Art. 73 Ziff. 1 i.V.m. Art. 74 schweizerisches StGB).
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3.
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3.1 Der Beschwerdeführer macht jedoch geltend, der Auslieferungsentscheid verletze Art. 8 Ziff. 1 EMRK: Er lebe seit Mai 2000 im Kanton Zug in der Schweiz und habe am 2. Juli 2000 eine Schweizer Bürgerin geheiratet, die schon seit 20 Jahren im Kanton Zug lebe. Er habe sich in Baar integriert und habe seit dem 1. Oktober 2000 eine feste Anstellung bei der A.________. Eine Auslieferung nach Deutschland sei unter Berücksichtigung seiner beruflichen und familiären Situation unverhältnismässig. Seine Inhaftierung werde von seiner Ehefrau als "totale Katastrophe" erlebt. Eine Auslieferung nach Deutschland würde ihn aus seinem geordneten Lebensrhythmus reissen und die psychische und physische Existenz von ihm und von seiner Ehefrau gefährden. Als besonderer Umstand sei im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass die dem Auslieferungsgesuch zugrunde liegenden Delikte vor über 20 Jahren begangen wurden und er inzwischen vollständig resozialisiert sei.
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3.2 Nach Art. 37 Abs. 1 IRSG besteht die Möglichkeit, die Auslieferung abzulehnen, wenn die Schweiz die Verfolgung der Tat oder die Vollstreckung des ausländischen Strafentscheides übernehmen kann und dies im Hinblick auf die soziale Wiedereingliederung des Verfolgten angezeigt erscheint. Das EAUe kennt jedoch keine vergleichbare Ablehnungsmöglichkeit: Verlangt der ersuchende Staat nicht die Übernahme der Strafverfolgung bzw. der Vollstreckung durch die Schweiz sondern die Auslieferung des Verfolgten, ist die Schweiz staatsvertraglich verpflichtet, diesem Begehren stattzugeben, sofern die Auslieferungsvoraussetzungen nach EAUe erfüllt sind. Sie kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht, namentlich auf Art. 37 Abs. 1 IRSG, berufen, um sich dieser Verpflichtung zu entziehen (BGE 122 II 485 E. 3 a und b S. 487 f.).
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3.3 In BGE 122 II 485 (nicht veröffentlichte E. 3e) hat das Bundesgericht aufgrund aussergewöhnlicher familiärer Verhältnisse die Auslieferung gestützt auf Art. 8 Abs. 1 EMRK abgelehnt. Im damaligen Fall lebte der Verfolgte in enger Lebensgemeinschaft mit seiner schwangeren, zu 100% invaliden, depressiven und suizidgefährdeten Freundin und deren Kindern. Wie das Bundesamt für Justiz im angefochtenen Entscheid und in seiner Vernehmlassung zu Recht ausführt, liegen im vorliegenden Fall keine derartigen Ausnahmeverhältnisse vor: Der Beschwerdeführer hat keine Kinder; seine Ehefrau wird während der maximal zweijährigen Trennung brieflich und telefonischen Kontakt mit ihm halten und ihn im Gefängnis des an die Schweiz angrenzenden Landes Baden-Württemberg besuchen können. Unter diesen Umständen geht der Eingriff in das Familienleben nicht über die mit dem Strafvollzug bzw. der Auslieferung zwangsläufig verbundene Belastung hinaus.
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3.4 Alle übrigen mit der Auslieferung verbundenen Nachteile - insbesondere der Verlust des Arbeitsplatzes und die Gefährdung der bisher gelungenen Resozialisierung des Beschwerdeführers - können von der ersuchten Behörde im Auslieferungsverfahren nach EAUe nicht berücksichtigt werden. Der Beschwerdeführer hat jedoch grundsätzlich die Möglichkeit, eine Nachholung der beim Widerruf der Strafaussetzung im Jahre 1993 unterbliebenen Anhörung durch das Amtsgericht Ludwigsburg gemäss § 33a dt. StPO zu verlangen (vgl. BGHSt 26 127, insbes. E. 3 S. 130 f.; OLG Stuttgart, NJW 1983 1987; Günter Gribbohm in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl., § 56f StGB Rz 59; Günter Wendisch in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. § 33a StPO Rz 17). Er kann somit Einwendungen gegen den Widerruf einschliesslich neuer Tatsachen, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, noch im Nachhinein einer gerichtlichen Überprüfung unterbreiten (BGHSt 26 127, 130). Hierzu wird er allerdings darlegen müssen, dass er sein Anhörungsrecht nicht verwirkt hat, d.h. von ihm kein früheres Tätigwerden erwartet werden konnte (Löwe/Rosenberg-Wendisch, § 33a Rz 18).
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4.
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Ferner macht der Beschwerdeführer geltend, das deutsche Auslieferungsgesuch widerspreche Treu und Glauben, weil die deutschen Behörden seinen Aufenthaltsort schon viel früher hätten ausfindig machen und die Auslieferung somit früher hätten beantragen können. Statt dessen seien sie untätig geblieben bis kurz vor Eintritt der Vollstreckungsverjährung (im Jahre 2003).
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4.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz des guten Glaubens einer Auslieferung entgegenstehen, wenn der ersuchte Staat Zwang, List oder missbräuchliche Machenschaften angewendet hat, um den Verfolgten zu veranlassen, sich in sein Hoheitsgebiet oder in das Gebiet eines anderen Staates zu begeben, wo ihm die Auslieferung droht. Der gute Glaube des ersuchenden Staates wird vermutet, mit der Folge, dass sich die Schweiz nur bei nachgewiesener bzw. offensichtlicher Bösgläubigkeit des ersuchenden Staates seiner staatsvertraglichen Auslieferungspflicht entziehen kann (BGE 117 Ib 337 E. 2 S. 340 f.).
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4.2 Im vorliegenden Fall wirft der Beschwerdeführer den deutschen Behörden einzig vor, zu lange mit der Stellung eines Auslieferungsgesuchs gewartet zu haben, bis kurz vor Eintritt der Vollstreckungsverjährung.
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4.2.1 Aus den Auslieferungsunterlagen geht hervor, dass der Beschwerdeführer 1993 seinen damaligen Wohnsitz in Stuttgart verliess, ohne den Wohnsitzwechsel weisungsgemäss dem Amtsgericht Ludwigsburg mitzuteilen. Das Amtsgericht hielt deshalb in seinem Beschluss vom 27. August 1993 fest, dass der Beschwerdeführer unbekannten Aufenthalts sei. Sein Aufenthalt in der Schweiz wurde erst Ende Oktober 2000, im Rahmen einer Anfrage der Deutschen Botschaft in Bern im Zusammenhang mit der Erteilung eines neuen Reisepasses bekannt (vgl. Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 17. Januar 2002, S. 2). Als sich die deutsche Staatsanwaltschaft der Ausstellung eines neuen Passes widersetzte, ersuchte der Beschwerdeführer das Justizministerium Baden-Württemberg, die Strafe auf dem Gnadenweg zur Bewährung auszusetzen. Dieses Gesuch wurde am 15. November 2001 abgewiesen. Kurz darauf, am 17. Januar 2002, bat die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Justizministerium, die schweizerische Regierung um Auslieferung des Beschwerdeführers zu ersuchen. Das Auslieferungsgesuch wurde nur wenige Tage später, am 24. Januar 2002, gestellt. Die deutschen Behörden stellten somit relativ rasch das Auslieferungsgesuch, nachdem ihnen der Aufenthalt des Beschwerdeführers in der Schweiz bekannt geworden war.
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4.2.2 Der Beschwerdeführer macht jedoch in seiner Replik geltend, den deutschen Behörden hätte seit 1992 bekannt sein müssen, dass er sich in Benissa (Alicante/Spanien) aufhalte. Er habe bei den spanischen Behörden eine mehrjährige Aufenthaltsbewilligung beantragt und habe seinem Gesuch ein polizeiliches Führungszeugnis beilegen müssen, welches er bei der zuständigen Behörde in Deutschland bestellt habe. Zudem habe er 1992 Kontakt mit dem deutschen Konsulat in Alicante gehabt und habe dort seine Adresse hinterlassen. Insofern sei sein Aufenthaltsort - entgegen den Feststellungen im Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Ludwigsburg - nicht unbekannt gewesen. Die deutschen Behörden hätten somit das Auslieferungsgesuch schon viel früher stellen können und nicht erst ein paar Monate vor Ablauf der Vollstreckungsverjährung.
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Zum Beleg hat der Beschwerdeführer eine am 2. September 1992 in Alicante ausgestellte Aufenthaltsbewilligung eingereicht. Diesem Dokument lässt sich allerdings nicht entnehmen, inwiefern sein Aufenthaltsort auch den deutschen Behörden bekannt war oder hätte sein müssen. Weitere Abklärungen zu dieser Frage erübrigen sich jedoch.
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4.2.3 Gemäss Art. 10 EAUe kann ein Auslieferungsgesuch zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils bis zum Eintritt der Vollstreckungsverjährung gestellt werden. Die Schweiz ist grundsätzlich verpflichtet, einem derartigen Gesuchen stattzugeben, ohne Rücksicht darauf, ob und inwiefern es den Behörden des ersuchenden Staates möglich gewesen wäre, das Auslieferungsgesuch schon früher zu stellen. Ein Verstoss gegen Treu und Glauben könnte allenfalls vorliegen, wenn der Verfolgte aufgrund der besonderen Umstände des Falles - beispielsweise aufgrund einer Vereinbarung mit den Strafverfolgungsorganen des ersuchenden Staates - darauf vertrauen durfte, dass seine Auslieferung nicht mehr verlangt werde, und sich im Vertrauen darauf in ein Land begeben hat, in welchem ihm erstmals die Auslieferung drohte.
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4.2.4 Im vorliegenden Fall haben die deutschen Behörden weder dem Beschwerdeführer noch Spanien oder der Schweiz gegenüber auf die Auslieferung verzichtet. Die lange Zeitdauer zwischen dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung und dem Auslieferungsgesuch beruhte vielmehr auf dem den deutschen Justizbehörden unbekannten Aufenthalt des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer macht selbst nicht geltend, dass er seinen Wohnsitzwechsel weisungsgemäss dem Amtsgericht Ludwigsburg mitgeteilt oder sich beim Einwohnermeldeamt in Stuttgart ordnungsgemäss abgemeldet hätte. Unter diesen Umständen kann die späte Stellung des Auslieferungsgesuchs jedenfalls nicht als Verstoss gegen den Grundsatz von Treu und Glauben gewertet werden, selbst wenn es den deutschen Behörden möglich gewesen wäre, seinen Aufenthalt früher zu ermitteln, z.B. durch Anfragen bei allen deutschen Konsulaten. Dies gilt umso mehr, als auch Spanien Vertragsstaat des EAUe ist und den Beschwerdeführer nach Deutschland ausgeliefert hätte. Hätten die deutschen Behörden das Auslieferungsgesuch schon früher gestellt, wäre der Beschwerdeführer somit ebenfalls ausgeliefert worden und hätte seine Freiheitsstrafe in Deutschland verbüssen müssen.
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5.
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Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen. Da die Voraussetzungen gemäss Art. 152 OG vorliegen, ist dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege und die Verbeiständung zu bewilligen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
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a) Es werden keine Kosten erhoben.
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b) Rechtsanwältin Daniela Thiel-Panico, Baar, wird als amtliche Vertreterin des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.
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3.
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Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 28. Juni 2002
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Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
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