VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1P.208/2002  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1P.208/2002 vom 19.07.2002
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.208/2002 /sta
 
Urteil vom 19. Juli 2002
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
 
Gerichtsschreiber Pfisterer.
 
X.________, Beschwerdeführer, gesetzlich vertreten durch seinen Vater Y.________, dieser vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Wenger, Wilerstrasse 23, Postfach, 9542 Münchwilen TG,
 
gegen
 
Z.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt lic. oec. Erich Moser, Bankplatz 1, Postfach 617, 8501 Frauenfeld,
 
Kantonales Untersuchungsrichteramt KUR, Zürcherstrasse 323, 8510 Frauenfeld,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8500 Frauenfeld,
 
Anklagekammer des Kantons Thurgau, Marktgasse 9, Postfach 339, 9220 Bischofszell.
 
Art. 29 Abs. 2 BV (Einstellung des Strafverfahrens),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss der Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 18. Dezember 2001.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.________, Schulleiter des B.________s, einer Heil- und Bildungsstätte für seelenpflegebedürftige Kinder, Jugendliche und Erwachsene in C.________/TG, erstattete am 11. April 2000 Anzeige gegen Z.________, Lehrer im B.________, wegen Verdachts sexueller Handlungen an X.________, einem Schüler. Der Angeschuldigte soll sich am 17. März 2000 an X.________ sexuell vergangen haben.
 
Das Kantonale Untersuchungsrichteramt verfügte am 11. Juli 2001 die Einstellung des Verfahrens mangels Beweisen. Der Staatsanwalt genehmigte die Einstellung am 13. Juli 2001.
 
B.
 
X.________ erhob am 21. August 2001 Beschwerde gegen die Einstellungsverfügung an die Anklagekammer des Kantons Thurgau. Er beantragte, die Einstellungsverfügung sei aufzuheben und das Kantonale Untersuchungsrichteramt bzw. die Staatsanwaltschaft seien anzuweisen, Anklage gegen Z.________ zu erheben.
 
Die Anklagekammer des Kantons Thurgau wies die Beschwerde am 18. Dezember 2001 mangels genügender Anhaltspunkte für die Täterschaft des Angeschuldigten Z.________ ab.
 
C.
 
X.________ führt mit Eingabe vom 18. April 2002 staatsrechtliche Beschwerde und beantragt die Aufhebung des Entscheides der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. Dezember 2001. Er verlangt, die Sache sei zur Fortführung der Strafuntersuchung und Anklageerhebung gegen Z.________ an das Kantonale Untersuchungsrichteramt bzw. die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Anklagekammer des Kantons Thurgau zurückzuweisen. Ferner stellt er das Begehren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht.
 
Z.________ beantragt, die staatsrechtliche Beschwerde sei abzuweisen. Die Anklagekammer des Kantons Thurgau und die Staatsanwaltschaft schliessen auf Abweisung der staatsrechtliche Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Kantonale Untersuchungsrichteramt des Kantons Thurgau verzichtet auf Vernehmlassung unter Verweis auf die Einstellungsverfügung vom 11. Juli 2001.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Gegen den angefochtenen Entscheid der Anklagekammer des Kantons Thurgau ist keines der in den § 195 ff. des kantonalen Gesetzes vom 30. Juni 1970/5. November 1991 über die Strafrechtspflege (Strafprozessordnung; StPO/TG) vorgesehenen Rechtsmittel zulässig. Es handelt sich demnach um einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid nach Art. 86 Abs. 1 OG.
 
1.2 Der Beschwerdeführer, der geltend macht, Opfer einer Körperverletzung zu sein, ist nach Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG in Verbindung mit Art. 88 OG zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert (BGE 126 IV 150 E. 4b/aa S. 155; 121 IV 317 E. 3b S. 324; 120 Ia 101 E. 2, 157 E. 2). Nachdem auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die staatsrechtliche Beschwerde - unter der nachfolgenden Einschränkung - einzutreten.
 
1.3 Soweit der Beschwerdeführer jedoch neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheides mehr oder anderes verlangt, kann im Rahmen der grundsätzlich rein kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde darauf nicht eingetreten werden (BGE 127 I 213 E. 1b mit Hinweisen).
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer rügt zunächst, man habe ihm die Einsicht in die Akten zur Person des Beschwerdegegners verweigert. Dies komme einer Verweigerung des rechtlichen Gehörs gleich.
 
2.2 Dem Beschwerdeführer ist insoweit beizupflichten, als dass er vor der Anklagekammer nebenbei erwähnt hat, keine Einsicht in die Akten zur Person des Beschwerdegegners erhalten zu haben. Eine formelle Rüge hat er diesbezüglich jedoch nicht erhoben. Nachdem die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich nur gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide zulässig ist (Art. 86 Abs. 1 OG), der Beschwerdeführer die Verweigerung der Akteneinsicht vor der Anklagekammer nicht vorgebracht und dementsprechend darüber nicht befunden wurde, liegt insofern kein letztinstanzlicher Entscheid vor. Auf diese Rüge ist demzufolge nicht einzutreten.
 
3.
 
3.1 Der Beschwerdeführer hält dafür, die Anklagekammer habe ihren Entscheid ungenügend begründet und ihm dadurch das rechtliche Gehör verweigert. So habe er dargelegt, dass der Übergriff am 17. März 2000 stattgefunden haben müsse. Da er an diesem Tag lückenlos vom Beschwerdegegner betreut worden sei, komme nur dieser als Täter in Frage. Auf diese Ausführungen sei die Anklagekammer nicht eingegangen.
 
3.2 Der durch Art. 29 Abs. 2 BV garantierte Grundsatz des rechtlichen Gehörs verlangt, dass die urteilende Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, sorgfältig und ernsthaft prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Daraus folgt die grundsätzliche Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen. Der Bürger soll wissen, warum die Behörde entgegen seinem Antrag entschieden hat. Die Begründung eines Entscheids muss deshalb so abgefasst sein, dass der Betroffene ihn gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Dies ist nur möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können. Die Behörde hat demnach wenigstens kurz die Überlegungen zu nennen, von denen sie sich leiten liess und auf welche sich ihr Entscheid stützt. Das bedeutet indessen nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand im Detail auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken und hat demnach in der Begründung ihres Entscheids diejenigen Argumente aufzuführen, die tatsächlich ihrem Entscheid zugrunde liegen. Diejenigen Elemente, welche nicht bewiesen, unerheblich oder von untergeordneter Bedeutung erscheinen, dürfen stillschweigend übergangen werden (BGE 126 I 97 E. 2 S. 102; 116 IV 288 E. 2c S. 291, je mit Hinweisen).
 
3.3 Die Anklagekammer hat zur möglichen Täterschaft des Beschwerdegegners erwogen, es lägen einige effektive Verdachtsmomente für seine Täterschaft vor. Für das konkrete Spurenbild seien jedoch verschiedene Täter, sowohl im inner-, wie auch ausserschulischen Bereich denkbar. Der Beschwerdegegner komme als ein möglicher Täter in Frage. Die Intensität des Verdachts reiche jedoch für eine rechtsgenügliche Verurteilung nicht aus. Die Ausführungen in der Beschwerdeschrift seien zwar nicht von der Hand zu weisen; sie lägen jedoch die Täterschaft des Beschwerdegegners nicht derart nahe, dass eine andere Ursache als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden müsste. Die teilweise als Schutzbehauptungen dargestellten Äusserungen des Beschwerdegegners seien nicht geeignet, den Nachweis für dessen Täterschaft zu erbringen. Auch die Zeugenaussagen brächten keine echten und handfesten Indizien. Dementsprechend reiche die Aktenlage nicht aus, um mit genügender Sicherheit für die Täterschaft des Beschwerdegegners Anklage erheben zu können.
 
3.4 Die Anklagekammer hat in ihrem Urteil ausgeführt, verschiedene Täter kämen in Frage und der Kreis der Tatverdächtigen sei zu gross, als dass gegen den Beschwerdegegner Anklage erhoben werden könnte. Jedoch hat sie nicht dargelegt, wie sie auf diesen Schluss gekommen ist. Auch hat sie erwähnt, unter den vorhandenen objektiven Verdachtsgegebenheiten stellten nur einige effektiv Verdachtsmomente für die Täterschaft des Beschwerdegegners dar. Welches diese Verdachtsgegebenheiten bzw. -momente sind, hat sie jedoch nicht dargelegt. Es ist auch nicht ersichtlich, wie sie die einzelnen Argumente des Beschwerdeführers für die Tatzeit des 17. März 2000 gewichtet hat und welches die für die Einstellungsverfügung respektive den Entscheid vom 18. Dezember 2001 wesentlichen Gesichtspunkte waren.
 
In Anbetracht der pauschalen Ausführungen der Anklagekammer war es dem Beschwerdeführer nicht möglich, im Detail zu erkennen, weshalb die Anklagekammer entgegen seinen Anträgen entschieden hat. Die Begründung des Entscheids ist nicht so abgefasst, dass eine sachgerechte Anfechtung möglich wäre bzw. dass die Beweiswürdigung nachvollzogen werden könnte. Entsprechend der formellen Natur des Gehörsanspruchs (BGE 127 V 431 E. 3d S. 437 mit Hinweisen) ist der Entscheid der Anklagekammer aufzuheben.
 
3.5 Für die Eingrenzung des Täterkreises ist insbesondere die Tatzeit wesentlich. So soll sich der Beschwerdeführer nach den Aussagen der Eltern am Nachmittag des 17. März 2000 nach der Schule über Schmerzen beim Stuhlgang beklagt haben. Zudem wollen die Eltern an diesem Tag am Hals des Beschwerdeführers einen Flecken entdeckt haben, der gemäss den Aussagen des Hausarztes ein "Knutschfleck" sein könne. Ferner hätten die Kleider des Beschwerdeführers nach Rasierwasser gerochen, obwohl er am Morgen das Haus mit frischen Kleidern verlassen habe. Am 18. März 2000 habe die Mutter des Beschwerdeführers Risse an dessen After festgestellt, und der Beschwerdeführer habe sich über Schmerzen beklagt. Diese Aussage der Mutter ist nie durch deren persönliche Einvernahme verifiziert worden; es liegen diesbezüglich nur die Aussagen des Vaters des Beschwerdeführers vor. Der auf diese Feststellungen hin erfolgte ärztliche Untersuch vom 20. März 2000 gab jedenfalls Anlass zu weiteren Abklärungen, anlässlich derer festgehalten wurde, die Lokalisation der mehrere Tage bis Wochen alten Verletzungen spräche dafür, dass diese durch ein anales Penetrationstrauma hervorgerufen worden seien. Frau D.________, Betreuerin im B.________, gab hinsichtlich des Verhaltens des Beschwerdeführers am 17. März 2000 die Auskunft, er sei "angeschlagen" gewesen, das heisst, "X.________ war so blass liess den Mund hängen und die Nase lief und er blickte [sie] so leer an." Frau E.________, eine andere Betreuerin im B.________, meinte, es sei durchaus möglich, dass die Tat am Morgen stattgefunden habe. Schliesslich versichert auch der Beschwerdegegner, in der Betreuung des Beschwerdeführers gebe es keine Lücken.
 
3.6 Die Aussagen und Feststellungen der vorerwähnten Zeugen hat die Anklagekammer möglicherweise berücksichtigt; es ist jedoch nicht ersichtlich, welches diejenigen Aussagen und Argumente sind, die tatsächlich dem Entscheid zugrunde liegen und welche Elemente die Anklagekammer als nicht bewiesen, unerheblich oder von untergeordneter Bedeutung stillschweigend übergangen hat. Wie bereits dargelegt, führt dieser formelle Mangel zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides.
 
4.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb gutzuheissen soweit darauf einzutreten ist. Unter diesen Umständen muss nicht mehr geprüft werden, ob die übrigen Rügen berechtigt sind oder nicht.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdegegner die Gerichtskosten (Art. 156 Abs. 1 OG). Dieser hat dem Beschwerdeführer zudem eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 Abs. 1 OG). Damit ist das Gesuch um Gewährung der unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen soweit darauf einzutreten ist, und der Beschluss der Anklagekammer des Kantons Thurgau vom 18. Dezember 2001 wird aufgehoben.
 
2.
 
Es wird festgestellt, dass das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege gegenstandslos ist.
 
3.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
4.
 
Der Beschwerdegegner hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonalen Untersuchungsrichteramt KUR, der Staatsanwaltschaft und der Anklagekammer des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 19. Juli 2002
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).