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Informationen zum Dokument  BGer 1P.539/2002  Materielle Begründung
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BGer 1P.539/2002 vom 06.12.2002
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.539/2002 /bmt
 
Urteil vom 6. Dezember 2002
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
 
Gerichtsschreiber Steiner.
 
A.________, in X.________ (Frankreich),
 
B.________, in X.________ (Frankreich),
 
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr.iur. Duri Poltera, Segantinistrasse 21, 9008 St. Gallen,
 
gegen
 
C.________, Untersuchungsrichter, Bezirksamtmann-Stellvertreter, Bezirksamt Rheinfelden, Kirchplatz 2, 4310 Rheinfelden,
 
Beschwerdegegner,
 
Obergericht des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen, Obere Vorstadt 38,
 
5000 Aarau.
 
Art. 29 Abs. 1 BV (Ablehnung),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des
 
Obergerichts des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 10. September 2002.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Strafanzeige vom 29. Mai 2002 beschuldigte D.________ die Ehegatten B.________ und A.________, gepfändete Einkünfte dem Zugriff ihrer Gläubiger entzogen zu haben. Dabei machte er vor allem geltend, das Verhalten der Beschuldigten erfülle den Tatbestand des Verstrickungsbruchs (Art. 169 StGB) sowie denjenigen des Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen (Art. 292 StGB). Gestützt auf diese Strafanzeige ersuchte der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden die am angegebenen Wohnsitz der Angeschuldigten in Frankreich zuständigen Justizbehörden am 18. Juni 2002 um Rechtshilfe. Er bat einerseits um Sicherstellung der Unterlagen (Bankunterlagen von drei Bankkonten) für die (behauptete) Erteilung einer "résidence principal[e]" in der Gemeinde X.________ (Frankreich) und zum (angeblichen) Kauf einer Liegenschaft durch die Beschuldigten in dieser Gemeinde. Des Weiteren stellte er die Frage, welche Angaben den dortigen Behörden über die Gesellschaft "Y.________ Société, Produits de Boulangerie" bekannt seien und ob diese im Handelsregister eingetragen sei.
 
B.
 
Anlässlich des Besprechungstermins vom 6. August 2002 händigte der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden A.________ eine Kopie des Rechtshilfeersuchens aus und wies ihn auf die Möglichkeit hin, verfahrensrelevante Unterlagen einzureichen und schriftlich Stellung zu nehmen. Am 7. August 2002 erhoben B.________ und A.________ Aufsichtsbeschwerde bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Sie beantragten, es sei wegen Verletzung der Unschuldsvermutung umgehend der Rückzug des internationalen Rechtshilfeersuchens vom 18. Juni 2002 anzuordnen. Des Weiteren sei dem Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden das Strafverfahren wegen Befangenheit zu entziehen. Schliesslich gelangten sie am 2. September 2002 mit einem Ablehnungsbegehren an das Obergericht, Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen, und machten abermals geltend, der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden sei befangen. Am 10. September 2002 wies der Vizepräsident der Beschwerdekammer das Ausstandsbegehren ab.
 
C.
 
B.________ und A.________ erheben mit Eingabe vom 10. Oktober 2002 staatsrechtliche Beschwerde und beantragen die Aufhebung der Verfügung des Vizepräsidenten der Beschwerdekammer vom 10. September 2002. Ausserdem ersuchen sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
 
Das Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen sowie das Bezirksamt Rheinfelden haben auf eine Stellungnahme verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Beim angefochtenen Urteil des Obergerichts handelt es sich um einen kantonal letztinstanzlichen Zwischenentscheid, gegen den auf Bundesebene einzig die staatsrechtliche Beschwerde zur Verfügung steht (Art. 84 Abs. 2, Art. 86 Abs. 1 und Art. 87 Abs. 1 OG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.
 
2.
 
Die Beschwerdeführer rügen, es bedeute eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV, der seinem Gehalt nach mit Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK weitgehend übereinstimme, dass das Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen ihr gegen den Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden gerichtetes Ablehnungsbegehren abgewiesen habe.
 
2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtung Umstände vor, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, so ist die Garantie des verfassungsmässigen Richters verletzt (BGE 127 I 196 E. 2b S. 198; 126 I 68 E. 3a S. 73, je mit Hinweisen).
 
2.2 Der Gehalt von Art. 30 Abs. 1 BV kann nach der Rechtsprechung nicht unbesehen auf nicht richterliche Behörden bzw. auf Art. 29 Abs. 1 BV übertragen werden (BGE 127 I 196 E. 2b S. 198, mit Hinweisen). Es gilt vielmehr, dem spezifischen Umfeld und Aufgabenbereich der betroffenen Behörde Rechnung zu tragen (BGE 125 I 119 E. 3d S. 123, 125 I 209 E. 8a S. 218, mit Hinweisen). Hinsichtlich der Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters kommt Art. 29 Abs. 1 BV allerdings ein mit Art. 30 Abs. 1 BV weitgehend übereinstimmender Gehalt zu. Daher können diese wie auch Staatsanwälte abgelehnt werden, wenn Umstände vorliegen, welche nach objektiven Gesichtspunkten geeignet sind, hinsichtlich der Strafuntersuchung den Anschein der Befangenheit zu erwecken (BGE 127 Ia 196 E. 2b S. 198 f. mit Hinweisen).
 
2.3 Der Untersuchungsrichter hat den belastenden und den entlastenden Umständen mit gleicher Sorgfalt nachzugehen und ist dabei zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit verpflichtet. Er darf sich vor Abschluss der Untersuchung grundsätzlich nicht darauf festlegen, dass dem Angeschuldigten ein strafbares Verhalten zur Last zu legen sei (BGE 127 I 196 E. 2d S. 199 f. mit Hinweisen). Es kann und muss allerdings vorausgesetzt werden, dass der Untersuchungsrichter in der Lage ist, seine Beurteilung des Prozessstoffes entsprechend dem jeweils neuesten Stand des Verfahrens ständig neu zu überprüfen und allenfalls zu revidieren. Unter diesen Umständen vermag eine auf den aktuellen Verfahrensstand abgestützte vorläufige Beurteilung und Bewertung keine Vorverurteilung oder Befangenheit zu begründen (BGE 127 I 196 E. 2d S. 200).
 
3.
 
Im vorliegenden Fall machen die Beschwerdeführer geltend, es entstehe aufgrund der Formulierung des Rechtshilfeersuchens der objektiv begründete Eindruck, der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden habe sich in den Dienst des Strafanzeigers gestellt. Der Anschein von Befangenheit sei damit klar gegeben. Die übrigen, im Rahmen der Aufsichtsbeschwerde vom 7. August 2002 beanstandeten Verhaltensweisen des Untersuchungsrichters werden demgegenüber nicht zur Begründung der Beschwerde herangezogen und sind daher nicht zu prüfen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).
 
3.1 Im Interesse einer beförderlichen Rechtspflege ist im Zusammenhang mit Ausstandsbegehren gegen Justizbeamte deren Befangenheit nicht leichthin anzunehmen (BGE 127 I 196 E. 2d S. 199). Andererseits dürfen prozessökonomische Gesichtspunkte nicht überbewertet werden. Äusserungen von Strafverfolgungsorganen oder Gerichten, mit denen - im Gegensatz zur blossen Äusserung eines Verdachts - bereits vor der rechtskräftigen Verurteilung der Eindruck erweckt wird, der Angeschuldigte habe sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht, verstossen gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung und vermögen unter Umständen den Vorwurf der Befangenheit zu begründen (Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, Bern 1994, S. 158).
 
3.2 Der Bezirksamtmann-Stellvertreter hat dem beanstandeten Rechtshilfeersuchen folgenden Sachverhalt zugrunde gelegt:
 
"Das Ehepaar A.________-B.________ hat in Z.________ einen Restaurationsbetrieb geführt. In diesem Zusammenhang sind Zivilforderungen gegenüber dem Vermieter und Anzeiger, D.________, entstanden. Diese Forderungen wurden gegenüber von D.________ mit einem Verlustschein erledigt.
 
D.________ hat in der Zwischenzeit heraus gefunden, dass der Beschuldigte mit seiner Ehefrau in Frankreich lebt und dort eine sogenannte "residence principal" erteilt worden ist. Offensichtlich hat sich das Ehepaar A.________-B.________ seit rund zwei Jahren um diese Niederlassungsbewilligung bemüht. Für die Erteilung einer derartigen Bewilligung muss der Beantragende über genügend finanzielle Mittel verfügen, ansonsten die Bewilligung nicht erteilt wird. A.________ ist sei April 2002 im Besitze der "residence principal" und konnte demzufolge die nötigen finanziellen Mittel beibringen. Im weiteren ist bekannt, dass A.________ an seinem Wohnort eine Liegenschaft erworben hat. Es besteht der dringende Verdacht, dass der Beschuldigte zusammen mit seiner Ehefrau in der Schweiz Geld, das er dem Betreibungsamt hätte abliefern müssen beiseite geschafft hat, um die nötigen finanziellen Mittel für die Erteilung der "residence principal" bereitstellen zu können."
 
Der Vizepräsident der Beschwerdekammer führt dazu aus, in der gerügten Wiedergabe des Sachverhalts sei eindeutig von einem Verdacht die Rede. Damit bestehe objektiv kein Grund, die Unparteilichkeit des Untersuchungsrichters in Frage zu stellen.
 
3.3 Nach Ansicht der Beschwerdeführer sind mit der gewählten Formulierung des Rechtshilfeersuchens mehrere Einzelaussagen zu einem Bild verdichtet worden, das bei einem Dritten den Eindruck erwecken muss, die Beschwerdeführer seien schuldig.
 
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung führen Verfahrensmassnahmen, seien sie richtig oder falsch, als solche nicht zu einem objektiven Verdacht der Voreingenommenheit (BGE 114 Ia 153 E. 3b/bb S. 158; vgl. Robert Hauser/ Erhard Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Auflage, Basel 2002, §30 Rz.4a). Das Bundesgericht hat ausserdem festgehalten, dass ungeschickte Äusserungen eines Untersuchungsrichters gegenüber der Presse über den Ausgang einer durch den Beschuldigten gegen seine Anordnungen erhobene Beschwerde keine Befangenheit des Untersuchungsrichters zu begründen vermögen, wenn sich diese nicht gegen die Person des Beschuldigten richten und sofern es sich nicht um eine schwere Verfehlung handelt. Auch scherzhafte Äusserungen genügen nicht, selbst wenn diese deplatziert sind und vom Betroffenen als negativ empfunden werden müssen (BGE 127 I 196 E. 2d S. 200). Nach dem Gesagten erweckt auch nicht jede unkritische Übernahme von tatsächlichen Angaben des Anzeigestellers ohne Hinweis auf deren Behauptungscharakter den Anschein der Befangenheit. Im vorliegenden Fall lassen weder die Verlustscheine noch die Begründung eines Wohnsitzes in Frankreich oder auch der Erwerb einer Liegenschaft zwingend auf die Schädigung von Gläubigern oder ein Konkurs- bzw. Betreibungsdelikt im weiteren Sinne schliessen. Bezüglich der selbständigen Ausübung eines Gewerbes ist das Rechtshilfeersuchen ausdrücklich in der Form einer Frage formuliert. Der Verzicht auf einen Hinweis auf den Behauptungscharakter - namentlich was den Liegenschaftserwerb betrifft - muss zwar im Lichte der Unschuldsvermutung als ungeschickt bezeichnet werden. Dies gilt auch für die Einleitung eines Abschnitts mit den Worten, der Anzeigesteller habe inzwischen Einzelheiten zur Situation der Ehegatten A.________-B.________ "herausgefunden", womit unterstellt wird, die Ergebnisse der Recherchen seien zutreffend. Zudem wird der Sachverhalt im Rechtshilfeverfahren - dies allerdings im Gegensatz zum vorliegenden Fall, soweit es um Angaben zur Situation der Beschwerdeführer im ersuchten Staat geht - regelmässig nicht hinterfragt (BGE 122 I 373 E. 1c S. 375 f.; Peter Popp, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, Basel/München 2001, Rz. 241 mit Hinweisen). Demgegenüber wird die entscheidende Frage, nämlich ob die Beschwerdeführer "Geld beiseite geschafft" haben, entgegen deren Behauptung im Einklang mit der Unschuldsvermutung ausdrücklich offen gelassen. Der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden hat lediglich festgestellt, es bestehe ein für ein Rechtshilfeersuchen hinreichender Tatverdacht. Dass dieser ausserdem als dringend bezeichnet wird, lässt den Untersuchungsrichter nicht als voreingenommen erscheinen, da davon auszugehen ist, dass er seine Betrachtungsweise aufgrund neuer Erkenntnisse ohne weiteres revidiert. Daran ändert auch die Wiedergabe mehrerer nach Ansicht des Untersuchungsrichters möglicherweise erfüllter, zum Teil von der Strafanzeige nicht umfasster Straftatbestände (Art. 163 bis Art. 166 StGB) nichts. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, es handle sich um Antragsdelikte oder die aufgeführten Tatbestände seien zum Vornherein nicht einschlägig. Somit ergibt sich, dass der Bezirksamtmann-Stellvertreter Rheinfelden durch die Formulierung des Rechtshilfeersuchens objektiv nicht den Anschein der Befangenheit erweckt hat. Deshalb ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
4.
 
Unterliegt der Beschwerdeführer, sind ihm grundsätzlich die Verfahrenskosten aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG) und es besteht kein Anspruch auf Ersatz der Parteikosten (Art. 159 Abs. 2 OG). Da indessen die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung gegeben sind, ist auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten und der Vertreter des Beschwerdeführers aus der Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gewährt:
 
2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
2.2 Rechtsanwalt Dr. Duri Poltera wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'000.-- entschädigt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Präsidium der Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. Dezember 2002
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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