BGer I 667/2003 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
BGer I 667/2003 vom 09.02.2004 | |
Eidgenössisches Versicherungsgericht
| |
Tribunale federale delle assicurazioni
| |
Tribunal federal d'assicuranzas
| |
Sozialversicherungsabteilung
| |
des Bundesgerichts
| |
Prozess
| |
{T 7}
| |
I 667/03
| |
Urteil vom 9. Februar 2004
| |
IV. Kammer
| |
Besetzung
| |
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Meyer; Gerichtsschreiber Flückiger
| |
Parteien
| |
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
| |
gegen
| |
L.________, 1997, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Mutter V.________, und diese vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,
| |
Vorinstanz
| |
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
| |
(Entscheid vom 19. August 2003)
| |
Sachverhalt:
| |
A.
| |
Der 1997 geborene L.________ leidet seit Geburt am Prader-Willi-Syndrom (auch Prader-Labhart-Willi-Syndrom, nachfolgend PWS) und wurde aus diesem Grund - nach einer vorangegangenen früheren Anmeldung - am 10. Februar 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach dem Versicherten unter anderem medizinische Massnahmen zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 462, einen Pflegebeitrag und die Rückvergütung von Kosten für die Hauspflege sowie Sonderschulmassnahmen zu. Ausserdem übernahm sie gemäss Mitteilung vom 17. April 2000 Physiotherapie nach ärztlicher Verordnung im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen Nr. 462 für die Zeit vom 4. Juni 1999 bis vorderhand 30. Juni 2001.
| |
Im Anschluss an eine Intervention des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) lehnte es die Verwaltung - nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens und Einholung einer weiteren Stellungnahme des BSV vom 26. Februar 2002 - mit Verfügung vom 11. März 2002 ab, weiterhin medizinische Massnahmen in Form von Physiotherapie zu gewähren.
| |
B.
| |
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 11. März 2002 auf und sprach dem Beschwerdeführer Physiotherapie nach ärztlicher Verordnung im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen Nr. 462 für die Zeit vom 1. Juli 2001 bis 30. Juni 2003 sowie vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2005 zu (Entscheid vom 19. August 2003).
| |
C.
| |
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das BSV die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
| |
L.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung.
| |
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
| |
1.
| |
1.1 Mit der Verwaltungsverfügung vom 11. März 2002 wurde über den Anspruch auf Physiotherapie für die Zeit ab 1. Juli 2001 entschieden. Im gerichtlichen Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen, zu welchen die Verwaltung vorgängig verbindlich - mittels Verfügung - Stellung genommen hat. Die Verwaltungsverfügung bestimmt somit den beschwerdeweise weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand (BGE 125 V 415 Erw. 2a, 122 V 36 Erw. 2a, je mit Hinweisen). In zeitlicher Hinsicht beschränkt sich die gerichtliche Prüfung praxisgemäss in der Regel auf den Sachverhalt, wie er sich bis zum Erlass der streitigen Verwaltungsverfügung, vorliegend also bis zum 11. März 2002, entwickelt hat (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1).
| |
1.2 Das kantonale Gericht hat dem Beschwerdeführer Physiotherapie für die Zeit vom 1. Juli 2001 bis 30. Juni 2003 und 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2005 zugesprochen. Damit hat es das Rechtsmittelverfahren, soweit es den Zeitraum nach dem Erlass der Verfügung vom 11. März 2002 in die Beurteilung einbezog, über den durch diese bestimmten Anfechtungsgegenstand hinaus ausgedehnt. Ein derartiges, durch prozessökonomische Überlegungen motiviertes Vorgehen ist zulässig, wenn die ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes liegende Frage spruchreif ist und mit dem bisherigen Streitgegenstand derart eng zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann, sowie sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens in Form einer Prozesserklärung geäussert hat (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen). Diese primär mit Blick auf die Konstellation einer sachlichen Verfahrensausdehnung entwickelten Grundsätze gelten auch, wenn im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über einen Gegenstand entschieden werden soll, der in zeitlicher Hinsicht nicht durch die streitige Verfügung erfasst wird (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil R. vom 10. November 2003, C 90/03, Erw. 2.1).
| |
1.3 Im vorliegenden Fall spricht einiges für die Annahme, dass die Anspruchsbeurteilung für die Periode bis 30. Juni 2005 nicht grundsätzlich anders ausfallen wird als für den durch die Verwaltungsverfügung geregelten Zeitraum bis 11. März 2002. Es erscheint aber nicht als ausgeschlossen, dass sachverhaltliche Änderungen eingetreten sind oder noch eintreten werden, welche für den Leistungsanspruch relevant sind. Ausserdem haben die gesetzlichen Grundlagen zwischenzeitlich gewisse Änderungen erfahren. Schliesslich haben sich IV-Stelle und BSV bisher nicht zur Frage geäussert, ob relevante Entwicklungen vorliegen. Unter diesen Umständen war die Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens im Lichte der vorgenannten Prinzipien nicht zulässig. Über den Anspruch ab 12. März 2002 wird zunächst durch eine Verfügung der IV-Stelle zu befinden sein. Beizufügen bleibt, dass sich das kantonale Gericht nach der Ausdehnung des Verfahrens auf die Zeit bis Mitte 2005 konsequenterweise nicht auf die bis Ende 2002 gültig gewesenen Gesetzesbestimmungen hätte beschränken dürfen.
| |
2.
| |
2.1 Wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat, sind die materiellrechtlichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar, da die Verwaltungsverfügung vom 11. März 2002 vor dessen Inkrafttreten (1. Januar 2003) erging (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 V Erw. 1, 356 Erw. 1).
| |
2.2 Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Die Geburtsgebrechen werden in einer Liste im Anhang zur vom Bundesrat gestützt auf Art. 13 Abs. 2 IVG erlassenen Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GgV). Ziffer 462 Anhang GgV nennt das Geburtsgebrechen "angeborene Störungen der hypothalamohypophysären Funktion (hypophysärer Kleinwuchs, Diabetes insipidus, Prader-Willi-Syndrom und Kallmann-Syndrom)".
| |
2.3 Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV). Die Massnahmen umfassen gemäss Art. 14 Abs. 1 IVG die Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird (lit. a) und die Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien (lit. b). Die versicherte Person hat in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG); denn das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist. Ferner muss der voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 124 V 110 Erw. 2a, 122 V 214 Erw. 2c, je mit Hinweisen; SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 Erw. 1.1, Nr. 16 S. 48 Erw. 2.3).
| |
2.4 Der Leistungsanspruch bei Geburtsgebrechen gemäss Art. 13 IVG besteht - anders als nach der allgemeinen Bestimmung des Art. 12 IVG - unabhängig von der Möglichkeit einer späteren Eingliederung in das Erwerbsleben (Art. 8 Abs. 2 IVG). Eingliederungszweck ist die Behebung oder Milderung der als Folge eines Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung (BGE 115 V 205 Erw. 4e/cc; SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 Erw. 1.2, Nr. 16 S. 48 Erw. 2.3).
| |
3.
| |
3.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die IV-Stelle dem Beschwerdegegner im Rahmen des Geburtsgebrechens Nr. 462 medizinische Massnahmen in Form von Physiotherapie zur Behandlung der muskulären Hypotonie zu gewähren hat. Dies hängt, wie die Vorinstanz ebenfalls zutreffend erwogen hat, davon ab, ob die muskuläre Hypotonie eine direkte Auswirkung des Geburtsgebrechens Nr. 462 darstellt sowie ob es sich bei der Physiotherapie um eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Vorkehr handelt, welche es erlaubt, die muskuläre Hypotonie in einfacher und zweckmässiger Weise zu behandeln.
| |
3.2 Das Eidgenössische Versicherungsgericht erachtete im Urteil R. vom 29. Januar 2004 (I 19/03) gestützt auf ein der dortigen Vorinstanz erstattetes Gerichtsgutachten als mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) erstellt, dass die muskuläre Hypotonie beim PWS eine direkte Auswirkung der hypothalamohypophysären Funktion und damit des Geburtsgebrechens Nr. 462 bildet. Die mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten Unterlagen enthalten verschiedene medizinische Meinungsäusserungen. Daraus wird deutlich, dass der entsprechende direkte Zusammenhang nicht zweifelsfrei erwiesen ist, das Gegenteil nicht völlig ausgeschlossen werden kann und bezüglich der diesbezüglichen Bedeutung des Hormons Leptin noch Fragen offen sind. Diese Aussagen bieten jedoch keinen Anlass, auf die Beurteilung zurückzukommen, der direkte Zusammenhang zwischen der Störung der hypothalamo-hypophysären Funktion beim PWS und der muskulären Hypotonie sei mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt. Vielmehr weisen auch die meisten der mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und der Vernehmlassung eingereichten Stellungnahmen in diese Richtung.
| |
3.3 Im erwähnten Urteil R. vom 29. Januar 2004 wurde ausserdem erkannt, die Physiotherapie sei zur Behandlung der muskulären Hypotonie nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt und erlaube es grundsätzlich, den Eingliederungszweck, die Behebung oder Milderung der als Folge des Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung (Erw. 2.4 hievor) in einfacher und zweckmässiger Weise anzustreben. Die Voraussetzungen eines entsprechenden Leistungsanspruchs seien daher - im Rahmen der Verhältnismässigkeit - erfüllt. Die Akten des hierortigen Verfahrens bieten keinen Anlass, auf diese Einschätzung zurückzukommen. Der Beschwerdegegner hat daher für den vorliegend zu prüfenden Zeitraum bis zum Erlass der Verfügung vom 11. März 2002 Anspruch auf Physiotherapie zur Behandlung der muskulären Hypotonie.
| |
3.4 Was den Umfang des Anspruchs anbelangt, hat die Vorinstanz durch das Anknüpfen an die ärztliche Verordnung dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit in angemessener Weise Rechnung getragen.
| |
4.
| |
4.1 Nach dem Gesagten ist die Ausdehnung des kantonalen Beschwerdeverfahrens auf den Zeitraum nach dem Erlass der Verwaltungsverfügung zu Unrecht erfolgt. Der vorinstanzliche Entscheid ist insoweit aufzuheben, und die Sache ist zum Erlass einer diesbezüglichen Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Die grundsätzliche materielle Anspruchsprüfung durch das kantonale Gericht ist dagegen zu bestätigen.
| |
4.2 Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der bezüglich des grundsätzlichen Leistungsanspruchs obsiegende Beschwerdegegner hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).
| |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
| |
1.
| |
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 19. August 2003 insoweit aufgehoben, als dem Versicherten Leistungen für die Zeit ab 12. März 2002 zugesprochen wurden, und es wird die Sache zum Erlass einer diesbezüglichen Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.
| |
2.
| |
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
| |
3.
| |
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
| |
4.
| |
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und der IV-Stelle des Kantons Aargau zugestellt.
| |
Luzern, 9. Februar 2004
| |
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
| |
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
| |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |