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Informationen zum Dokument  BGer 6S.26/2004  Materielle Begründung
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BGer 6S.26/2004 vom 27.05.2004
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6S.26/2004 /pai
 
Sitzung vom 27. Mai 2004
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger, Kolly, Karlen, Zünd,
 
Gerichtsschreiber Boog.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Gattlen,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau.
 
Gegenstand
 
Bedingter Strafvollzug; Aufschub der Strafe zugunsten einer ambulanten Massnahme,
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, vom 27. November 2003.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a Das Bezirksgericht Brugg erklärte X.________ mit Urteil vom 20. März 2001 der mehrfachen, teilweise versuchten sexuellen Handlungen mit Kindern (begangen zwischen Januar 1997 und Mai 1999) schuldig und verurteilte ihn zu 10 Monaten Gefängnis unbedingt, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft. In Anwendung von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB ordnete es eine ambulante psychotherapeutische Massnahme mit dem Ziel der Stärkung der Steuerungsfähigkeit an und schob den Vollzug der Strafe zu Gunsten der Massnahme auf.
 
Eine gegen diesen Entscheid von der Staatsanwaltschaft geführte Berufung hiess das Obergericht des Kantons Aargau ohne weitere Beweisverhandlung am 27. Februar 2002 gut und ordnete an, die ambulante Massnahme sei während des Strafvollzuges durchzuführen. Die Berufung von X.________ wies es ab.
 
Eine hiegegen von X.________ geführte staatsrechtliche Beschwerde hiess die I. Öffentlichrechtliche Abteilung des Bundesgerichts mit Entscheid vom 6. November 2002 gut und hob das angefochtene Urteil auf.
 
A.b Mit Urteil vom 13. Februar 2003 hiess das Obergericht des Kantons Aargau ohne neue Beweisverhandlung die Berufung des Beurteilten teilweise gut, erklärte ihn der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern schuldig und setzte die Freiheitsstrafe auf 6 Monate Gefängnis unbedingt herab. In Gutheissung der Berufung der Staatsanwaltschaft ordnete es die ambulante psychotherapeutische Massnahme vollzugsbegleitend an.
 
Eine hiegegen von X.________ erneut erhobene staatsrechtliche Beschwerde hiess der Kassationshof des Bundesgerichts mit Urteil vom 2. September 2003 gut und hob das angefochtene Urteil auf. Eine in derselben Sache geführte eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde schrieb er mit selbem Datum als gegenstandslos geworden am Geschäftsverzeichnis ab.
 
A.c Das Obergericht des Kantons Aargau erklärte mit Urteil vom 27. November 2003 X.________ wiederum der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern schuldig und verurteilte ihn zu 6 Monaten Gefängnis unbedingt, unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft. Ferner ordnete es gestützt auf Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB eine ambulante psychotherapeutische Massnahme während des Strafvollzuges mit dem Ziel der Stärkung der Steuerungsfähigkeit des Beurteilten an.
 
B.
 
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und zur Gewährung des bedingten Strafvollzuges, eventuell zur Gewährung des Aufschubs des Strafvollzuges zu Gunsten einer ambulanten Massnahme zurückzuweisen.
 
C.
 
Das Obergericht des Kantons Aargau beantragt in seinen Gegenbemerkungen die Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft hat auf Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Nichtgewährung des bedingten Strafvollzugs und eventualiter gegen die Verweigerung des Aufschubs des Strafvollzuges zugunsten der ambulanten Massnahme gemäss Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Der Schuldspruch der sexuellen Handlungen mit Kindern, die Freisprüche in den bestrittenen Fällen sowie das im zweiten Urteil des Obergerichts vom 13. Februar 2003 festgesetzte Strafmass waren schon im zweiten bundesgerichtlichen Verfahren nicht mehr angefochten und stehen nicht zur Beurteilung.
 
2.
 
2.1 Gemäss Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als 18 Monaten aufgeschoben werden, wenn Vorleben und Charakter des Verurteilten erwarten lassen, er werde dadurch von weiteren Delikten abgehalten. Der Richter hat somit eine Prognose über das zukünftige Verhalten des Täters zu stellen. Ob der Verurteilte für ein andauerndes Wohlverhalten Gewähr bietet, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände zu entscheiden. In die Beurteilung miteinzubeziehen sind neben den Tatumständen auch das Vorleben und der Leumund sowie alle weiteren Tatsachen, die gültige Schlüsse auf den Charakter des Täters und die Aussichten seiner Bewährung zulassen. Für die Einschätzung des Rückfallrisikos ist ein Gesamtbild der Täterpersönlichkeit unerlässlich. Relevante Faktoren sind etwa strafrechtliche Vorbelastung, Sozialisationsbiographie und Arbeitsverhalten, das Bestehen sozialer Bindungen sowie Hinweise auf Suchtgefährdungen etc. Dabei sind die persönlichen Verhältnisse bis zum Zeitpunkt des Entscheides zu berücksichtigen. Es ist unzulässig, unter den nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB zu berücksichtigenden Umständen einzelnen eine vorrangige Bedeutung beizumessen und andere zu vernachlässigen oder überhaupt ausser Acht zu lassen (BGE 128 IV 193 E. 3a mit Hinweisen).
 
Dem Sachgericht steht ein erhebliches Ermessen zu, bei dessen Ausübung es sich auf sachlich haltbare Gründe stützen muss. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid der kantonalen Instanz nur auf, wenn sie nicht von rechtlich massgebenden Gesichtspunkten ausgeht oder diese in Überschreitung oder Missbrauch ihres Ermessens unrichtig gewichtet (vgl. BGE 123 IV 107 E. 4; 118 IV 97 E. 2a).
 
2.2 Die Vorinstanz nimmt an, der Beschwerdeführer sei in typischer Weise pädophil veranlagt und weise eine einschlägige Vorstrafe auf. Aus diesen Gründen gelangt sie zum Schluss, er biete keine Gewähr für ein dauerndes Wohlverhalten, so dass die Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausser Betracht falle.
 
Die Vorinstanz stützt sich für ihren Entscheid auf das Gutachten der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau vom 22. Mai 2000. Dieses führt aus, die schon früh auffällige sexuelle Entwicklung des Beschwerdeführers sowie die Diagnose einer Pädophilie vom ausschliesslichen Typus (ICD-10 F65.4) und das rezidivierende Eingehen von sexuellen Kontakten zu Kindern seien prognostisch als ungünstig zu bewerten. Das Gutachten gelangt daher zum Schluss, die Rückfallgefahr für erneute pädophile Handlungen erscheine gross. Durch eine Psychotherapie lasse sich die sexuelle Ausrichtung des Beschwerdeführers kaum beeinflussen.
 
Die Vorinstanz verweist in ihrem Urteil bezüglich der Rückfallgefahr des Beschwerdeführers auch auf den Bericht seines Psychotherapeuten vom 1. Oktober 2003, bei dem er sich seit September 2001 in Behandlung befindet. Auch dieser schätzt die Rückfallgefahr für erneute pädophile Handlungen als gross ein. Doch soll dies nach seiner Einschätzung nur gelten, solange der Beschwerdeführer nicht in einem überschaubaren sozialen Rahmen mit befriedigenden mitmenschlichen Kontakten leben könne.
 
2.3 Die Vorinstanz wertet bei der Beurteilung der Bewährungsaussichten des Beschwerdeführers verschiedene wesentliche Gesichtspunkte zu einseitig.
 
Wie der Kassationshof in einem nicht veröffentlichten Entscheid ausgeführt hat, darf aus der pädophilen Sexualtätern eigenen Schwierigkeit, das Unrecht ihrer Straftaten einzusehen und entsprechend zu bereuen, nicht voreilig der Schluss auf eine schlechte Prognose gezogen werden. Vielmehr hat der Richter im Einzelfall abzuklären, ob der bedingte Strafvollzug verbunden mit allfälligen Weisungen und einer Schutzaufsicht bzw. mit der Anordnung einer Massnahme den Täter von einem Rückfall abhalten werde (Urteil des Kassationshofs 6S.135/2002 vom 6.9.2002 E. 3.1).
 
Im zu beurteilenden Fall trifft zwar zu, dass sich die sexuelle Ausrichtung des Beschwerdeführers nach Auffassung der psychiatrischen Gutachter durch eine Therapie kaum beeinflussen lässt. Auf der anderen Seite nehmen diese aber an, eine entsprechende Behandlung könne die Steuerungsfähigkeit des Beschwerdeführers in dem Sinne stärken, dass er trotz vorhandener Veranlagung von erneuten sexuellen Kontakten zu Kindern Abstand nehme. Zum selben Ergebnis kommt der Bericht des behandelnden Therapeuten. Dies ist im Hinblick auf die Beurteilung der Bewährungsaussichten von wesentlicher Bedeutung. Das Gutachten wertet in diesem Zusammenhang denn auch den Umstand, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Intelligenz und der im Wesentlichen recht guten Lebensbewährung grundsätzlich fähig sein sollte, sexuelle Handlungen mit Kindern zu unterlassen, als prognostisch günstigen Faktor. Insofern kann nicht von einer völligen Unbehandelbarkeit des Beschwerdeführers ausgegangen werden. Indem die Vorinstanz annimmt, der Beschwerdeführer befinde sich wegen seiner pädophilen Ausrichtung, insbesondere wegen der mangelnden Steuerungsfähigkeit in einer Zwangslage, misst sie der Veranlagung ein zu grosses Gewicht bei und vernachlässigt die Möglichkeiten, welche eine wirksame Behandlung im Hinblick auf eine Stärkung der Kontrolle dieser Veranlagung eröffnet. Denn auch nach dem Gutachten ist eine Psychotherapie mit dem Schwerpunkt verstärkter Realitätswahrnehmung und Förderung der Persönlichkeitsentwicklung geeignet, das Rückfallrisiko zu senken.
 
In diesem Zusammenhang ist ferner von Bedeutung, dass die Gewährung des bedingten Strafvollzuges - allenfalls unter Auferlegung der maximalen Probezeit - gemäss Art. 41 Ziff. 2 Abs. 1 StGB mit der Weisung verbunden werden kann, sich einer langfristigen Therapie zu unterziehen. Dabei lässt sich die Motivation des Beschwerdeführers, sich ernsthaft auf die Behandlung einzulassen bzw. die im Herbst 2001 aus eigener Initiative aufgenommene Therapie weiterzuführen, dadurch bestärken, dass der Richter die Strafe vollziehen kann, wenn jener den Weisungen zuwiderhandelt (Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB). Mit einem solchen Vorgehen kann der Gefahr eines Rückfalls besser begegnet werden als mit dem Vollzug der kurzen Freiheitsstrafe, womit letztlich auch dem Schutz der Öffentlichkeit besser gedient ist (vgl. Urteil des Kassationshofs 6S.135/2002 vom 6.9.2002 E. 3.2 a.E.). Die Wirkung einer derartigen Weisung muss bei der Entscheidung über die Bewährungsaussichten genauso berücksichtigt werden wie die mögliche Warnungswirkung der neuen zu vollziehenden Strafe beim Widerruf des bedingten Strafvollzugs im Rahmen von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB (BGE 116 IV 177 E. 3d; 99 IV 68 E. II. 2b, je mit Hinweisen).
 
Dass der Beschwerdeführer zu einer Therapie nur ungenügend motiviert bzw. gegenüber einer solchen ambivalent eingestellt wäre, wie das Gutachten feststellte, dürfte sich im heutigen Zeitpunkt angesichts des Umstands, dass er im Herbst 2001 freiwillig eine entsprechende Therapie aufgenommen hat und sich ihr weiterhin unterzieht, nicht mehr aufrecht erhalten lassen.
 
Zu Recht als ungünstigen Faktor wertet die Vorinstanz allerdings die einschlägige Vorstrafe des Beschwerdeführers vom 30. April 1992, bei der er wegen wiederholter Unzucht mit Kindern zu 16 Monaten Zuchthaus, mit bedingtem Strafvollzug bei einer Probezeit von 3 Jahren, verurteilt wurde. Doch kommt dieser angesichts der weit zurückliegenden Tatzeit (April 1990) sowie auch der seit den dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegenden Taten verstrichenen Zeit keine vorrangige Bedeutung zu (vgl. auch Roland M. Schneider, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I, Art. 41 N 90 mit Hinweisen). Auf der anderen Seite lässt die Vorinstanz die positiv zu veranschlagenden Kriterien des stabilen sozialen und beruflichen Umfelds des Beschwerdeführers völlig unberücksichtigt.
 
Insgesamt gewichtet die Vorinstanz in der Gesamtwürdigung einzelne Gesichtspunkte unzutreffend und stützt die Verweigerung des bedingten Strafvollzugs teilweise auf sachlich nicht haltbare Gründe. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt somit als begründet.
 
Die Vorinstanz wird in ihrem neuen Urteil zu entscheiden haben, ob dem Beschwerdeführer der bedingte Strafvollzug, allenfalls unter der begleitenden Anordnung stützender Weisungen, gewährt werden muss. Dabei wird sie die neueste Entwicklung seiner Verhältnisse, namentlich der Fortschritte in seiner Behandlung berücksichtigen müssen. Die Aussichten auf Bewährung wird die Vorinstanz im vorliegenden Fall indes nur sachgerecht beurteilen können, wenn sie einen unmittelbaren persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer gewonnen hat. Die Stellung einer Prognose über das künftige Verhalten des Beschwerdeführers setzt hier somit seine mündliche Anhörung durch die Vorinstanz voraus (vgl. auch Roland M. Schneider, a.a.O., Art. 41 N 82).
 
3.
 
Mit der Gutheissung der Beschwerde hinsichtlich des bedingten Strafvollzuges wird die Rüge, die Vorinstanz habe den Aufschub des Strafvollzuges zugunsten der ambulanten Massnahme gemäss Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB zu Unrecht verweigert, hinfällig.
 
4.
 
Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben und ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung auszurichten (Art. 278 Abs. 2 und 3 BStP).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 27. November 2003 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Dem Beschwerdeführer wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 27. Mai 2004
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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