VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer U 33/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer U 33/2004 vom 22.06.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
U 33/04
 
Urteil vom 22. Juni 2004
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiberin Bollinger
 
Parteien
 
M.________, 1952, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann, Dell'Olivo Frey & Pribnow, Stadtturmstrasse 10, 5400 Baden,
 
gegen
 
SWICA Versicherungen AG, Römerstrasse 38, 8400 Winterthur, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
 
(Entscheid vom 10. Dezember 2003)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1952 geborene M.________ wurde am 24. Juni 2000 auf dem Arbeitsweg in einen Verkehrsunfall verwickelt, wobei sie sich Prellungen und Schürfungen zuzog. Am 26. Juni 2000 begab sie sich zu Dr. med. Z.________, Innere Medizin FMH, in Behandlung. Mit Zeugnis vom 30. Juni 2000 bescheinigte dieser den Abschluss der Behandlung per 29. Mai (recte: Juni) 2000 und eine vollständige Arbeitsfähigkeit ab 29. Juni 2000. Die SWICA Versicherungen AG, Winterthur (SWICA), kam für die Heilbehandlung auf und richtete Taggelder aus. Am 6. Juli 2000 suchte M.________ Dr. med. S.________, FMH für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, auf, der eine posttraumatische Belastungsstörung mit leichter Depression und massiven Angstzuständen nach Unfall (ICD-10 F43.1) diagnostizierte und der Versicherten bis auf Weiteres eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. Am 1. September 2000 verfügte die SWICA den Fallabschluss per 29. Juni 2000. Nachdem M.________ hiegegen interveniert hatte, zog die SWICA mit Schreiben vom 12. September 2000 ihre Verfügung zurück und erbrachte für die somatischen Unfallfolgen (Beschwerden am linken Arm) weiterhin Leistungen. Mit Verfügung vom 10. Oktober 2000 lehnte sie nach weiteren medizinischen Abklärungen eine Leistungspflicht für die psychiatrische Behandlung ab. Auf dagegen erhobene Einsprache hin und nach erneuten medizinischen Untersuchungen, insbesondere einer Begutachtung in der Medizinischen Abklärungsstelle der Invalidenversicherung X.________ (Gutachten vom 11. Dezember 2001), verfügte die SWICA am 27. Mai 2002, dass der Leistungsanspruch am 9. November 2001 erloschen sei, weshalb M.________ die seither erbrachten Leistungen zurückzuerstatten habe bzw. diese intern mit den Krankentaggeldleistungen verrechnet würden. Die dagegen erhobene Einsprache wies die SWICA am 21. Februar 2003 ab.
 
B.
 
M.________ liess Beschwerde führen, welche das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 10. Dezember 2003 abwies.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M.________ die Ausrichtung eines 100%-igen UVG-Taggeldes bzw. einer vollen Rente beantragen.
 
Die SWICA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf Vernehmlassung.
 
Am 5. Mai 2004 lässt M.________ eine Stellungnahme zur Beschwerdeantwort der SWICA zu den Akten reichen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Die Vorinstanz hat die gesetzliche Grundlage zur Leistungspflicht bei Unfällen (Art. 6 UVG) sowie die Rechtsprechung zur Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen einem Unfall und der in der Folge eingetretenen psychischen Fehlentwicklung mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 115 V 133), zum Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) und zum Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 Erw. 3) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 modifiziert die materielle Rechtslage nicht (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 5 zu Art. 4).
 
2.
 
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe die Adäquanz der psychischen Fehlentwicklung beurteilt, ohne das Gutachten der Fachärztin Dr. med. D.________, Psychiatrie und Psychotherapie, vom 1. Mai 2003 in der Urteilsbegründung zu erwähnen und zu erläutern, weshalb es den darin enthaltenen Einschätzungen, insbesondere der Auffassung, wonach der Unfall vom 24. Juni 2000 einzige Ursache der psychischen Beschwerden sei, nicht folge.
 
2.2 Gemäss Art. 35 Abs. 1 und Art. 61 Abs. 2 VwVG (anwendbar nach Art. 1 Abs. 3 VwVG; vgl. auch Art. 61 ATSG) sind die kantonalen Gerichte verpflichtet, ihre Entscheide zu begründen. Das VwVG statuiert damit lediglich den Grundsatz der Begründungspflicht, regelt aber im Einzelnen nicht, welchen Anforderungen bezüglich Inhalt und Umfang der Begründung ein kantonaler Beschwerdeentscheid zu genügen hat. Indes entspricht es allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), dass die Entscheidungsgründe der Betroffenen bekanntgegeben werden (BGE 117 Ia 3 Erw. 3, 116 II 632 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 117 Ib 492 Erw. 6b/bb mit Hinweisen). Die Begründung muss so abgefasst sein, dass die betroffene Person den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann, weshalb zumindest kurz die Überlegungen genannt werden müssen, von denen sich die Behörde leiten liess und auf welche sie ihren Entscheid stützt (BGE 119 I 269 Erw. 4d). Das bedeutet nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 117 Ib 86, 492 Erw. 6b/bb, je mit Hinweisen; vgl. ferner BGE 99 V 188; RKUV 1988 Nr. U 36 S. 44 f., 1996 Nr. U 245 S. 156 sowie in BGE 120 V 378 nicht veröffentlichte Erw. 1a).
 
2.3
 
2.3.1 Es trifft zu, dass das kantonale Gericht das von der Beschwerdeführerin im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte Gutachten der Psychiaterin Dr. med. D.________ im Sachverhalt nicht anführte, was mangelhaft erscheinen mag. Die Expertise ist jedoch in Erw. 3c des angefochtenen Entscheides global erfasst, indem dort von den medizinischen Berichten die Rede ist, welche sich mit den psychischen Beschwerden befassen.
 
Die Vorinstanz erwägt, eine Würdigung der ärztlichen Einschätzungen sei entbehrlich, weil auf die Prüfung des natürlichen Kausalzusammenhangs verzichtet werden könne, wenn die Adäquanz zu verneinen sei. Dies ist insoweit nicht zu beanstanden, als es - selbst wenn aufgrund zusätzlicher Abklärungen der natürliche Kausalzusammenhang zu bejahen wäre - nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid an der Adäquanz des Kausalzusammenhangs fehlt (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67; Erw. 3.2.2 und 3.2.3 hienach).
 
2.3.2 Die Frage nach der adäquaten Kausalität von Unfallfolgen ist eine Rechtsfrage (BGE 117 V 382 Erw. 4a mit Hinweis). Es ist deshalb nicht Sache der Ärzte, das Unfallereignis zu gewichten; dies steht allein dem Gericht zu. Der mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobene Einwand, aufgrund der Einschätzungen der Frau Dr. med. D.________ und des Dr. med. S.________ seien die psychischen Beschwerden überwiegend wahrscheinlich Folgen des am 24. Juni 2000 erlittenen Unfalles, ist deshalb unbehelflich. Aus demselben Grund geht auch die Argumentation der SWICA in ihrer Vernehmlassung vom 16. März 2004 fehl, Abklärungsstellen-Arzt Dr. med. W.________ habe nicht nur die natürliche Kausalität verneint, sondern gleichzeitig auch die Frage nach der Adäquanz beantwortet.
 
2.3.3 Ob eine Verletzung der Begründungspflicht vorliegt, kann im Übrigen letztlich offen bleiben. Selbst wenn ein Begründungsdefizit zu bejahen wäre, läge jedenfalls kein derart schwerer Mangel vor, dass dieser angesichts der vollen Kognition des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (Art. 132 OG) im letztinstanzlichen Verfahren keiner Heilung zugänglich wäre. Der Versicherten war es ohne weiteres möglich, den kantonalen Entscheid sachgerecht anzufechten, zumal sie sich zu den psychischen Unfallfolgen einlässlich geäussert hat. Soweit dem rechtlichen Gehör im vorinstanzlichen Verfahren nicht genügend Rechnung getragen worden wäre, kann diese Verletzung demnach im letztinstanzlichen Verfahren als geheilt gelten (BGE 127 V 437 Erw. 3d/aa mit Hinweisen).
 
3.
 
3.1 Was die somatischen Unfallfolgen betrifft, ist nicht mehr umstritten, dass die Leistungspflicht der SWICA am 9. November 2001 geendet hat.
 
3.2 Streitig und zu prüfen ist, wie es sich mit der Leistungspflicht der Versicherung für die persistierenden psychischen Beschwerden verhält.
 
3.2.1 Nach der Rechtsprechung hat die Beurteilung, ob ein Unfall unter besonders dramatischen Begleitumständen passiert ist oder besonders eindrücklich war, ausgehend vom objektiven Geschehensablauf zu erfolgen (RKUV 2000 Nr. U 394 S. 313). Nicht was in der einzelnen betroffenen Person beim Unfall psychisch vorgeht - sofern sich dies überhaupt zuverlässig feststellen lässt - ist entscheidend, sondern die objektive Eignung solcher Begleitumstände, psychische Abläufe in Bewegung zu setzen, welche an nachfolgenden Fehlentwicklungen mitbeteiligt sein können (RKUV 1999 Nr. U 335 S. 207).
 
Bezüglich des Unfallgeschehens ist davon auszugehen, dass die Versicherte mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) beim Ausweichen eines ausser Kontrolle geratenen Autos eine Treppe hinabgestürzt ist, wobei sie sich Prellungen und Schürfungen im Bereich des rechten Unterarmes, der Handfläche palmar links sowie am rechten Unterschenkel und am Rippenbogen links zuzog. Zwar ist nachvollziehbar, dass sie, als sie nachts auf einem Trottoir gehend unvermittelt einem auf sie zufahrenden Auto ausweichen musste und dabei eine Kellertreppe hinabstürzte, heftig erschrak. Die von der Psychiaterin als "traumatische Zange" bezeichnete Situation der Beschwerdeführerin beim Unfall, welche ein Gefühl der Angst und des völligen Ausgeliefertseins verursacht habe, widerspiegelt jedoch einzig das subjektive Empfinden der Versicherten, während der objektive Geschehensablauf nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid das Adäquanzkriterium der besonderen Eindrücklichkeit oder besonders dramatischen Begleitumstände nicht erfüllt.
 
3.2.2 Schliesslich ist die Rechtsprechung zur Adäquanz bei psychischen Störungen nach Schreckereignissen (BGE 129 V 177) nicht anwendbar, da die Versicherte körperliche Verletzungen davon getragen hat. Die Beurteilung kann daher nicht nach der gewöhnlichen Adäquanzformel erfolgen (Urteil C. vom 19. März 2003, U 15/00). Selbst nach der Rechtsprechung zu den Schreckereignissen, wonach nur aussergewöhnliche Ereignisse (d.h. gewaltsame, in unmittelbarer Gegenwart der Versicherten sich abspielende Vorfälle, die in ihrer überraschenden Heftigkeit geeignet sind, bei einer weiten Bandbreite von Versicherten durch Störung des seelischen Gleichgewichts typische Angst- und Schreckwirkungen wie Lähmungen, Herzschlag etc. hervorzurufen; RKUV 2000 Nr. U 394 S. 313), verbunden mit einem psychischen Schock, geeignet sind, eine psychische Fehlentwicklung auszulösen, wäre die Adäquanz eindeutig zu verneinen.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
 
Luzern, 22. Juni 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).