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Informationen zum Dokument  BGer U 44/2004  Materielle Begründung
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BGer U 44/2004 vom 26.11.2004
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
U 44/04
 
Urteil vom 26. November 2004
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiber Fessler
 
Parteien
 
Allianz Suisse Versicherungen, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
G.________, 1934, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel J. Senn, Museumstrasse 47, 9000 St. Gallen
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden, Trogen
 
(Entscheid vom 19. November 2003)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1934 geborene G.________ führt seit Jahren eine Praxis als Naturheilärztin in S.________. Sie ist bei der Allianz Suisse Versicherungen (nachfolgend: Allianz) gegen die gesundheitlichen und erwerblichen Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen im Rahmen des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung freiwillig versichert. Am 29. März 1999 verletzte sich G.________ bei einem Sturz an beiden Schultern (Humeruskopffraktur beidseits). Die Allianz erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld). Am 18. Januar 2000 wurde G.________ in der Klinik X.________ an der rechten Schulter operiert. Wegen protrahierten Verlaufs mit persistierenden Restbeschwerden und Bewegungseinschränkung wurde im Rahmen eines stationären Kuraufenthaltes vom 8. bis 24. April 2000 intensive physikalische Therapie unter ärztlicher Leitung durchgeführt. Zur Abklärung der weiteren Leistungspflicht liess die Allianz G.________ durch Dr. med. M.________, Chirurgie FMH, und Prof. Dr. med. L.________, Neurologie FMH, untersuchen (Expertisen vom 31. Oktober 2001 und 14. Januar 2002).
 
Mit Verfügung vom 14. Mai 2002 stellte die Allianz die Versicherungsleistungen zum 1. November 2001 ein. Daran hielt der Unfallversicherer mit Einspracheentscheid vom 16. Dezember 2002 fest.
 
B.
 
In Gutheissung der Beschwerde von G.________ hob das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserhoden mit Entscheid vom 19. November 2003 den Einspracheentscheid auf und wies die Allianz an, weiterhin die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.
 
C.
 
Die Allianz führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
 
G.________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Allianz aus dem Unfall vom 29. März 1999 auch ab 1. November 2001 Leistungen zu erbringen hat. Dabei stellt sich vorab die Frage, ob die geklagten Beschwerden, im Wesentlichen Sensibilitätsstörungen und Lähmungserscheinungen im rechten Arm, und die dadurch bedingte Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit natürlich kausale Unfallfolgen darstellen.
 
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ist nicht anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
 
2.
 
Im angefochtenen Entscheid wird der Begriff des natürlichen Kausalzusammenhangs (vgl. BGE 119 V 337 Erw. 1 mit Hinweisen) sowie die Rechtsprechung zum Beweiswert von Arztberichten (vgl. BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Ausführungen zur Beweislastverteilung in Bezug auf die Frage, ob der Unfall jede kausale Bedeutung für den Gesundheitsschaden verloren hat (vgl. RKUV 2000 Nr. U 363 S. 46 Erw. 2 mit Hinweis). Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, auf Grund des Gutachtens des Prof. Dr. med. L.________ vom 14. Januar 2002 sei davon auszugehen, dass die geklagten Sensibilitätsstörungen und Lähmungserscheinungen im rechten Arm nicht auf eine neurologische Ursache zurückzuführen seien. Damit sei indessen nicht rechtsgenüglich erstellt, dass die Beschwerden nach dem 1. November 2001 nicht mehr unfallkausal seien. Gemäss Dr. med. M.________ seien die Beschwerden im rechten Arm mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Folge des Unfallereignisses vom 29. März 1999. Dass der Allgemeinchirurg in seiner Stellungnahme vom 25. Januar 2002 angebe, er könne sich Prof. Dr. med. L.________ ohne weiteres anschliessen, sei lediglich ein scheinbarer Widerspruch. Sinngemäss seien die Aussagen der beiden Fachärzte dahingehend zu verstehen, «dass die Beschwerdeführerin ihren rechten Arm seit dem Unfall nicht mehr voll gebrauchen kann und keine neurologische Ursache für diese Beschwerden gefunden werden konnte».
 
3.2 Dem hält die Allianz zu Recht entgegen, dass weder Dr. med. M.________ als Chirurg noch Prof. Dr. med. L.________ als Neurologe in ihrem jeweiligen Fachgebiet einen organischen Befund erheben konnten, auf welchen die nach dem 1. November 2001 geklagten Beschwerden zurückgeführt werden können. Die von Dr. med. M.________ objektivierten subjektiven Schmerzangaben der Versicherten betreffen hauptsächlich den neurologischen Fachbereich. Prof. Dr. med. L.________ hat aus neurologischer Sicht aber weder eine Nervenschädigung des rechten Armes mit Hypästhesie und muskulärer Hypotrophie noch überhaupt einen klaren organischen Befund nachweisen können. Dies spricht aus somatischer Sicht gegen den natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Sturz vom 29. März 1999 und den ab November 2001 geklagten Beschwerden der rechten oberen Extremität.
 
Immerhin ist festzustellen, dass Dr. med. M.________ im Gegensatz zu Prof. Dr. med. L.________ unfallfremde Faktoren verneint. Sodann weichen die Gutachter auch bei den Befunden voneinander ab. Während Dr. med. M.________ der Deltoideus rechts und auch die Oberarm- und Vorderarmmuskulatur rechts etwas hypotroph erschienen, waren nach Prof. Dr. med. L.________ Trophik und Tonus der rechten oberen Extremität normal. Im Weitern kontrastiert die vom neurologischen Experten festgestellte unfallfremde Überlagerung der geschilderten Paresen und Sensibilitätsstörungen mit dem psychisch unauffälligen Befund. Prof. Dr. med. L.________ bezeichnete die Explorandin als zeitlich, örtlich und auch autopsychisch voll orientiert. Schliesslich hält der Neurologe fest, bei der - allerdings fraglichen - starken Überlagerung könne ein organischer Kern der Beschwerden nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden.
 
4.
 
Es stellt sich die Frage, ob dem Gutachten des Prof. Dr. med. L.________ vom 14. Januar 2002 Beweiswert zukommt. Das kantonale Gericht hat dies bejaht. Dagegen lässt die Versicherte vorbringen, Prof. Dr. med. L.________ sei ein Vertrauensarzt der Allianz, somit nicht neutral. Beim Untersuch sei die «Chemie» zwischen dem Experten und ihr in einem offenkundig überdurchschnittlichen Masse gestört gewesen. Es stelle sich der Eindruck ein, Prof. Dr. med. L.________ habe sie von Beginn an in die «psychosomatische Ecke» stellen wollen. Der Gutachter sei arrogant und unsympathisch aufgetreten. Der «Untersuch» habe lediglich eine halbe Stunde gedauert. Strömungsmessungen oder dergleichen seien überhaupt nicht vorgenommen worden. Sodann gehe der Experte zu Unrecht, wohl irrtümlich oder mangels genauen Aktenstudiums, davon aus, es hätten in der ersten Behandlungszeit keine Hinweise auf schwerwiegendere neurologische Ausfälle bestanden. Diese Umstände weckten nicht zu unterdrückende Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Prof. Dr. med. L.________. Auf das Gutachten vom 14. Januar 2002 könne daher nicht abgestellt werden.
 
4.1 Der Expertise vom 14. Januar 2002 kommt Beweiswert zu, sofern und soweit sie schlüssig erscheint, nachvollziehbar begründet und in sich widerspruchsfrei ist und auch keine Indizien bestehen, die gegen ihre Zuverlässigkeit sprechen. Die Tatsache allein, dass Prof. Dr. med. L.________ vom Unfallversicherer mit der Begutachtung beauftragt wurde, lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität oder auf Befangenheit schliessen. Dies gilt auch, wenn der von der Beschwerdegegnerin als Vertrauensarzt der Allianz bezeichnete Experte als betriebsintern eingesetzter Facharzt eines nach Art. 68 Abs. 1 UVG zugelassenen privaten Unfallversicherers zu betrachten wäre. Es bedarf besonderer Umstände, welche das Misstrauen in die Unparteilichkeit des Gutachters objektiv als begründet erscheinen lassen. Objektivität und Unvoreingenommenheit des Gutachters beurteilen sich indessen nach einem strengen Massstab (in RKUV 2003 Nr. U 484 S. 251 nicht publizierte Erw. 3.2.2 mit Hinweis auf BGE 125 V 353 f. Erw. 3b/ee; vgl. auch BGE 128 III 15 Erw. 4a).
 
4.2 Das Verhalten eines Experten während der Exploration kann objektiv den Anschein von Befangenheit erwecken (vgl. BGE 125 I 122 Erw. 3a). Zu denken ist etwa an Äusserungen, welche die Glaubhaftigkeit der Angaben des Exploranden oder der Explorandin zum Gesundheitszustand und zur Selbsteinschätzung der Arbeitsfähigkeit von vornherein mehr oder weniger offen verneinen, oder sogar abschätzige Bemerkungen persönlicher Natur. Sodann können auch die Art und Weise, wie die Untersuchung durchgeführt wird, und in diesem Zusammenhang auch die Dauer der Massnahme unter Umständen objektiv Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Experten wecken. Gemäss Aktennotiz vom 11. Januar 2002 beklagte sich die Beschwerdegegnerin am Tag nach dem Untersuch bei der zuständigen Sachbearbeiterin der Allianz. Nach den Erkenntnissen des Prof. Dr. med. L.________ seien ihre Probleme mit der Hand resp. Ring- und Kleinfinger nicht neurologischer Natur, sondern rein psychisch bedingt. Sie könne das doch kaum glauben. Sie gehe sicher nicht zum Psychiater, wenn sie kein Gefühl in den Fingern habe. Aus diesen Äusserungen ist zu schliessen, dass die Beschwerdegegnerin sich vorab daran störte, dass der Gutachter sie sozusagen als «Fall für den Psychiater» betrachtete. Im Umstand allein, dass Prof. Dr. med. L.________ ein psychosomatisches Geschehen vermutete oder sogar annahm, kann indessen kein Indiz für Befangenheit erblickt werden.
 
Im Weiteren trifft zwar zu, dass Prof. Dr. med. L.________ bei der Beurteilung davon ausging, dass anfänglich schwerwiegendere neurologische Ausfälle nicht bestanden hätten. Aktenmässig fänden sich erste Hinweise mehr als ein Jahr nach dem Unfall (in einer Aktennotiz der Allianz vom 16. Juni 2000). Diese Annahme ist offensichtlich unrichtig. Bereits am 18. Februar 2000 hatte die Versicherte der zuständigen Sachbearbeiterin gegenüber erwähnt, sie hätte schon Lähmungserscheinungen im Arm gehabt. Gemäss Bericht der Klinik X.________ vom 25. Januar 2000 sodann war als Komplikation der Operation vom 18. Januar 2000 eine schmerzhafte acealis Neuralgie aufgetreten, die durch Schmerztherapie und vor allem Akupunktur verbessert worden sei. Selbst wenn aus dieser Diskrepanz ebenfalls nicht auf Befangenheit geschlossen werden kann, wird dadurch doch die materielle Beweiskraft des Gutachtens in Frage gestellt.
 
Daher ist eine nochmalige orthopädische, neurologische und allenfalls psychiatrische Begutachtung mit klarer Fragestellung zur natürlichen Kausalität der geklagten Funktionseinschränkungen und -ausfälle der rechten oberen Extremität zum Unfall vom 29. März 1999 für die Zeit ab 21. November 2001 erforderlich. Zu diesem Zwecke ist die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
 
5.
 
Nach der Praxis hat die obsiegende Allianz keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG; Urteil K. vom 10. Februar 2004 [U 199/02] Erw. 6).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid vom 19. November 2003 aufgehoben und die Sache an das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden zurückgewiesen wird, damit es im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Leistungspflicht aus dem Unfall vom 29. März 1999 ab 1. November 2001 neu entscheide.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
 
Luzern, 26. November 2004
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Vorsitzende der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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