VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1P.720/2004  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1P.720/2004 vom 11.05.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.720/2004 /ggs
 
Urteil vom 11. Mai 2005
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
Parteien
 
Ehepaar X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. David Brunner,
 
gegen
 
10 Beamte der Kantonspolizei St. Gallen,
 
Y.________,
 
Beschwerdegegner,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach, Grynaustrasse 3, 8730 Uznach,
 
Anklagekammer des Kantons St. Gallen, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Art. 9, Art. 10 Abs. 2, Art. 13, 26, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5, 8 und 13 EMRK (Eröffnung eines Strafverfahrens),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
 
der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 16. September 2004.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Ehepaar X.________ reichte am 27. Juli 2004 gegen 10 Beamte der Kantonspolizei St. Gallen (Oblt A.________, Wm B.________, Wm C.________, Kpl D.________, Kpl E.________, Kpl F.________, Pm G.________, Pb H.________, Pm I.________, Wm J.________) sowie gegen den Gemeindepräsidenten von Weesen, Y.________, Strafklage wegen Begünstigung, Hausfriedensbruchs, Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung, Amtsmissbrauchs und Tierquälerei ein. Diese Vorwürfe begründeten sie mit folgenden drei Vorfällen:
 
- Am 12. Juli 2002 habe er (XA.________) die Polizei gerufen, da sein Nachbar, K.________, in ihren Garten eingedrungen sei und dort den Ast eines Baumes abgeschnitten habe. Er habe gegenüber Wm J.________, der auf seinen Anruf gekommen sei, gegen seinen Nachbarn Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung erhoben. Er habe dann festgestellt, dass dieser Vorgang nicht rapportiert worden sei. Oblt A.________ habe ihm mitgeteilt, dass Wm J.________ den Vorfall in Absprache mit ihm nicht rapportiert habe. Durch dieses Vorgehen hätten die Beiden versucht, seinen Nachbarn der Strafverfolgung zu entziehen.
 
- Am 27. Juli 2002 seien einige Mitglieder der Musikgesellschaft L.________ im benachbarten Restaurant M.________ eingekehrt. Um die Mittagszeit hätten sie einen Tisch und Stühle aus der Gartenwirtschaft hinausgetragen und auf die Verkehrsinsel gestellt. Statt für Ruhe und Ordnung und Sicherheit zu sorgen habe sie der Wirt, K.________, dort weiter bewirtet, wodurch die Sonntagsruhe gestört und die Verkehrssicherheit gefährdet worden sei. Um 16 Uhr hätten sie über die kantonale Notrufzentrale die Polizei alarmiert, welche indessen erst um 19:35 Uhr vor Ort erschienen sei; kurz zuvor habe die Gesellschaft auf Intervention des damaligen Gemeindepräsidenten die Verkehrsinsel geräumt gehabt. Sie hätten ausdrücklich Strafanzeige wegen Widerhandlung gegen das Gastwirtschaftsgesetz und das Strassenverkehrsgesetz sowie wegen Ruhestörung erhoben. Die Beamten hätten deren Aufnahme verweigert, weshalb gegen sie eine Strafuntersuchung wegen Begünstigung eröffnet werden müsse.
 
- Am 28. April 2004 soll XA.________ nach den Angaben der Sekretärin der Chefin des kantonalen Justiz- und Polizeidepartementes, N.________, angerufen und, nachdem sie ihm ein Telefongespräch mit Regierungsrätin O.________ verwehrt habe, die Drohung ausgestossen haben, dass er dieser denselben Schaden zufügen werde, wie er ihn erlitten habe, und dass es Tote geben würde, wie in Escholzmatt. N.________ reichte gegen XA.________ Strafanzeige ein wegen Drohung, worauf das Untersuchungsamt Flums eine Strafuntersuchung gegen XA.________ eröffnete. Es liess ihn gleichentags verhaften und sein Haus nach Waffen durchsuchen. Dabei sei die Kantonspolizei, der an sich bekannt gewesen sei, dass er (XA.________) harmlos sei, mit einem achtköpfigen Überfallkommando angerückt und habe ihn mit Handschellen gefesselt und abgeführt. Daraufhin habe man offenbar im Beisein des Gemeindepräsidenten von Weesen sein Haus durchsucht, wobei sie offensichtlich zunächst den Hund betäubt hätten. Dadurch hätten die an dieser Aktion Beteiligten Tätlichkeiten, Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und Tierquälerei begangen.
 
Am 3. August 2004 überwies die Staatsanwaltschaft die Strafklage des Ehepaars X.________ der Anklagekammer des Kantons St. Gallen zur Durchführung eines Ermächtigungsverfahrens.
 
Die Anklagekammer holte bei Y.________ und der Kantonspolizei Vernehmlassungen ein und entschied am 16. September 2004, es werde kein Strafverfahren eröffnet.
 
B.
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 8. Dezember 2004 wegen Willkür und Verletzung des rechtlichen Gehörs beantragt das Ehepaar X.________, diesen Entscheid der Anklagekammer aufzuheben.
 
Y.________ verzichtet auf Vernehmlassung. Das Kommando der Kantonspolizei St. Gallen verzichtet in Vertretung und nach Rücksprache mit den betroffenen Beamten auf Vernehmlassung. Die Anklagekammer beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die Einstellung des Strafverfahrens oder gegen ein den Angeschuldigten freisprechendes Urteil staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Der Geschädigte hat an der Verfolgung und Bestrafung des Angeschuldigten nur ein tatsächliches oder mittelbares Interesse im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 88 OG. Der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren geht, steht ausschliesslich dem Staat zu, und zwar unabhängig davon, ob der Geschädigte als Privatstrafkläger auftritt oder die eingeklagte Handlung auf seinen Antrag hin verfolgt wird (BGE 128 I 218 E. 1.1 mit Hinweisen). Unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst ist der Geschädigte aber befugt, mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung von Verfahrensrechten geltend zu machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das nach Art. 88 OG erforderliche rechtlich geschützte Interesse ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Ist der Beschwerdeführer in diesem Sinne nach kantonalem Recht Partei, kann er die Verletzung jener Parteirechte rügen, die ihm nach dem kantonalen Verfahrensrecht oder unmittelbar aufgrund der Bundesverfassung zustehen. Der in der Sache selbst nicht Legitimierte, dem im kantonalen Verfahren jedoch Parteistellung zukam, kann beispielsweise geltend machen, er sei nicht angehört worden (BGE 128 I 218 E. 1.1; 120 Ia 157 E. 2a/aa und bb). Soweit der Geschädigte indes Opfer im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG ist, steht ihm eine auf materiellrechtliche Fragen erweiterte Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde zu, wenn er sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann (Art. 8 Abs. 1 lit. c OHG; BGE ; 128 I 218 E. 1.1; 120 Ia 101 E. 2a, 157 E. 2c).
 
1.2 Die Beschwerdeführer haben gegen die Beschwerdegegner Strafklage erhoben und waren damit nach Art. 42 Abs. 1 des St. Galler Strafprozessgesetzes vom 1. Juli 1999 (StP) befugt, im Strafverfahren Parteirechte auszuüben. Dies gilt jedenfalls für das Untersuchungs- und das Gerichtsverfahren (Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, Bern 1994, S. 186, zu Art. 35 aStP). Fraglich könnte höchstens sein, ob die Strafkläger auch an dem vorgelagerten Ermittlungs- oder hier Ermächtigungsverfahren, in dem entschieden wird, ob ein Strafverfahren eröffnet wird, als Partei teilnahmen. Davon geht die Anklagekammer offensichtlich aus. Auf dem Deckblatt des angefochtenen Entscheids wird das Ermächtigungsverfahren jedenfalls als Zweiparteienverfahren "Strafkläger" gegen "Angezeigte" geführt, und die Beschwerdeführer erhielten diesen als Gerichtsurkunde zugestellt, was darauf schliessen lässt, dass sie die Anklagekammer als Partei betrachtete. Vor allem aber bezeichnet die Anklagekammer in ihrem Entscheid GVP 1988 Nr. 74, auf den sie ausdrücklich verweist mit dem Hinweis, die Regeln des Ermittlungsverfahrens gälten analog auch für das Ermächtigungsverfahren, die Verfahrensbeteiligten als Parteien. Da die Auslegung des kantonalen Strafprozessrechts, soweit sie dafür zuständig ist, in erster Linie Sache der Anklagekammer ist, ist somit mit ihr davon auszugehen, dass die Beschwerdeführer als Strafkläger im kantonalen Ermächtigungsverfahren Parteistellung hatten.
 
2.
 
Die Beschwerdeführer rügen, die Anklagekammer habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie das Verfahren nach Eingang der Vernehmlassungen der Angezeigten abgeschlossen und entschieden habe, ohne ihnen diese zuvor zugestellt und ihnen Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu den "unhaltbaren Verharmlosungen" und den "tatsachenwidrigen Vorbringen" der Kantonspolizei zu äussern.
 
2.1 Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör bemisst sich in erster Linie nach kantonalem Recht, subsidiär nach den aus Art. 29 Abs. 1 und 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Mindestgarantien (BGE 121 I 225 E. 2a; 119 Ia 136 E. 2c S. 138, mit Hinweisen). Die Beschwerdeführer machen nicht geltend, das kantonale Recht gewähre einen über die bundesverfassungs- bzw. konventionsrechtlichen Garantien hinausgehenden Anspruch auf Akteneinsicht.
 
Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK - worauf sich die Beschwerdeführer ohne weiteres berufen können, da sie mit ihrer Strafklage insbesondere auch zivilrechtliche Entschädigungsansprüche geltend machen dürfen - und Art. 29 Abs.1 und 2 BV hat jede Verfahrenspartei grundsätzlich Anspruch, von allen dem Gericht eingereichten Beweisen und Eingaben Kenntnis zu erhalten (BGE 129 I 249 E. 3 S. 253; 122 I 153 E. 6a S. 161). Nach einer eher beiläufigen Bemerkung des EGMR (Urteil Nr. 33499/96 vom 21. Februar 2002 i.S. Ziegler gegen Schweiz, in: VPB 2002 Nr. 113 S. 1307, § 33 S. 1314) hat sie zudem einen unbedingten Anspruch, sich dazu zu äussern. Bestünde indessen tatsächlich ein unbedingter Anspruch jeder Verfahrenspartei, sich zu jeder Eingabe der Gegenpartei zu äussern, könnte ein Verfahren gar nie abgeschlossen werden, es sei denn, eine Partei würde - vielleicht nach dem x-ten Schriftenwechsel - auf ihr Recht, sich zur letzten Eingabe der Gegenpartei zu äussern, ausdrücklich verzichten. Der Anspruch kann daher vernünftigerweise nur in Bezug auf Eingaben gelten, die geeignet sind, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen.
 
2.2 Im vorliegenden Fall haben die Beschwerdeführer in ihrer Strafklage den Angezeigten klarerweise strafbares Verhalten unterstellt bzw. verschiedene Vorfälle in einer Weise dargestellt, die auf ein strafbares Verhalten der Angezeigten schliessen lassen bzw. es jedenfalls nicht erlauben, ein solches ohne weitere Ermittlungen auszuschliessen. Dies müsste nach den Ausführungen der Anklagekammer im Entscheid GVP 1988 Nr. 74, auf den sie verweist, zur Eröffnung eines Untersuchungsverfahrens führen. Die Beschwerdegegner haben in ihren Vernehmlassungen dieser Darstellung der Ereignisse in den erheblichen Punkten widersprochen und vehement verneint, sich in irgend einer Weise strafbar gemacht zu haben. Der angefochtene Entscheid, mit welchem die Anklagekammer die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die Beschwerdegegner ablehnt, beruht wesentlich auf deren Sachverhaltsdarstellung. Diese Vernehmlassungen waren daher für den Ausgang des Ermächtigungsverfahrens klarerweise erheblich, weshalb die Anklagekammer nach dem in E. 2.1. dargelegten den Beschwerdeführern hätte Gelegenheit einräumen müssen, dazu Stellung nehmen. Die Anklagekammer hat diese Vernehmlassungen den Beschwerdeführern nicht zugestellt und ihnen keine Gelegenheit gegeben, sich dazu zu äussern. Damit hat sie deren rechtliches Gehör verletzt, die Rüge ist begründet.
 
3.
 
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben, ohne dass die weiteren Rügen zu prüfen wären. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG). Hingegen hat der Kanton St. Gallen den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 16. September 2004 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft, Untersuchungsamt Uznach, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 11. Mai 2005
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).