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Informationen zum Dokument  BGer K 175/2004  Materielle Begründung
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BGer K 175/2004 vom 15.06.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
K 175/04
 
Urteil vom 15. Juni 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiberin Durizzo
 
Parteien
 
A.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Rechtsdienst für Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,
 
gegen
 
CSS Kranken-Versicherung AG, Rösslimattstrasse 40, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
 
(Entscheid vom 26. Oktober 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.________, geboren 1963, leidet seit 1990 an Bulimie, welche zu Zahnschäden führte. In den Jahren 1998, 1999 und 2001 übernahm die CSS Kranken-Versicherung AG, bei der A.________ obligatorisch krankenpflegeversichert ist, die Kosten für die erforderlichen Behandlungen. Am 3. Januar 2002 ersuchte Dr. med. dent. N.________ um eine weitere Kostengutsprache. Mit Verfügung vom 11. April 2003 und Einspracheentscheid vom 16. Dezember 2003 lehnte die CSS ihre Leistungspflicht gestützt auf die Stellungnahme ihres Vertrauensarztes Dr. med. dent. B.________ vom 3. April 2003 ab. Zur Begründung führte sie an, dass nunmehr keine Erosionsschäden, für deren Behebung sie bereits aufgekommen war, sondern kariöse Läsionen vorliegen würden. Diese stünden in keinem direkten kausalen Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung und seien bei Bulimie grundsätzlich vermeidbar.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen gestützt auf eine erneute Stellungnahme des Vertrauensarztes der CSS (Bericht vom 26. März 2004) mit Entscheid vom 26. Oktober 2004 ab.
 
C.
 
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides und des Einspracheentscheides vom 16. Dezember 2003 sei die CSS zu verpflichten, die Kosten für die im Zusammenhang mit ihrer Bulimie stehenden notwendigen Zahnbehandlung zu übernehmen. Eventualiter seien weitere medizinische Abklärungen anzuordnen.
 
Während die CSS auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die CSS für die zahnärztliche Behandlung im Rahmen von Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV und Art. 18 lit. c Ziff. 7 KLV kostenvergütungspflichtig ist. Das kantonale Gericht hat diese gesetzlichen Bestimmungen richtig dargelegt; darauf wird verwiesen.
 
1.2 Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts gilt Bulimie als schwere psychische Erkrankung mit kausaler schwerer Beeinträchtigung der Kaufunktion (BGE 124 V 353 Erw. 2a). Die Behandlung muss, damit deren Kosten als Pflichtleistung vom Versicherer zu übernehmen sind, nicht nur notwendig, sondern nach Art. 32 Abs. 1 KVG auch wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Daraus ergeben sich Anhaltspunkte dafür, welche zahnärztlichen Leistungen und wann sie zu erbringen sind. In zeitlicher Hinsicht werden in Übereinstimmung mit den Empfehlungen des von der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft herausgegebenen Atlasses der Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Kausystem (SSO-Atlas, S. 144) zu Beginn in aller Regel Hygiene- und Prophylaxemassnahmen stehen. Was indessen die durch das psychische Leiden verursachten übrigen zahnärztlichen Massnahmen anbelangt, hängt deren zeitliche Priorität von den Umständen des Einzelfalles ab. Dem im SSO-Atlas aufgestellten Grundsatz, dass bei psychisch bedingten schweren Allgemeinerkrankungen wie der Anorexia nervosa und der Bulimie die zahnärztliche Rekonstruktion erst nach der Heilung des Grundleidens zu erfolgen hat, liegt offenbar der grundsätzlich zutreffende Gedanke zugrunde, dass die Rekonstruktion erst einsetzen soll, wenn der Zufluss von Magensäure in die Mundhöhle aufgehört hat und die Rekonstruktion dadurch nicht wieder zunichte gemacht wird. Es sind indessen auch andere Umstände zu berücksichtigen wie z.B. die Behandlung von Zahnschmerzen, mit der nicht einfach zugewartet werden kann, sowie die Erhaltung der Kaufunktion der versicherten Person, ferner auch das Bestreben, solche Schäden zu beheben, die sich verschlimmern und später nur noch mit unverhältnismässig hohen Kosten behoben werden können. Entscheidend ist allein, dass die erforderlichen zahnärztlichen Massnahmen klare Folge der schweren Allgemeinerkrankung sind (BGE 124 V 354 f. Erw. 2f).
 
1.3 Des Weiteren sind rechtsprechungsgemäss immer die Anforderungen an die zumutbare Schadenminderungspflicht zu beachten. So hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 128 V 59 erkannt, dass Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 18 KLV nur bei nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems Pflichtleistungen der obligatorischen Krankenversicherung auslöst. Dabei muss nicht die schwere Allgemeinerkrankung, sondern die Kausystemerkrankung unvermeidbar gewesen sein. Vorausgesetzt wird eine objektive Unvermeidbarkeit. Dies verlangt eine nach dem jeweiligen Wissensstand der Zahnheilkunde genügende Mundhygiene. Massgebend ist, ob beispielsweise Karies hätte vermieden werden können, wenn die Mundhygiene genügend gewesen wäre, ohne Rücksicht darauf, ob die versäumte Prophylaxe im Einzelfall als subjektiv entschuldbar zu betrachten ist (BGE 128 V 62 f. Erw. 4a). In diesem Fall, der eine an Xerostomie infolge einer Speicheldrüsenerkrankung leidende Beschwerdeführerin betraf, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erwogen, es könne nicht entscheidend sein, ob diese eine weniger gute Mundhygiene gehabt habe, als vom Krankenversicherer als nötig und zumutbar erachtet werde, sondern vielmehr, ob die Zahnbehandlungen bei der Speicheldrüsenerkrankung und der dadurch verursachten Mundtrockenheit mit erhöhter Kariesanfälligkeit durch eine genügende und zumutbare Mundhygiene hätten vermieden werden können. Ersteres würde auf eine Sanktionierung der Beschwerdeführerin hinauslaufen, indem sie wegen ungenügender Mundhygiene der Pflichtleistung selbst dann verlustig ginge, wenn die Zahnschäden trotz optimaler, d.h. genügender und zumutbarer Mundhygiene nicht vermeidbar wären. Eine versicherte Person, die auf Grund ihrer Konstitution, durchgemachten Krankheiten oder durchgeführten Zahnbehandlungen eine erhöhte Anfälligkeit für Zahnerkrankungen habe, könne es nicht mit der allgemein üblichen Mundhygiene bewenden lassen. Die Mundhygiene müsse aber in jedem Fall sowohl in der täglichen Durchführung wie auch hinsichtlich des periodischen Ganges zum Zahnarzt und der Dentalhygiene in vernünftigem und zumutbarem Rahmen bleiben (BGE 128 V 65 Erw. 6c und d).
 
1.4 Zu prüfen ist schliesslich, ob die Schadenminderungspflicht vom psychischen Leiden her wahrgenommen werden kann. Eine Leistungspflicht für eine Beeinträchtigung der Kaufunktion bei schwer psychisch Kranken zufolge Unterbleibens genügender Mundhygiene kann nur bejaht werden, wenn die genügende Mundhygiene aus Gründen der psychischen Krankheit verunmöglicht war. Dies ist etwa dann der Fall, wenn sich eine schwer psychisch kranke Person wegen ihres Unvermögens, die Notwendigkeit einer genügenden Mundhygiene zu erkennen, einer solchen widersetzt oder wenn die Durchführung einer genügenden Mundhygiene aus Gründen wie etwa der ernsthaften Verschlimmerung des psychischen Leidens während geraumer Zeit zu unterbleiben hat. Ist einem schwer psychisch Kranken die Durchführung einer genügenden Mundhygiene lediglich erschwert, rechtfertigt sich eine Leistungspflicht für eine daraus hervorgegangene schwere Beeinträchtigung der Kaufunktion nicht (BGE 128 V 70, 72 f. Erw. 5a; Urteil F. vom 26. April 2002 [K 181/00] Erw. 4).
 
2.
 
2.1 Das kantonale Gericht misst den vertrauensärztlichen Stellungnahmen des Dr. med. dent. B.________ vom 3. April 2003 und 26. März 2004 entscheidende Bedeutung zu, indem es daraus schliesst, "ein sauberer Zahn könne nicht von Karies befallen werden und Kariesschäden würden auch bei Bulimie grundsätzlich als vermeidbar gelten"; es gebe in den Akten keine ärztliche Aussage, welche dies grundsätzlich widerlegen würde. Die Vorinstanz geht deshalb davon aus, dass Kariesschäden bei der unter Bulimie leidenden Beschwerdeführerin durch gute Mundhygiene objektiv betrachtet vermeidbar gewesen wären. Eine ausreichende Mundhygiene könne ihr jedoch auf Grund der Akten nicht attestiert werden. Selbst der behandelnde Zahnarzt Dr. med. dent. N.________ habe eingeräumt, dass noch so viele Dentalhygiene-Sitzungen nichts helfen würden, wenn die Patientin nicht mitmache.
 
2.2 Dagegen wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend eingewendet, dass bei der Beschwerdeführerin insofern besondere Verhältnisse vorliegen, als zusätzlich zur Bulimie (und ihren Folgen) eine Xerostomie, d.h. eine chronische Mundtrockenheit, ausgewiesen ist (vgl. das Schreiben des Dr. med. dent. N.________ vom 3. Januar 2002). Über deren ursächliche Zusammenhänge zur Bulimie einerseits und zur Karies andererseits besteht indes nach Lage der Akten keine Klarheit. So führte Dr. med. dent. N.________ dazu einzig aus, die Kombination von Bulimie, Medikation und Rauchen führe zur Xerostomie. Gemäss Stellungnahme des Dr. med. dent. B.________ vom 26. März 2004 kann eine Speichelflussverminderung durch Alkohol- oder Nikotinkonsum, aber auch durch die Einnahme von Schlafmitteln, Psychopharmaka und Blutdruck senkenden Medikamenten bedingt sein. Nicht geklärt ist zudem die Frage, ob Kariesschädigungen unter solchen speziellen Verhältnissen objektiv vermeidbar sind (vgl. oben Erw. 1.3). Dr. med. dent. B.________ hat sich dazu nicht geäussert. Seiner Auffassung in der zweiten Stellungnahme vom 26. März 2004, es komme nicht auf "die Verhältnisse des Einzelfalles" an, kann nicht beigepflichtet werden. Es vermag auch nicht zu überzeugen, wenn er die durch die behandelnden Ärzte diagnostizierte Xerostomie u.a. mangels Objektivierung, ohne eigene unmittelbare Kenntnis der konkreten Verhältnisse, in Abrede stellt. Die CSS hätte daher unter den gegebenen Umständen ein zahnmedizinisches Administrativgutachten einholen sollen, zu welchem Zweck die Sache an sie zurückzuweisen ist.
 
3.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend steht der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 26. Oktober 2004 und der Einspracheentscheid der CSS Kranken-Versicherung AG vom 16. Dezember 2003 aufgehoben, und es wird die Sache an die CSS zurückgewiesen, damit sie, nach Aktenergänzungen im Sinne der Erwägungen, über den Kostenvergütungsanspruch der Beschwerdeführerin neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die CSS Kranken-Versicherung AG hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über die Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses neu befinden.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
 
Luzern, 15. Juni 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Vorsitzende der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
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