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Informationen zum Dokument  BGer C 50/2005  Materielle Begründung
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BGer C 50/2005 vom 09.08.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
C 50/05
 
Urteil vom 9. August 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Hofer
 
Parteien
 
Staatssekretariat für Wirtschaft, Direktion, Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung, TCRV, Effingerstrasse 31, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
F.________, 1964, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Mössinger, Brandschenkestrasse 10, 8002 Zürich,
 
Vorinstanz
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich,
 
Winterthur
 
(Entscheid vom 23. Dezember 2004)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1964 geborene F.________ war gemäss Arbeitsvertrag vom 26. April 2002 ab dem 1. Juni 2002 bei der Firma A.________ AG als Vice President Operation angestellt. Am ........ 2002 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet. Daraufhin stellte der Versicherte am 29. November 2002 Antrag auf Insolvenzentschädigung. Mit Verfügung vom 3. März 2004 anerkannte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich den Leistungsanspruch für die Zeit vom 1. September bis 8. November 2002, verneinte einen solchen jedoch für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002. Die vom Versicherten dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Einspracheentscheid vom 27. Mai 2004 ab.
 
B.
 
Beschwerdeweise liess F.________ die Ausrichtung von Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis 26. November geltend machen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 23. Dezember 2004 gut mit der Feststellung, dass der Versicherte für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung hat.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco), der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002 sei zu verneinen.
 
F.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die Arbeitslosenkasse beantragt deren Gutheissung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Janur 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Arbeitslosenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 2.1).
 
2.
 
Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 lit. a AVIG), deren zeitliche Bemessung (Art. 52 Abs. 1 AVIG in der vom 1. September 1999 bis 30. Juni 2003 gültig gewesenen Fassung) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 121 V 377, 111 V 269) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, nach Lage der Akten bestünden erhebliche Zweifel daran, dass die ehemalige Arbeitgeberin das mit 29. Oktober 2002 datierte Kündigungsschreiben am genannten Tag zugestellt habe. Zumindest lasse sich die erfolgte Eröffnung nicht nachweisen. Aufgrund der Verteilung der Beweislast sei davon auszugehen, dass der Versicherte bis zur Konkurseröffnung in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis gestanden und somit grundsätzlich bis 26. November 2002 Anspruch auf Lohnzahlung bzw. Insolvenzentschädigung habe. Daran ändere nichts, dass er aufgrund seiner Stellung als Vice President Operation mit Kollektivunterschrift zu zweien allenfalls die Möglichkeit gehabt habe, Kenntnis über die finanzielle Lage der Gesellschaft zu erlangen. Zudem habe er gemäss den eigenen - unbestritten gebliebenen - Angaben bis zur Konkurseröffnung Arbeit geleistet.
 
3.2 Aufgrund des Rechtsbegehrens des seco ist die grundsätzliche Anspruchsberechtigung des Beschwerdegegners auf Insolvenzentschädigung nicht streitig, sondern lediglich deren Zusprechung für die Dauer vom 9. bis 26. November 2002. Das Beschwerde führende Bundesamt macht im Wesentlichen geltend, die Annahme, der Beschwerdegegner habe bis zur Konkurseröffnung für die Firma A.________ AG gearbeitet, widerspreche der Feststellung in anderen Verfahren, wonach die Zustände in diesem Betrieb chaotisch gewesen seien und niemand mehr vorhanden gewesen sei, der um Arbeitszuweisung hätte angegangen werden können.
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz hat zu Recht erkannt, dass das Arbeitsverhältnis vor der Eröffnung des Konkurses weder von der Arbeitgeberin noch vom Beschwerdegegner mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden wäre. Nichts in den Akten deutet auf eine fristlose Vertragsauflösung oder eine Freistellung des Arbeitnehmers vor diesem Zeitpunkt hin. Das genaue Datum der Eröffnung der Kündigung spielt unter diesen Umständen keine Rolle.
 
4.2 Im Urteil N. vom 15. April 2005 (C 214/04), einen Linienpiloten der Firma A.________ AG betreffend, welchem mit Schreiben vom 26. September auf den 31. Dezember 2002 gekündigt worden war, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht ausgeführt, der Arbeitnehmer könne zwar gemäss Art. 337a OR das Arbeitsverhältnis fristlos auflösen, wenn der Arbeitgeber zahlungsunfähig werde, sofern ihm für seine Forderung aus dem Arbeitsverhältnis nicht innert angemessener Frist Sicherheit geleistet werde. Er sei dazu indessen nicht verpflichtet und es existiere im Arbeitslosenversicherungsgesetz auch keine entsprechende Sanktion. Dem Arbeitnehmer stehe mit der obigen Bestimmung die Möglichkeit offen zu verhindern, dass er dem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit Kredit gewährt und das Risiko trägt, die Gegenleistung nicht zu erhalten. Es könne von ihm jedoch nicht unter dem Titel der Schadenminderungspflicht (BGE 129 V 463 Erw. 4.2, 123 V 233 Erw. 3c mit Hinweisen) verlangt werden, diesen Schritt zu machen. Ob der Schaden der Arbeitslosenversicherung damit überhaupt gemindert würde, sei fraglich. Zwar sei die Arbeitslosenentschädigung (Taggelder gemäss Art. 22 AVIG) tiefer als die Insolvenzentschädigung, doch entstünden der Verwaltung aus der Vermittlungstätigkeit ebenfalls Kosten. Könnten Lohnansprüche während der Dauer des Arbeitsverhältnisses nicht erhältlich gemacht werden, bedeute dies zudem noch nicht, dass dies auch im Konkursverfahren der Fall sein werde. Weder Arbeitslosenversicherung noch Arbeitnehmer vermöchten in der Regel die wirtschaftliche Lage und die Sanierungsmöglichkeiten einer sich in finanziellen Schwierigkeiten befindenden Gesellschaft zuverlässig zu beurteilen, zumal wenn die Arbeitgeberin mit dem Hinweis auf Redimensionierungsbemühungen die Lage als weniger dramatisch erscheinen lasse, als sie in Wirklichkeit sei. Es sei für einen Versicherten in einer solchen Situation daher äusserst schwierig zu beurteilen, ab wann er sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stellen habe, ohne selber Nachteile zu gewärtigen (vgl. auch Urteile H. [C 217/04], S. [C 215/04] und S. [C 218/04] vom 15. April 2005).
 
4.3 Um zu verhindern, dass der Arbeitnehmer beliebig lange ohne Lohn beim bisherigen Arbeitgeber bleibt, - so das Eidgenössische Versicherungsgericht im oben erwähnten Urteil N. weiter - habe der Gesetzgeber in Art. 52 Abs. 1 AVIG eine zeitliche Limite für die Bezugsdauer der Insolvenzentschädigung gesetzt. Spätestens nach vier Monaten ohne Lohn sei es dem Arbeitnehmer demnach aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht nicht mehr zumutbar, beim insolventen Arbeitgeber zu bleiben.
 
4.4 Des Weitern hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in diesem Urteil ausgeführt, sofern der Arbeitnehmer in guten Treuen nicht mehr mit einer Arbeitszuweisung rechnen könne, frage es sich, ob das Geltendmachen von Insolvenzentschädigung ab jenem Zeitpunkt als rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 2 Abs. 2 ZGB zu betrachten sei. In BGE 111 V 271 Erw. 3 hat das Gericht einen knappen Monat nicht als rechtsmissbräuchliche Geltendmachung des Anspruchs auf Insolvenzentschädigung betrachtet. In SVR 1996 ALV Nr. 59 S. 181 lag zwischen der konkursamtlichen Siegelung des Betriebes und der Nachlassstundung ebenfalls weniger als ein Monat. Mit Bezug auf die Angestellten der Firma A.________ AG ist jener Zeitpunkt ausschlaggebend, als alle oder die meisten Arbeitnehmer im Besitze des Kündigungsschreibens waren und daraus geschlossen werden konnte, dass die wirtschaftliche Lage der Arbeitgeberin hoffnungslos war. Davon geht auch das seco aus. Spätestens Ende Oktober sei allen Mitarbeitenden klar gewesen, dass sie nicht mehr für die Firma A.________ AG würden arbeiten können. Im von der Arbeitslosenkasse und dem seco als massgebend bezeichneten 8. November 2002 waren die Monatslöhne September und Oktober ausstehend. Die Konkurseröffnung fand kurz darauf am ........ 2002 statt, weshalb auch hier nicht von einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung der Insolvenzentschädigung auszugehen ist.
 
5.
 
Die Vorinstanz hat in Erwägung 3 ausgeführt, zu prüfen sei der Anspruch auf Insolvenzentschädigung für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002. Dispositivmässig hat sie den angefochtenen Einspracheentscheid in Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit der Feststellung aufgehoben, dass der Versicherte für die Zeit vom 9. bis 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung habe. Für den Beschwerdegegner bedeutet dies, dass er vom 26. November 2002 an rückwärts gerechnet Anspruch auf Insolvenzentschädigung während vier Monaten hat. Nachdem er erstmals für den Monat September 2002 den Lohn nicht erhielt, hat er rückwärts gerechnet für die ganze Dauer des Lohnausstandes bis zum 26. November 2002 Anspruch auf Insolvenzentschädigung.
 
6.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der obsiegende anwaltlich vertretene Beschwerdegegner hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten des Beschwerde führenden Bundesamtes (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Das Staatssekretariat für Wirtschaft hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 600.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenversicherung, Zürich, zugestellt.
 
Luzern, 9. August 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
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