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Informationen zum Dokument  BGer 6S.181/2005  Materielle Begründung
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BGer 6S.181/2005 vom 01.10.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6S.181/2005 /bri
 
Urteil vom 1. Oktober 2005
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
 
Gerichtsschreiber Briw.
 
Parteien
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh., 9043 Trogen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
X._________,
 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Ehrenzeller,
 
Gegenstand
 
Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz,
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Appenzell A.Rh., 1. Abteilung, vom 15. Februar 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X._________ fuhr am 2. April 2002 auf der Hauptstrasse von Niederteufen in Richtung Lustmühle mit einer Geschwindigkeit von 96 km/h. Es wurde ihm vorgeworfen, er habe (unter Berücksichtigung einer Toleranz von 5 km/h) die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 31 km/h überschritten. Diese Höchstgeschwindigkeit war damals wegen einer Strassensanierung verfügt und am 23. Januar 2002 im Amtsblatt publiziert worden. Das Signal befand sich in Fahrtrichtung an der linken Strassenseite. Über dem Signal war eine Blumenkiste und darüber die Tafel "Ortsende" angebracht. Auf der rechten Strassenseite lag das Trassee der Appenzeller Bahnen. Das Signal konnte wegen des ungenügenden Zwischenraums zwischen der Strasse und dem unmittelbar angrenzenden Bahntrassee nicht am rechten Strassenrand aufgestellt werden.
 
B.
 
Das Verhöramt Trogen verurteilte X._________ mit Strafverfügung vom 16. Juli 2002 wegen grober Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 32 Abs. 2 SVG und Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV zu einer Busse von Fr. 520.--, weil er ausserorts auf der Hauptstrasse die erlaubte Höchstgeschwindigkeit um mindestens 31 km/h überschritten habe. X._________ erhob Einsprache mit der Begründung, die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h sei ungenügend signalisiert worden.
 
Das Kantonsgericht von Appenzell Ausserrhoden (1. Abteilung) sprach X._________ am 1. Juli 2004 der groben Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 90 Ziff. 2 SVG i.V.m. Art. 32 Abs. 2 SVG und Art. 4a Abs. 1 lit. a und Abs. 2 VRV) schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 520.--. Das Gericht nahm an, aufgrund einer Ausnahmesituation im Sinne von Art. 103 Abs. 1 der Signalisationsverordnung (SSV; SR 741.21) habe das Signal mit der Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h auf der linken Fahrbahnseite angebracht werden dürfen. Das Signal sei aber nicht innerhalb der gemäss Art. 103 Abs. 4 SSV maximal zulässigen 3,5 m Entfernung und damit nicht rechtsgültig aufgestellt worden und habe keine Wirkung entfalten können. Deshalb sei weiterhin die Innerortsgeschwindigkeit von 50 km/h gültig gewesen. Ein Sachverhaltsirrtum wegen Annahme der Weitergeltung der bisherigen Signalisation entlaste ihn nicht, da er wegen fahrlässiger Begehung strafbar sei (Art. 19 Abs. 2 StGB). Insbesondere aufgrund des Anklageprinzips bleibe es aber bei der Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 31 km/h. Namentlich solle der Angeklagte nach dem Vertrauensgrundsatz nicht schlechter gestellt werden, als wenn er das rechtswidrig platzierte Signal gesehen hätte (Urteil des Obergerichts S. 5 f.).
 
Das Obergericht von Appenzell Ausserrhoden (1. Abteilung) sprach am 15. Februar 2005 X._________ vom Vorwurf der groben Verletzung der Verkehrsregeln frei und stellte das Strafverfahren wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln infolge Verjährung ein.
 
C.
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell Ausserrhoden erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Das Obergericht von Appenzell Ausserrhoden verzichtet auf Gegenbemerkungen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Die Vorinstanz führt unter Verweisung auf das Urteil des Kantonsgerichts (act. 45, S. 11 - 13) aus, dass ein Ausnahmefall gemäss Art. 103 Abs. 1 SSV vorliege und das Signal deshalb auf der linken Strassenseite habe aufgestellt werden dürfen. Es sei jedoch linksseitig vorschriftswidrig ausserhalb des gemäss Art. 103 Abs. 4 SSV maximal zulässigen Abstands von 3,50 m vom Fahrbahnrand aufgestellt worden und sei bei Gegenverkehr nicht sichtbar gewesen (angefochtenes Urteil S. 8 f.). Sie stellt weiter fest, dass das fragliche Signal nach Abschluss der Sanierungsarbeiten wieder durch die früher geltende Tafel "Ende der Höchstgeschwindigkeit 50 generell" ersetzt wurde (angefochtenes Urteil S. 10 f. mit Hinweis auf act. A9).
 
Sie nimmt deshalb an, gehe man davon aus, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h keine Wirkung entfaltet habe, weil sie nur auf der linken Strassenseite und mehr als 3,50 m vom Fahrbahnrand entfernt angebracht worden sei, gelte dies auch für die Tafel "Ende der Höchstgeschwindigkeit 50 generell", welche früher an derselben Stelle befestigt gewesen sei. Deshalb sowie wegen des Innerortscharakters dieser Fahrstrecke hätte folglich im Bereich der Messstelle nie eine Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h, sondern immer eine solche von 50 km/h gegolten. Die Kantonspolizei und die Verkehrsteilnehmer seien jedoch vor der Neusignalisation davon ausgegagen, die Tafel "Ende der Höchstgeschwindigkeit 50 generell" sei verbindlich und nach dem Signal dürfe mit 80 km/h gefahren werden. Es frage sich daher, ob sich daraus ein Vertrauenstatbestand (Gleichbehandlung im Unrecht) ergebe, auf den sich der Beschwerdegegner berufen könne, und zwar in der Weise, dass wegen der Unverbindlichkeit der Neusignalisation der früher geduldete Zustand von 80 km/h gelte (angefochtenes Urteil S. 9 f.). Die Vorinstanz bejaht dies. Dass nämlich nach Abschluss der Sanierung erneut die frühere rechtswidrige Signalisation angebracht worden sei, zeige deutlich, dass die Behörden nicht gewillt seien, den rechtswidrigen Zustand zu ändern. Der Beschwerdegegner habe daher die zulässige Höchstgeschwindigkeit nur um 11 km/h überschritten. Diese einfache Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG sei inzwischen verjährt. Somit sei er vom Vorwurf der groben Verkehrsregelverletzung freizusprechen. Hinsichtlich der einfachen Verkehrsregelverletzung sei das Strafverfahren einzustellen (angefochtenes Urteil S. 11).
 
1.2 Die Beschwerdeführerin geht in Übereinstimmung mit der Vorinstanz davon aus, dass die Signalisation nicht rechtswirksam und daher die Innerortsgeschwindigkeit von 50 km/h massgeblich gewesen sei. Sie wendet aber ein, die Begründung der Vorinstanz, dass der Beschwerdegegner Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht habe, weil die Behörden den rechtswidrigen Zustand nicht behoben hätten, sei in zweifacher Hinsicht falsch. Einerseits habe während der Sanierungsphase wegen der Sperrung der Umfahrungsstrasse auf der fraglichen Hauptstrasse eine erheblich grössere Verkehrsbelastung mit einem viel grösseren Gefahrenpotential und damit eine andere Ausgangslage geherrscht. Andererseits sei die korrekt angeordnete und publizierte Geschwindigkeitsbeschränkung von 60 km/h während der Sanierungsphase gegenüber allen Verkehrsteilnehmern konsequent durchgesetzt worden. Der Beschwerdegegner sei somit gleich wie alle anderen Verkehrsteilnehmer behandelt worden.
 
2.
 
2.1 Aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz ist ein Ausnahmefall im Sinne von Art. 103 Abs. 1 SSV gegeben. Indessen war das Signal linksseitig in einem gemäss Art. 103 Abs. 4 SSV unzulässigen Abstand vom Fahrbahnrand angebracht worden und bei Gegenverkehr nicht sichtbar. Das Signal entsprach somit nicht den gesetzlichen Anforderungen (vgl. BGE 127 IV 229 E. 2c).
 
Nach der Rechtsprechung verpflichten Verbotssignale nur, wenn sie klar und ohne weiteres in ihrer Bedeutung erkennbar sind und der Signalordnung entsprechen (BGE 127 IV 229 E. 2c/aa; 106 IV 138 E. 4 und 6). Eine Verurteilung des Beschwerdegegners wegen Nichtbeachtung der vorschriftswidrig angebrachten Neusignalisation kommt hier aber schon deshalb nicht in Betracht, weil er diese nicht erkennen konnte (vgl. angefochtenes Urteil S. 9).
 
2.2 Indessen fragt sich, nach welchen Vorschriften sich der Beschwerdegegner in dieser Situation zu richten hatte. Denn bei Nichtgeltung einer Signalisation entsteht kein rechtsfreier Raum. So ist die Geschwindigkeit gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG stets den Umständen anzupassen, namentlich den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Der Beschwerdegegner musste sich jedenfalls nach den allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten innerorts und ausserorts richten (Art. 4a VRV). Nach den bei den Akten liegenden Fotos (act. A9) lässt sich lediglich feststellen, dass es sich nicht um ein dichtbebautes Gebiet handelt und die Strasse an die Bahn grenzt. Die Vorinstanz geht zwar von einem Innerortscharakter aus, stellt aber zugleich fest, dass die fragliche Fahrstrecke erneut als Ausserortsstrecke signalisiert wurde (oben E. 1.1).
 
Die Vorinstanz und die Beschwerdeführerin nehmen an, dass mangels Gültigkeit der Signalisation auf der fraglichen Fahrstrecke weiterhin die allgemeine Innerortsgeschwindigkeit massgeblich gewesen sei. Dabei steht in tatsächlicher Hinsicht für den Kassationshof verbindlich fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP), dass auf der Fahrstrecke wohl eine "Neusignalisation" (act. 39) angezeigt worden war, dass der Beschwerdegegner aber die (durch Auswechseln der Signaltafeln vorgenommene) neu signalisierte Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 km/h nicht erkennen konnte (angefochtenes Urteil S. 9). Die Vorinstanz stellt - anders als das Kantonsgericht - auch keinen Fahrlässigkeitssachverhalt fest. Sie beurteilt die Sache auf der Grundlage der dem Beschwerdegegner bekannten (und nach Beendigung der Sanierungsarbeiten wieder hergestellten) früheren Signalisation und Verkehrsübung und damit nach dem Vertrauensprinzip. Sie verletzt damit kein Bundesrecht. Der Beschwerdegegner konnte nämlich die neue Signalisation infolge ihrer vorschriftswidrigen Aufstellung nicht erkennen und richtete seine Geschwindigkeit auf die ihm von früher her bekannte Signalisation aus. Er wurde daher von der Vorinstanz in seinem Vertrauen auf den Bestand der bisherigen Signalisation geschützt, da er die neue Signalisation trotz der Vorankündigung nicht erkennen konnte und weil er nicht auf vorschriftswidrig angebrachte Signale Ausschau halten musste (vgl. BGE 127 IV 229 E. 2c/cc). Entsprechend durfte er nicht wegen Nichtbeachtung der Neusignalisation bestraft werden. Eine Verurteilung wegen Verletzung einer Verkehrsregel setzt immer ein schuldhaftes Verhalten voraus (vgl. BGE 129 II 92).
 
Der Beschwerdegegner durfte somit seine Geschwindigkeit nach der ihm von früher her bekannten Signalisation ausrichten. An diesem Ergebnis vermögen die Vorbringen der Beschwerdeführerin nichts zu ändern. Denn diese begründen einerseits lediglich den Zweck der Neusignalisation und behaupten andererseits ihre konsequente Durchsetzung, berücksichtigen aber nicht die verbindliche vorinstanzliche Feststellung, dass der Beschwerdegegner die Neusignalisation (mit Ausnahme ihrer Vorankündigung) nicht erkennen konnte.
 
2.3 Es ergibt sich, dass dem Beschwerdegegner ein Schuldvorwurf nur gemacht werden kann, insoweit er die Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h überschritten hat. Die Vorinstanz legt ihrer Beurteilung daher zu Recht eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 11 km/h zu Grunde. Dass dieses Verhalten als Übertretung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu qualifizieren und verjährt ist, wird von der Beschwerdeführerin nicht in Frage gestellt.
 
3.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Es werden keine Kosten auferlegt (Art. 278 Abs. 2 BStP).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh., 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 1. Oktober 2005
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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