BGer U 72/2005 | |||
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BGer U 72/2005 vom 11.10.2005 | |
Eidgenössisches Versicherungsgericht
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Tribunale federale delle assicurazioni
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Tribunal federal d'assicuranzas
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Sozialversicherungsabteilung
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des Bundesgerichts
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Prozess
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{T 7}
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U 72/05
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Urteil vom 11. Oktober 2005
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IV. Kammer
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Besetzung
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Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Riedi Hunold
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Parteien
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Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich, Beschwerdeführerin,
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gegen
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R.________, 1978, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Sidler, Untermüli 6, 6302 Zug
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Vorinstanz
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Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
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(Entscheid vom 6. Januar 2005)
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Sachverhalt:
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A.
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R.________ (geboren 1978) war als Innendekorateurin bei S.________ angestellt und in dieser Eigenschaft bei den Elvia Versicherungen (heute: Allianz Suisse Versicherungen; nachfolgend: Allianz) gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 22. April 2000 erlitt sie als Mitfahrerin auf dem Motorrad ihres Lebenspartners bei einer Kollision mit einem Auto eine Hirnerschütterung, eine Milzruptur und einen Niereninfarkt links mit posttraumatischer Schädigung der Nierenarterie. Als Folge des Unfalles resultierte eine Schrumpfniere links. Mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 10. September 2002 sprach ihr die Allianz eine Integritätsentschädigung in der Höhe von Fr. 21'360.- zu. Im Sommer 2003 ersuchte R.________ die Allianz um Übernahme der Kosten einer neuropsychologischen Untersuchung, was die Allianz nach Einholung einer ärztlichen Stellungnahme am 26. November 2003, bestätigt mit Verfügung vom 22. Dezember 2003 und Einspracheentscheid vom 19. Juli 2004, ablehnte.
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B.
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Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 6. Januar 2005 in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid vom 19. Juli 2004 aufhob und die Sache an die Allianz zurückwies, damit diese nach erfolgter Abklärung neu verfüge.
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C.
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Die Allianz führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. R.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit, Abteilung Unfallversicherung, verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Streitig ist, ob die Vorinstanz zu Recht den Einspracheentscheid der Allianz aufgehoben und die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung an diese zurückgewiesen hat. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob die diagnostizierte Hirnerschütterung als Schädelhirntrauma zu werten und entsprechend die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs nach der Rechtsprechung von BGE 117 V 369 zu erfolgen hat.
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2.
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2.1 Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) hat am unfallversicherungsrechtlichen Begriff des Rückfalles nach Art. 11 UVV nichts geändert (Urteil G. vom 3. August 2005, U 334/04, mit Hinweisen). Für die Frage des intertemporal anwendbaren Rechts ist somit nicht von Belang, dass der Einspracheentscheid nach Inkrafttreten des ATSG erlassen wurde (vgl. BGE 130 V 446 Erw. 1 mit Hinweisen).
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2.2 Bei einem Rückfall nach Art. 11 UVV handelt es sich um das Wiederaufflackern einer vermeintlich geheilten Krankheit, sodass es zu ärztlicher Behandlung, möglicherweise gar zu (weiterer) Arbeitsunfähigkeit kommt. Rückfälle schliessen begrifflich an ein bestehendes Unfallereignis an. Entsprechend können sie eine Leistungspflicht des (damaligen) Unfallversicherers nur auslösen, wenn zwischen den erneut geltend gemachten Beschwerden und der seinerzeit beim versicherten Unfall erlittenen Gesundheitsschädigung ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang besteht (BGE 118 V 296 Erw. 2c mit Hinweisen).
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2.3 Die Leistungspflicht eines Unfallversicherers gemäss UVG setzt zunächst voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Entsprechend dieser Umschreibung ist für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs nicht erforderlich, dass ein Unfall die alleinige oder unmittelbare Ursache gesundheitlicher Störungen ist; es genügt, dass das schädigende Ereignis zusammen mit anderen Bedingungen die körperliche oder geistige Integrität der versicherten Person beeinträchtigt hat, der Unfall mit andern Worten nicht weggedacht werden kann, ohne dass auch die eingetretene gesundheitliche Störung entfiele (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 406 Erw. 4.3.1, 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen).
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Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage, worüber die Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 119 V 338 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen).
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2.4 Die Leistungspflicht des Unfallversicherers setzt im Weiteren voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden ein adäquater Kausalzusammenhang besteht. Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 129 V 181 Erw. 3.2, 405 Erw. 2.2, 125 V 461 Erw. 5a mit Hinweisen).
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3.
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3.1 Lassen sich die Folgen eines Schädelhirntraumas auf Grund des bunten Beschwerdebildes (Kopf- und Nackenschmerzen, Schwindel, Konzentrationsstörungen mit Verlangsamung und Fehlerhaftigkeit sowie erheblichen Lern- und Gedächtnisstörungen, rasche Ermüdbarkeit, Visusstörungen bzw. Lichtempfindlichkeit, Lärmempfindlichkeit, Reizbarkeit und Nervosität, Schlafstörungen, Angstzustände und Depression sowie Wesensveränderung) mit jenem eines Schleudertraumas der Halswirbelsäule vergleichen, rechtfertigt es sich, die zum Schleudertrauma der Halswirbelsäule entwickelte Rechtsprechung betreffend Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs auch beim Schädelhirntrauma sinngemäss anzuwenden. Nach dieser Rechtsprechung ist für die Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhangs im Einzelfall zu verlangen, dass dem Unfall für die Entstehung der Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung zukommt. Dies trifft dann zu, wenn er objektiv eine gewisse Schwere aufweist oder mit anderen Worten ernsthaft ins Gewicht fällt. Bei leichten Unfällen wie z.B. einem gewöhnlichen Anschlagen des Kopfes kann der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und nachfolgenden Gesundheitsstörungen in der Regel ohne weiteres verneint werden. Bei schweren Unfällen dagegen ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Folgen in der Regel zu bejahen. Bei Unfällen im mittleren Bereich lässt sich dies nicht auf Grund des Unfalles allein schlüssig beantworten. Weitere, objektiv erfassbare Umstände, welche unmittelbar mit dem Unfall in Zusammenhang stehen oder als direkte oder indirekte Folgen davon erscheinen, sind in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen. Als wichtigste Kriterien sind im Zusammenhang mit einem Schädelhirntrauma zu nennen: besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des Unfalles; die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzung; ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung; Dauerbeschwerden; ärztliche Fehlbehandlung, welche Unfallfolgen erheblich verschlimmert; schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen; Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit (BGE 117 V 382 Erw. 4b mit Hinweis). Der Einbezug sämtlicher Kriterien ist nicht in jedem Fall erforderlich. Bei Unfällen im mittleren Bereich an der Grenze zu den schweren oder bei einem Grenzfall zu den schweren Unfällen kann ein einziges Kriterium genügen. Dies gilt auch für den gesamten mittleren Bereich, sofern das Kriterium in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist. Bei Unfällen im mittleren Bereich an der Grenze zu den leichten Fällen müssen hingegen die weiteren zu berücksichtigenden Kriterien in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sein, damit die Adäquanz bejaht wird (BGE 117 V 384 Erw. 4c).
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3.2 Wie die Allianz zutreffend festhält, wird in sämtlichen ärztlichen Berichten bis zur Geltendmachung des Rückfalls stets eine Hirnerschütterung (commotio cerebri), nirgends jedoch ein Schädelhirntrauma diagnostiziert. Ebenfalls zutreffend ist der Hinweis des Rechtsvertreters der Versicherten, dass bereits eine Hirnerschütterung medizinisch gesehen als (leichtes) Schädelhirntrauma bezeichnet wird (vgl. etwa Pschyrembel, 260. Aufl., Berlin/New York 2004, S. 338 und 1620, sowie Roche, Lexikon Medizin, 5. Aufl., München/Jena 2003, S. 1642, und Harrisons Innere Medizin, Band 2, 16. Aufl., Berlin 2005, S. 2636 ff.). Entgegen der Ansicht der Versicherten trifft nicht zu, dass die Rechtsprechung von BGE 117 V 369 immer zur Anwendung gelangt, sobald eine Verletzung diagnostiziert ist, die (auch) als Schädelhirntrauma bezeichnet werden kann. Entscheidend ist vielmehr, ob das in BGE 117 V 369 beschriebene bunte Beschwerdebild als (natürlich-kausale) Folge eines erlittenen Schädelhirntraumas gegeben ist.
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3.3 Angesichts der diagnostizierten Hirnerschütterung und den von der Versicherten ab Herbst 2003 geltend gemachten Beschwerden kann nicht ohne Weiteres auf die Anwendung von BGE 117 V 369 geschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass zwischen dem Unfall und dem Zeitpunkt, in welchem die typischen Beschwerden geltend gemacht werden, einige Zeit verstrichen ist, in welcher die Versicherte voll arbeitsfähig war, und sie bei der fallabschliessenden Begutachtung im Sommer 2002 durch Dr. med. G.________, Facharzt für Innere Medizin als Folgen des Unfalles nur vermehrte Kopfschmerzen (3 bis 4-mal im Jahr) angibt. Nach den ärztlichen Berichten wurde stets nur eine commotio cerebri diagnostiziert und es bestand aus neurologischer Sicht kein Anlass für weitere Massnahmen (vgl. die gemäss der Glasgow Coma Scale [GCS] ausgewiesenen 14 von maximal 15 möglichen Punkten; siehe dazu etwa bei Harrisons, a.a.O., S. 2639). Zudem war sie in der Lage, berufsbegleitend eine Weiterbildung (Handelsschule) erfolgreich zu absolvieren, und es darf bezweifelt werden, dass die Reduktion auf ein 80 % - Pensum aus gesundheitlichen Gründen erfolgte, beabsichtigte sie doch zu diesem Zeitpunkt, sich neben ihrer Arbeitnehmertätigkeit noch eine selbstständige Existenz als Innendekorateurin aufzubauen (vgl. hiezu ihre Aussagen anlässlich der neuropsychologischen Untersuchung). Überdies erlitt sie am 21. September 2003 einen weiteren Motorradunfall. Andererseits ist es mit der Vorinstanz nachvollziehbar, dass sich die Ärzte bei Einlieferung der Versicherten nach dem Unfall vornehmlich um die Verletzungen im Bereich der Milz und Nieren kümmerten. Der Polizeirapport sowie das technische Gutachten lassen zudem auf eine Kollision mit erheblichen Kräften schliessen. Wie sich aus dem BGE 117 V 369 zugrunde liegenden Sachverhalt ergibt, können auch klinisch als commotio cerebri und leichte Schädelhirntrauma eingeordnete Fälle Beschwerden nach sich ziehen, die eine Beurteilung der Adäquanz in sinngemässer Weise zu den Schleudertrauma der Halswirbelsäule rechtfertigen. Nach dem Gesagten ist es nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung zurückgewiesen hat.
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3.4 Was die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs durch die Vorinstanz betrifft, ist festzuhalten, dass entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts die Verletzungen des damaligen Lebenspartners und Motorradführers, welche sich im Nachhinein als schwer herausstellten, nicht als dramatischer Begleitumstand zu werten sind. Die Versicherte war im Zeitpunkt der Kollision selbst verwundet worden. Dass auch ihr Lebenspartner verletzt worden ist, hat sie gar nicht vollständig erfassen können. Ob der Unfall den schweren oder nur den mittleren Fällen im Grenzbereich zu den schweren zugeordnet werden muss, kann offen bleiben; auch bei letzteren kann es genügen, wenn eines der Kriterien erfüllt ist (BGE 117 V 384 Erw. 4c), was hier bezüglich der Schwere und besonderen Art der Verletzung (unfallbedingte, irreversible Funktionsunfähigkeit der linken Niere) zutrifft. Sollten sich auf Grund der erneuten medizinischen Abklärung die geklagten Beschwerden mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Folgen des Unfalls vom 22. April 2000 herausstellen (Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs), wäre die Allianz demnach leistungspflichtig.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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1.
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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3.
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Die Allianz Suisse Versicherungen haben der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
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Luzern, 11. Oktober 2005
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Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
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Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
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i.V.
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