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Informationen zum Dokument  BGer 6P.64/2005  Materielle Begründung
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BGer 6P.64/2005 vom 19.10.2005
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6P.64/2005
 
6S.194/2005 /gnd
 
Urteil vom 19. Oktober 2005
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger, Bundesrichter Zünd,
 
Gerichtsschreiber Thommen.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Stadelmann,
 
gegen
 
Y.________,
 
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Schneider,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
 
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12 A, 8500 Frauenfeld.
 
Gegenstand
 
6P.64/2005
 
Art. 9, 29, 32 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung)
 
6S.194/2005
 
Fahrlässige Körperverletzung (Art. 125 Abs. 1 StGB),
 
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.64/2005) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.194/2005) gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. März 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ wird vorgeworfen, am 19. Mai 2003 beim Verlassen seines Personenwagens die von hinten auf ihrem Fahrrad herannahende Y.________ behindert zu haben. Diese stürzte und zog sich eine Schenkelhalsfraktur zu.
 
B.
 
Am 11. Oktober 2004 wurde X.________ vom Bezirksgericht Kreuzlingen der fahrlässigen einfachen Körperverletzung im Sinne von Art. 125 Abs. 1 StGB schuldig gesprochen und zu einer Busse von Fr. 1'000.- verurteilt. Mit Urteil vom 15. März 2005 hat das Obergericht des Kantons Thurgau seine dagegen erhobene Berufung abgewiesen.
 
C.
 
Dagegen erhebt X.________ staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung. Gleichzeitig führt er eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz.
 
D.
 
In seinen Gegenbemerkungen beantragt das Obergericht des Kantons Thurgau die Abweisung der Beschwerden, soweit darauf einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau verzichtet auf eine Stellungnahme.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Die Vorinstanz stellt in tatsächlicher Hinsicht im Wesentlichen gestützt auf die Aussagen der Zeugin fest, die Geschädigte habe sich bereits auf der Höhe des Personenwagens befunden, als der Beschwerdeführer dessen Tür geöffnet habe (angefochtenes Urteil S. 11). Im Übrigen lässt die Vorinstanz die exakten Umstände des Unfalls in tatsächlicher Hinsicht offen. So wird insbesondere offen gelassen, ob die Geschädigte stürzte, weil sie mit der sich öffnenden Tür kollidierte oder weil sie erschrak und brüsk auswich. Im einen wie im anderen Fall habe der Beschwerdeführer die Geschädigte behindert (angefochtenes Urteil S. 13).
 
1.2 In einer Eventualbegründung vertritt die Vorinstanz die Auffassung, dass dem Beschwerdeführer erstens auch dann eine pflichtwidrige Unvorsicht anzulasten wäre, wenn er entsprechend seiner eigenen Darstellung im Zeitpunkt des Unfallgeschehens bereits neben seinem Wagen gestanden hätte (angefochtenes Urteil S. 14), und dass ihm zweitens der eigetretene Verletzungserfolg auch dann zugerechnet werden müsse, wenn das Fahrrad der Geschädigten in dem von ihm behaupteten Umfang beladen gewesen wäre (angefochtenes Urteil S. 15).
 
1.3 Mit staatsrechtlicher Beschwerde rügt der Beschwerdeführer eine willkürliche Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 9 BV) in Bezug auf den exakten Unfallhergang. Das Kantonsgericht habe in unhaltbarer antizipierter Beweiswürdigung seinen Antrag auf persönliche Anhörung der Geschädigten abgelehnt. Damit sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 29 Abs. 2 BV verletzt worden. Weiter rügt er die Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" nach Art. 32 Abs. 1 BV.
 
Mit der Nichtigkeitsbeschwerde beanstandet der Beschwerdeführer die rechtliche Würdigung seiner Beteiligung am Unfallgeschehen. Er habe sich beim Verlassen des Fahrzeugs nicht pflichtwidrig verhalten. Selbst bei Annahme einer Sorgfaltswidrigkeit würde es überdies an der Kausalität seines Verhaltens für die Schädigung fehlen. Diesbezüglich macht er ein entscheidendes Selbstverschulden der Geschädigten geltend.
 
1.4 Sollte sich die vorinstanzliche Eventualbegründung als bundesrechtskonform erweisen, würde sich eine Behandlung der staatsrechtlichen Beschwerde erübrigen, da sich diese gegen die tatsächlichen Feststellungen richtet, welche der vorinstanzlichen Hauptbegründung zugrunde liegen. Es rechtfertigt sich daher ausnahmsweise (vgl. Art. 275 Abs. 5 BStP), die Nichtigkeitsbeschwerde vorab zu behandeln, um die vorinstanzliche Eventualbegründung zu überprüfen.
 
2.
 
2.1 Eine Tat ist fahrlässig, wenn der Täter die Folgen seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf nicht Rücksicht genommen hat (Art. 18 Abs. 3 Satz 1 StGB). Wo besondere, der Unfallverhütung und der Sicherheit dienende Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, richtet sich das Mass der im Einzelfall zu beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften (BGE 127 IV 34 E. 2a mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall ergibt sich der Umfang der Sorgfaltspflicht aus Art. 21 Abs. 1 VRV, wonach andere Strassenbenützer durch das Ein- und Aussteigen nicht gefährdet werden dürfen und beim Öffnen der Türen besonders auf den Verkehr von hinten zu achten ist. Diese Vorschrift ist eine Ausführungsbestimmung zu Art. 26 Abs. 1 SVG (Hans Schultz, Rechtsprechung und Praxis zum Strassenverkehrsrecht in den Jahren 1978 - 1982, Bern 1984, S. 319 f.), die die Strassenbenützer verpflichtet, andere in der ordnungsgemässen Benützung der Strasse weder zu behindern noch zu gefährden.
 
Eine Sorgfaltspflichtverletzung liegt nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz auch vor, wenn der Beschwerdeführer bereits neben seinem Fahrzeug gestanden haben sollte. Der Beschwerdeführer war verpflichtet, seinen Wagen in einer Weise zu verlassen, welche andere Verkehrsteilnehmer nicht behinderte oder gefährdete. Die Vorsichtspflicht von Art. 21 Abs. 1 VRV trifft auch denjenigen, der bei geöffneter Wagentür neben dem Auto stehen bleibt (Schultz, a.a.O.; René Schaffhauser, Grundriss des Schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band 1, 2. Aufl., Bern 2002, Rz. 821). Entscheidend ist, dass die Geschädigte durch den Beschwerdeführer zum Ausweichen gezwungen wurde. Dass das Fahrrad der Geschädigten allenfalls zu stark mit Einkaufstaschen beladen war und sie daher allenfalls ein Mitverschulden traf, ändert am verkehrsregelwidrigen Verhalten des Beschwerdeführers nichts. Im Strafrecht gibt es keine Schuldkompensation.
 
2.2 Das Verhalten des Beschwerdeführers, der aus seinem Wagen ausstieg und daneben stehen blieb, ohne die herannahende Fahrradfahrerin pflichtgemäss zu beachten, war für den Sturz der Geschädigten natürlich und adäquat kausal. Das Verlassen eines Fahrzeuges ohne die ausreichende Beachtung des nachfolgenden Verkehrs ist nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen. Die vom Beschwerdeführer behauptete Beladung des Fahrrads ist nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz kein Umstand, der so schwer wiegt, dass das pflichtwidrige Verhalten des Beschwerdeführers in den Hintergrund gedrängt würde.
 
2.3 Die vorinstanzliche Eventualbegründung zur Verurteilung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger Körperverletzung verstösst somit nicht gegen Bundesrecht. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist deshalb abzuweisen.
 
3.
 
Bei diesem Ergebnis ist nicht zu prüfen, ob die der vorinstanzlichen Hauptbegründung zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen zutreffend sind und ob insoweit der Gehörsanspruch verletzt worden ist.
 
Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist daher, mangels eines Rechtsschutzinteresses des Beschwerdeführers, nicht einzutreten.
 
4.
 
Bei diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Kosten der bundesgerichtlichen Verfahren (Art. 278 Abs. 1 BStP; Art. 156 Abs. 1 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 2'000.- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 19. Oktober 2005
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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