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Informationen zum Dokument  BGer U 280/2005  Materielle Begründung
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BGer U 280/2005 vom 27.12.2005
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
U 280/05
 
Urteil vom 27. Dezember 2005
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Lanz
 
Parteien
 
G.________, 1949, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Yvonne Furler, Poststrasse 9, 6300 Zug,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug
 
(Entscheid vom 30. Juni 2005)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1949 geborene G.________, Staatsangehöriger des ehemaligen Jugoslawien, war seit 1980 als Betonmaschinist und Bauarbeiter in der Firma P.________ tätig und dadurch bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 19. September 2002 schob er einen Umsetzwagen mit einem 150 bis 200 kg schweren Schalelement, als dieses kippte und ihn frontal am Kopf traf. Der Hausarzt diagnostizierte einen Status nach Kopftrauma mit commotio, Rissquetschwunden supraorbital und am Nasenflügel rechts, eine Nasenbeinfraktur, ein Brillenhämatom sowie ein Zervikalsyndrom, und bestätigte eine volle Arbeitsunfähigkeit. Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung; Taggeld). Nach Abklärungen zum Unfallhergang und zum medizinischen Sachverhalt eröffnete sie dem Versicherten schliesslich mit Verfügung vom 20. Mai 2003 die Einstellung der Leistungen auf 31. Mai 2003, da die noch bestehenden Beschwerden organisch nicht mehr als Folge des erlittenen Unfalles erklärbar seien und es, soweit eine psychische Problematik bestehe, am rechtserheblichen Zusammenhang zum Ereignis vom 19. September 2002 fehle. Zugleich verneinte der Unfallversicherer einen Anspruch auf Invalidenrente und Integritätsentschädigung. Die hierauf vom obligatorischen Krankenpflegeversicherer vorsorglich erhobene Einsprache wurde wieder zurückgezogen. Die Einsprache des Versicherten wies die SUVA ab (Einspracheentscheid vom 3. Mai 2004).
 
B.
 
Beschwerdeweise beantragte G.________, die SUVA sei zu verpflichten, weiterhin die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug wies die Beschwerde ab und hielt zugleich fest, über die ebenfalls geltend gemachte unentgeltliche Verbeiständung werde in einem separaten Verfahren befunden (Entscheid vom 30. Juni 2005).
 
C.
 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung von Einsprache- und kantonalem Entscheid seien ihm die gesetzlichen Leistungen nach UVG zuzusprechen. Weiter wird um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren ersucht.
 
SUVA und Vorinstanz schliessen je auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Streitig und zu prüfen ist die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers aus dem Unfall vom 19. September 2002 über den 31. Mai 2003 hinaus.
 
Die hiefür massgeblichen Rechtsgrundlagen sind im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Grundsätze über den für die Leistungspflicht des Unfallversicherers im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 UVG vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit; Invalidität; Tod) und die sich dabei stellenden Beweisfragen sowie zur weiter erforderlichen Adäquanz des Kausalzusammenhangs im Allgemeinen und bei psychischen Unfallfolgen im Besonderen. Darauf wird verwiesen.
 
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) hat die dargelegte Rechtslage nicht modifiziert (in RKUV 2005 Nr. U 548 S. 228 nicht veröffentlichte Erw. 1 des Urteils K. vom 28. Februar 2005, U 306/04, und in RKUV 2005 Nr. U 549 S. 236 nicht veröffentlichte Erw. 1.2 des Urteils C. vom 15. März 2005, U 380/04, je mit Hinweisen).
 
2.
 
2.1 In somatischer Hinsicht wurde der Beschwerdeführer vom Hausarzt und von Spezialärzten verschiedener Fachrichtungen abgeklärt. Dabei wurde ein die geklagte rechtsbetonte Brachialgie erklärendes Carpaltunnelsyndrom (CTS) rechts festgestellt, welches indes gemäss überzeugender Beurteilung des untersuchenden Neurologen nicht auf das Ereignis vom 19. September 2002 zurückzuführen ist. Auch die weiteren Untersuchungen ergaben keine gegebenenfalls unfallbedingte organisch nachweisbare Gesundheitsschädigung, welche die persistierenden Beschwerden zu erklären vermöchte. Namentlich fanden sich keine zuverlässigen Hinweise für ein beim Unfall erlittenes schweres Schädel-Hirn-Trauma oder Distorsions-Trauma der Halswirbelsäule (HWS), wie es in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird. Dabei kann dem Unfallversicherer entgegen der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung keine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes vorgeworfen werden. Hiezu ist festzuhalten, dass keine sichere Bewusstlosigkeit oder retrograde Amnesie zu verzeichnen war und der erstbehandelnde sowie die weiteren berichterstattenden Ärzte auch unter Berücksichtigung des aufgetretenen Brillenhämatoms lediglich von einem leichten Schädel-Hirn-Trauma (commotio cerebri) ausgingen. Zwar schloss Dr. med. C.________, Oberarzt Radiologie, Spital X.________, bei der Interpretation des Schädel-MRI vom 24. September 2002 eine Subarachnoidalblutung nicht mit völliger Sicherheit aus. Er fügte aber an, dass eine solche Blutung höchstens von diskreter Natur sein dürfte und nach einem Monat vollständig absorbiert wäre. Weiter empfahl der Radiologe, bei Persistenz der Beschwerden und klinischer Relevanz sei zum Ausschluss einer intrakraniellen Pathologie eine CT-Untersuchung vorzunehmen. Zugleich bezeichnete er aber einen intrakraniellen Druck aufgrund der normalen Lage der Kleinhirntonsillen als unwahrscheinlich. Die anderen berichterstattenden Ärzte befürworteten in der Folge, gestützt auch auf die eigenen klinischen Abklärungen, einzig für den Bereich HWS eine CT-Untersuchung sowie überdies eine Ganzkörper-Skelettszintigraphie. Diese Abklärungen wurden am 30. Dezember 2002 und 28. April 2003 durchgeführt und ergaben nur degenerative leichte Veränderungen an der HWS.
 
2.2 Mit organisch nachweisbaren Unfallfolgen lässt sich eine Leistungspflicht der SUVA über den 31. Mai 2003 hinaus somit nicht begründen. Es bleibt zu prüfen, ob eine unfallbedingte psychische Störung für die andauernden Beschwerden verantwortlich zu machen ist.
 
2.2.1 Das kantonale Gericht bejaht dies insofern, als es von einer zumindest teilweise (zum Genügen einer Teilursächlichkeit: BGE 121 V 329 Erw. 2a mit Hinweisen) natürlich kausal auf das Unfallereignis vom 19. September 2002 zurückzuführenden psychischen Problematik ausgeht. Es stützt sich bei dieser Beurteilung auf die Berichte des Dr. med. H.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 27. November 2003 und 18. Oktober 2004. Danach ist die Symptomatik aus psychiatrischer Sicht mit einer überwiegend wahrscheinlich mindestens teilweise durch den besagten Unfall bedingten mittelgradigen depressiven Episode ohne somatisches Syndrom bei psychosozialer Problematik (ICD 10: F 32.20), einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F43.1) nach Schädel-Hirn-Trauma (Differentialdiagnose: Organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma [ICD 10: F07.2]) und einer anhaltenden somatoformen Störung (ICD 10: F45.4) zu erklären.
 
Demgegenüber verneint die Vorinstanz, dass die psychische Problematik auch adäquat kausal mit dem Unfall zusammenhängt. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eingewendet, die Adäquanz sei entgegen dem angefochtenen Entscheid nicht gemäss den bei einer psychischen Fehlentwicklung nach Unfall geltenden Grundsätzen (BGE 115 V 33), sondern in Anwendung der Rechtsprechung zu Schleudertraumen der Halswirbelsäule (HWS) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle (BGE 117 V 359), dem Schleudertrauma der HWS ähnlichen Verletzungen (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) und Schädel-Hirn-Traumen (BGE 117 V 369) zu prüfen und zu bejahen.
 
Die unterschiedlichen Vorgehensweisen von Vorinstanz und Versichertem bei der Adäquanzprüfung sind insofern relevant, als nach der so genannten Schleudertraumapraxis, anders als im Falle einer psychischen Fehlentwicklung nach Unfall, bei der Prüfung der unfallbezogenen Kriterien auf eine Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten verzichtet wird, weil es hier nicht entscheidend ist, ob Beschwerden eher als organischer und/oder psychischer Natur bezeichnet werden (BGE 117 V 367 Erw. 6a und 382 f. Erw. 4b).
 
2.2.2 Ob der Versicherte beim Unfall vom 19. September 2002 tatsächlich eine schleudertrauma(-ähnliche) Verletzung oder ein Schädel-Hirn-Trauma von hinreichender Schwere im Sinne der von ihm angeführten Rechtsprechung erlitten hat, ist, auch wenn die hiefür typischen Beschwerden zumindest teilweise geklagt werden, schon mit Blick darauf, dass lediglich eine commotio cerebri diagnostiziert wurde, eher fraglich. Letztlich kann dies aber aufgrund der folgenden Erwägungen offen bleiben: Aus den Akten ergibt sich, dass der Hausarzt bereits am 11. Oktober 2002 annahm, die medizinische Behandlung der Unfallfolgen könne innert zweier weiterer Wochen abgeschlossen werden. Am 4. November 2002 vermutete der Arzt aufgrund der Diskrepanz zwischen den somatisch objektivierbaren Befunden und den weiterhin geklagten Beschwerden, dass der Versicherte aggraviere. Den Verdacht auf Aggravation und Simulation bei organisch nicht objektivierbaren Sehbeschwerden äusserte auch Frau Dr. med. R.________, Fachärztin FMH für Augenheilkunde, mit Bericht vom 25. November 2002, wobei sie allerdings eher von einer psychischen Problematik als von einem bewussten Verhalten ausging. Zur selben Auffassung gelangte daraufhin auch der Hausarzt gemäss Bericht vom 29. November 2002, worin von einer möglichen Schmerzverarbeitungsstörung oder einem posttraumatischen Distress Syndrom gesprochen wird. Dr. med. A.________, Neurologie FMH, beschrieb sodann mit Bericht vom 13. Dezember 2002 eine massivste Aggravationstendenz, allerdings ohne zwischen selbst- und zwanghaft gesteuertem Verhalten zu unterscheiden. Dass ein relevantes psychisches Leiden vorliegt, wurde in der Folge durch den Psychiater Dr. med. H.________ attestiert (Erw. 2.2.1 hievor).
 
Aus dem Gesagten erhellt, dass die physischen Beschwerden gegenüber der schon kurz nach dem Unfall vom 19. September 2002 aufgetretenen psychischen Problematik im Verlauf der ganzen Entwicklung bis zum Beurteilungszeitpunkt gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben und damit ganz in den Hintergrund getreten sind. Unter diesen Umständen ist die Adäquanz nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen zu prüfen (BGE 123 V 99 Erw. 2a; RKUV 2002 Nr. U 465 S. 439 Erw. 3b [Urteil W. vom 18. Juni 2002, U 164/01]).
 
2.2.3 Hiefür ist an das (objektiv erfassbare) Unfallereignis anzuknüpfen (BGE 115 V 139 Erw. 6 Ingress). Das Ereignis vom 19. September 2002 ist aufgrund des augenfälligen Geschehensablaufes und der erlittenen Verletzungen mit der Vorinstanz als mittlerer Unfall einzustufen. Ein schwerer Unfall liegt entgegen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ebenso wenig vor wie ein mittelschwerer an der Grenze zu den schweren Unfällen (vgl. Kasuistik in RKUV 2005 Nr. U 555 S. 324 f. Erw. 3.4.1 [Urteil A. vom 7. April 2005, U 458/04] und Nr. U 548 S. 231 Erw. 3.2.2 [Urteil K. vom 28. Februar 2005, U 306/04]).
 
Von den weiteren, objektiv fassbaren und unmittelbar mit dem Unfall in Zusammenhang stehenden oder als Folge davon erscheinenden Umständen, welche als massgebende Kriterien in die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind (BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa), müssten demnach für eine Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhanges entweder ein einzelnes in besonders ausgeprägter Weise oder aber mehrere in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sein (BGE 115 V 140 Erw. 6c/bb).
 
Dies trifft, wie das kantonale Gericht richtig erkannt hat, nicht zu. Als einziges Kriterium liesse sich allenfalls dasjenige der besonders dramatischen Begleitumstände oder der besonderen Eindrücklichkeit des Unfalles bejahen. Dieses liegt indessen nicht in derart ausgeprägter Weise vor, dass alleine deswegen die Adäquanz zu bejahen wäre. Von den weiteren in Betracht kommenden Gesichtspunkten, deren wichtigste die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzungen, die ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung, die körperlichen Dauerschmerzen, die ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert, der schwierige Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen sowie Grad und Dauer der physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit bilden (BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa), ist keines erfüllt. Einsprache- und vorinstanzlicher Entscheid sind somit rechtens.
 
3.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwältin Yvonne Furler, Zug, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
 
Luzern, 27. Dezember 2005
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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