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Informationen zum Dokument  BGer 5C.168/2005  Materielle Begründung
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BGer 5C.168/2005 vom 23.01.2006
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
5C.168/2005 /bnm
 
Urteil vom 23. Januar 2006
 
II. Zivilabteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Raselli, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl,
 
Gerichtsschreiber Möckli.
 
Parteien
 
X.________,
 
Klägerin und Berufungsklägerin,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Fischer,
 
gegen
 
Y.________ Versicherung,
 
Beklagte und Berufungsbeklagte.
 
Gegenstand
 
Versicherungsvertrag,
 
Berufung gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 25. April 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 20. Februar 1992 schloss X.________, geb. 27. Mai 1961, mit der Y.________ Versicherung eine gemischte Lebensversicherung (Erlebens- und Todesfall) mit Erwerbsausfallrente ab. Im Fragenkatalog zum Gesundheitszustand bejahte sie die Fragen Ziff. 5 (benötigen Sie Medikamente oder stehen Sie unter ärztlicher Behandlung oder ärztlicher Kontrolle), Ziff. 6 (wurden Sie schon in einem Krankenhaus, Sanatorium oder einer Kuranstalt behandelt, operiert oder untersucht), Ziff. 10.1 (Erkrankung der Atmungsorgane wie Brustfellentzündung, Bronchitis, Asthma, Staublunge oder andere), wobei sie "Bronchitis" unterstrich, sowie Ziff. 10.7 (Krankheiten der Knochen und Gelenke wie Hexenschuss, Ischias, Wirbelsäulenbeschwerden, Arthritis, Rheumatismus oder andere), wobei sie "Rheumatismus" unterstrich. In Ziff. 13, wo Einzelheiten anzugeben waren, bemerkte sie u.a. "Rheumaschub 1-2 x jährl. sonst i.O. Dr. Z.________" sowie "Kaiserschnitt 1982 Geburt Tochter Alles i.O.".
 
Am 13. März 1995 wurden unter Beibehaltung der versicherten Ereignisse die Versicherungssummen erhöht. Mit Vertrag vom 6. Februar 1996 wurde die Versicherung bei gleichbleibenden Summen auf das Ereignis des Unfalltodes ausgeweitet. In diesem Zusammenhang füllte X.________ wiederum einen Fragenkatalog aus, wobei sich die Fragen zu ihrem Gesundheitszustand auf die letzten zehn Jahre beschränkten. Im Rahmen der erweiterten Versicherungsdeckung wurden am 30. März 1998 wiederum die Versicherungssummen erhöht. Die Versicherungsverträge wurden stets unter der gleichen Nummer 5.339.105 geführt.
 
B.
 
Nachdem X.________ invalid geworden war, trat die Y.________ Versicherung mit Schreiben vom 10. Oktober 2003 vom Vertrag zurück, indem sie sich auf Art. 6 VVG berief und geltend machte, die Versicherungsnehmerin habe im Fragenkatalog vom 19. Februar 1992 nicht erwähnt, dass sie im Alter von 16 Jahren während sechs Monaten hospitalisiert gewesen sei. Es handelt sich dabei um einen längeren Aufenthalt (die genaue Dauer blieb im kantonalen Verfahren umstritten) aus dem Jahr 1977 in der medizinischen Klinik des Krankenhauses W.________ in A.________ wegen Wachstumsstörungen bzw. "dicken Knien".
 
C.
 
Mit Klage vom 7. Juli 2004 stellte X.________ die Begehren, der von der Y.________ Versicherung erklärte Rücktritt sei für ungültig und diese für pflichtig zu erklären, ihr ab 1. April 2002 und bis auf weiteres, längstens aber bis 29. Februar 2012 die geschuldeten Leistungen, d.h. eine jährliche Erwerbsausfallrente von Fr. 22'000.-- zuzüglich Leistungsbonus auszurichten.
 
Mit Urteil vom 25. April 2005 wies das Handelsgericht des Kantons Aargau die Klage ab.
 
D.
 
Gegen dieses Urteil hat X.________ am 27. Juni 2005 staatsrechtliche Beschwerde und Berufung eingereicht, Letztere mit dem Begehren um Gutheissung der Klage. In ihrer Antwort vom 23. September 2005 hat die Y.________ Versicherung auf Abweisung der Berufung geschlossen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Sind in der gleichen Streitsache Berufung und staatsrechtliche Beschwerde erhoben worden, wird Letztere in der Regel zuerst behandelt (Art. 57 Abs. 5 OG). Umgekehrt ist insbesondere dann zu verfahren, wenn die Berufung selbst auf Grund der mit staatsrechtlicher Beschwerde kritisierten Sachverhaltsfeststellungen des kantonalen Gerichts als begründet erscheint, was vorliegend der Fall ist.
 
2.
 
Zwischen den Parteien ist strittig, ob in den Jahren 1995, 1996 und 1998 jeweils ein neuer Versicherungsvertrag abgeschlossen (Klägerin) oder lediglich der ursprüngliche vom 20. Februar 1992 modifiziert worden ist (Beklagte). Letzterenfalls wäre der zeitlich nicht limitierte Fragenkatalog vom 19. Februar 1992, auf dessen Basis die Beklagte mit Bezug auf den verschwiegenen Spitalaufenthalt im Jahr 1977 eine Anzeigepflichtsverletzung behauptet hat, nach wie vor verbindlich.
 
2.1 Die Abgrenzung zwischen Abschluss eines neuen Versicherungsvertrages und blosser Änderung des bestehenden Vertrages kann im Einzelfall schwierig sein. Um einen Neuabschluss handelt es sich regelmässig, wenn der Vertragsgegenstand wesentliche Änderungen erfahren hat, namentlich wenn die versicherten Risiken ausgedehnt worden sind (vgl. Stoessel, in: Basler Kommentar zum VVG, N. 12 zu Art. 2; Carré, Loi fédérale sur le contrat d'assurance, Lausanne 2000, S. 117). Desgleichen deutet die Änderung der Laufzeit der Versicherung auf einen neuen Vertrag hin (Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., München 2004, N. 7 zu § 3 deutsches VVG; vgl. auch Maurer, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., Bern 1995, S. 228). Als blosse Vertragsänderungen werden demgegenüber die Herabsetzung der Versicherungssumme, aber auch die Einschränkung der versicherten Risiken angesehen, namentlich der Wechsel von einer Voll- zur Teilkaskoversicherung (BGE 120 II 133 E. 4b S. 135; Stoessel, a.a.O., N. 14; Carré, a.a.O., S. 117).
 
Umstritten ist die Einordnung der sog. Nachversicherung: Sie fällt kraft ausdrücklicher Gesetzesbestimmung (Art. 2 Abs. 3 VVG) nicht unter Art. 2 VVG; vielmehr kommt hier Art. 1 VVG zur Anwendung (Stoessel, a.a.O., N. 16). Während ein Teil der Lehre deshalb einen neuen Vertrag annimmt (Roelli, Kommentar zum VVG, Band I, Bern 1914, S. 44), geht ein anderer Teil dennoch von einer blossen Vertragsänderung aus mit der Begründung, der Parteiwille sei nicht auf einen Neuabschluss gerichtet (Roelli/Keller/Tännler, Kommentar zum VVG, Band I, Bern 1968, S. 58). Wie es sich mit den beiden Nachversicherungen aus den Jahren 1995 und 1998 verhält, kann vorliegend offen gelassen werden, weil die Klage ohnehin aus einem anderen Grund gutzuheissen ist (nachfolgend E. 2.2).
 
2.2 Im Unterschied zu den Jahren 1995 und 1998 wurden 1996 nicht die Versicherungssummen erhöht, sondern die versicherten Risiken erweitert, indem am 6. Februar 1996 der Unfalltod als versichertes Ereignis miteingeschlossen wurde. In diesem Zusammenhang musste die Klägerin eine neue Gesundheitsdeklaration ausfüllen. Nun gehört aber die Anzeigepflicht nach der Marginalie zu Art. 4 Abs. 1 VVG zu den Obliegenheiten des Versicherungsnehmers im Vorfeld des Vertragsabschlusses (vgl. auch Nef, in: Basler Kommentar zum VVG, Basel 2001, N. 7 zu Art. 4); nach Ziff. 4.1 der ins Recht gelegten AGB der Beklagten beschränkt sich die Befreiung von der Gesundheitsdeklaration denn auch ausdrücklich auf die Nachversicherung. Sodann sind aus den Akten keine Anhaltspunkte ersichtlich, wonach die Gefahrendeklaration sich nicht auf den Versicherungsvertrag als solchen bezogen, sondern auf das neue Risiko des Unfalltodes beschränkt hätte; vielmehr machte die Beklagte die Gültigkeit des Vertrages in der von ihr vorformulierten Risikodeklaration explizit von der Richtigkeit und Vollständigkeit der klägerischen Angaben abhängig. Dabei verwies sie auf Art. 6 VVG, der seinerseits von der Anzeigepflichtverletzung beim Abschluss des Vertrages spricht.
 
Nach dem Vertrauensprinzip, das vom Bundesgericht im Berufungsverfahren als Rechtsfrage frei überprüft wird (BGE 130 III 686 E. 4.3.1 S. 689), können diese Erklärungen der Beklagten nicht anders denn als Willensäusserung zum Abschluss eines neuen Vertrages interpretiert werden. In objektiver Hinsicht spiegelt sich dieser Abschlusswille schliesslich in der Versicherungspolice vom 6. Februar 1996, die nach der Erklärung der Beklagten den bisherigen Versicherungsvertrag (nicht: die bisherige Versicherungspolice) ersetze.
 
Kein anderes Resultat ergäbe sich im Übrigen, wenn man die aktenkundigen Erklärungen der Beklagten nicht nach dem Vertrauensprinzip als Willensäusserung zum Neuabschluss interpretieren, sondern die Auffassung vertreten würde, dass sich diese in guten Treuen verschieden, d.h. auch als Willenskundgabe zur blossen Vertragsänderung verstehen lassen: Diesfalls würde der Grundsatz in dubio contra stipulatorem greifen und die Beklagte müsste sich die für sie ungünstige Auslegungsvariante entgegenhalten lassen (BGE 122 III 118 E. 2a S. 121; 124 III 155 E. 1b S. 158 f.); sie hätte es denn auch in der Hand gehabt, ihren angeblichen Willen zur blossen Vertragsänderung durch entsprechende Formulierungen gegen aussen unzweideutig zu bekunden.
 
2.3 Haben die Parteien nach dem Gesagten am 6. Februar 1996 einen neuen Versicherungsvertrag geschlossen, so ist die Risikodeklaration aus dem Jahr 1992 hierfür nicht von Belang; relevant ist allein diejenige vom 29. Januar 1996, bei welcher die Beklagte lediglich für die letzten zehn Jahre Auskunft verlangte. Entsprechend kann es der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie die Hospitalisation im Jahr 1977 nicht erwähnt hat.
 
3.
 
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Klage gutzuheissen ist, und zwar in dem von der Klägerin verlangten Umfang, bestreitet doch die Beklagte deren Forderungen nur im Grundsatz, nicht aber im Ausmass. Bei diesem Ergebnis werden die weiteren Fragen (namentlich die Erheblichkeit der Gefahrstatsache sowie die Rechtzeitigkeit des Rücktritts) gegenstandslos.
 
4.
 
Zufolge Gutheissung der Klage wird die Beklagte kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG). Für die Festsetzung der Kosten des kantonalen Verfahrens entsprechend dem neuen Ausgang wird die Sache ans Handelsgericht zurückgewiesen (Art. 159 Abs. 6 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Berufung wird das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 25. April 2005 aufgehoben.
 
2.
 
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin ab 1. April 2002 bis längstens 29. Februar 2012 eine jährliche Erwerbsausfallrente von Fr. 22'000.-- zuzüglich Leistungsbonus auszurichten.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 8'000.-- werden der Beklagten auferlegt.
 
4.
 
Die Beklagte hat die Klägerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 10'000.-- zu entschädigen.
 
5.
 
Zur neuen Festsetzung und Verlegung der Kosten des kantonalen Verfahrens wird die Sache ans Handelsgericht zurückgewiesen.
 
6.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. Januar 2006
 
Im Namen der II. Zivilabteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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