BGer 2P.216/2005 | |||
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BGer 2P.216/2005 vom 23.02.2006 | |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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2P.216/2005/leb
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Urteil vom 23. Februar 2006
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II. Öffentlichrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Merkli, Präsident,
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Bundesrichter Müller, Ersatzrichter Rohner,
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Gerichtsschreiber Matter.
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Parteien
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A. und B.X.________,
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Beschwerdeführer, vertreten durch
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Fürsprecher Marcus Andreas Sartorius,
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gegen
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Einwohnergemeinde Y.________,
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Regierungsstatthalteramt Niedersimmental,
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3752 Wimmis,
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Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung,
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Speichergasse 12, 3011 Bern.
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Gegenstand
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Art. 9, 27 und 29 BV (Entzug der provisorischen und Verweigerung der definitiven Bewilligung betr. Aufnahme von betreuungs- und pflegebedürftigen Personen),
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Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
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des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 30. Juni 2005.
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Sachverhalt:
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A.
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Mit Verfügung vom 11. Juli 2002 erteilte die Einwohnergemeinde Y.________ (BE) A. und B.X.________ gestützt auf die kantonale Verordnung vom 18. September 1996 über die Betreuung und Pflege von Personen in Heimen und privaten Haushalten (Heimverordnung, HEV, 862.51) provisorisch auf ein Jahr die Bewilligung zur Aufnahme von bis zu drei Personen der Pflegestufe 2 in ihrem Privathaushalt. Darin wurde als "Auflage" unter anderem festgehalten, dass die Bewilligung nur bei Zusammenarbeit mit der Ökonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern (nachfolgend: OGG) gültig sei. Mit Schreiben vom 25. August 2003 wurde die Bewilligung bis 1. August 2004 verlängert und eine definitive Bewilligung in Aussicht gestellt.
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Nach persönlicher Anhörung von A. und B.X.________ verfügte die Einwohnergemeinde Y.________ am 11. Mai 2004 den sofortigen Entzug der provisorischen und verweigerte eine definitive Betriebsbewilligung. Sie erwog im Wesentlichen, dass die OGG die Zusammenarbeit mit den Eheleuten X.________ auf Ende Februar 2004 eingestellt habe und die entsprechende Auflage somit nicht mehr erfüllt sei.
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B.
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Nach erfolgloser Ergreifung der kantonalen Rechtsmittel (Beschwerde an den Regierungsstatthalter Niedersimmental und sodann an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern) haben die Eheleute X.________ am 29. August 2005 staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragen die Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Entscheids und machen eine Gehörsverweigerung sowie einen Verstoss gegen die Wirtschaftsfreiheit und den Vertrauensschutz geltend. Sie ersuchen um aufschiebende Wirkung und um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege bzw. -verbeiständung.
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Das Verwaltungsgericht und der Regierungsstatthalter schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
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C.
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Der Präsident der II. öffentlichrechtlichen Abteilung hat das Gesuch um aufschiebende Wirkung mit Verfügung vom 26. Oktober 2005 abgewiesen.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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1.1 Der angefochtene Entscheid ist letztinstanzlich und stützt sich auf kantonales Recht; gegen ihn steht von Bundesrechts wegen kein anderes Rechtsmittel als die staatsrechtliche Beschwerde offen (Art. 84 Abs. 2 und Art. 86 OG). Die Beschwerdeführer sind durch den Entscheid, soweit er ihnen eine Bewilligung entzieht oder deren Nichtbestehen feststellt, in ihrer Rechtsstellung betroffen und haben ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung (Art. 88 OG). Insofern ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.
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1.2 Fraglich ist ihre Zulässigkeit jedoch in Bezug auf sämtliche Rügen gegenüber der - seinerzeit unangefochten gebliebenen und deshalb in Rechtskraft erwachsenen - Verfügung, mit der die Einwohnergemeinde Y.________ am 11. Juli 2002 die "Auflage" festgehalten hat, wonach die erteilte Bewilligung nur bei Zusammenarbeit mit der OGG gültig sei.
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Der angefochtene Entscheid bzw. die ihm zugrunde liegende Verfügung der Gemeinde vom 11. Mai 2004 bildet nur einen Vollzugsakt der genannten "Auflage". Nach der Rechtsprechung können Verfügungen, welche auf einer rechtskräftigen früheren Verfügung beruhen und diese lediglich vollstrecken, mit allen Verfassungsrügen angefochten werden, soweit die Verfassungswidrigkeit in ihnen selber begründet ist. Hingegen ist die Rüge, die frühere Verfügung sei verfassungswidrig, ausgeschlossen, da verspätet. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt dann, wenn der Beschwerdeführer die Verletzung unverzichtbarer und unverjährbarer Rechte geltend macht oder die frühere Verfügung als nichtig anzusehen ist (vgl. u.a. BGE 118 la 209 E.2b S. 214).
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Vorliegend ist die genannte Auflage jedenfalls nicht derart krass und offensichtlich fehlerhaft, dass sie als nichtig (vgl. zu diesem Begriff BGE 122 I 97 E.3a/aa, S. 99 mit Hinweisen) einzustufen wäre. Das gilt umso mehr als, wie den Akten zu entnehmen und unbestritten ist, die OGG über einen Leistungsvertrag mit der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion verfügt und im Bereich von Familienplatzierungen eine angemessene Qualität und Aufsicht sicherstellt. Es ist im Übrigen nicht selten, dass der Staat in der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben mit Privaten zusammenarbeitet oder solche Aufgaben auf Private überträgt (vgl. u.a. Ulrich Häfelin/Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Zürich 2002, N 1509 ff.).
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1.3 Die Verletzung unverzichtbarer und unverjährbarer Grundrechte (dazu BGE 118 la 209 E.2a S. 212 f. mit Hinweisen), wird nicht geltend gemacht. Die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV bzw. Art. 23 KV) gehört nicht zu diesen Rechten (vgl. BGE 104 la 172 E.2b S. 175 f. mit Hinweisen).
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Somit kann auf sämtliche Vorbringen, die sich gegen die Grundverfügung vom 11. Juli 2002 richten, nicht eingetreten werden. Dies gilt insbesondere für die Rüge des Verstosses gegen die Wirtschaftsfreiheit, soweit die Beschwerdeführer sie gegenüber der ihnen auferlegten Verpflichtung zur ausschliesslichen Zusammenarbeit mit der OGG geltend machen. Zu prüfen ist hier einzig, ob die Vollzugsverfügung vom 11. Mai 2004 auf einer rechtskonformen Auslegung der Grundverfügung beruht. Dabei handelt es sich um die Anwendung von kantonalem Recht unterhalb der Verfassungsstufe, die das Bundesgericht nur auf Willkür hin überprüfen kann (vgl. BGE 129 I 410 E. 2.3 S. 414 mit Hinweisen).
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1.4 Gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Dabei genügt nicht, wenn der Betroffene einfach im Rahmen pauschaler Vorbringen behauptet, der angefochtene Entscheid sei verfassungswidrig; er muss vielmehr deutlich und in Auseinandersetzung mit der Begründung der letzten kantonalen Instanz dartun, inwiefern dies der Fall sein soll. Auf bloss allgemein gehaltene, appellatorische Kritik tritt das Bundesgericht nicht ein (vgl. BGE 125 I 71 E. 1c S. 76; 110 Ia 1 E. 2a S. 4 mit Hinweisen). Diesen Anforderungen vermag die vorliegende Beschwerdeschrift in weiten Teilen nicht zu genügen (vgl. insb. E. 2 hiernach).
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1.5 Die Beschwerdeführer bringen u.a. vor, der Regierungsstatthalter habe ihnen das rechtliche Gehör verweigert (Art. 29 BV), indem er - ohne ihnen diesbezüglich Gelegenheit zu einer Stellungnahme einzuräumen - auf einen Bericht des Alters- und Behindertenamtes abgestellt habe, welcher auf einem im Haus der Beschwerdeführer durchgeführten Augenschein beruhe und die dortigen Verhältnisse zum Teil kritisch qualifiziere. Diese Rüge wird im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde erstmals erhoben.
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Mit der staatsrechtlichen Beschwerde können, wenn diese - wie hier - die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges voraussetzt, grundsätzlich keine neuen tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen erhoben werden (vgl. BGE 118 Ia 20 E. 5a S. 26 mit Hinweisen). Die Rechtsprechung lässt zwar Ausnahmen vom Novenverbot zu, von denen vorliegend aber keine erfüllt ist. Insbesondere hat nicht erst der angefochtene Entscheid zu den neuen Vorbringen Anlass gegeben. Die Beschwerdeführer hätten die betreffende Rüge bereits vor Verwaltungsgericht erheben können und müssen. Somit erweist sie sich als unzulässig.
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2.
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Materiell machen die Beschwerdeführer geltend, die Nichterteilung einer Heimbewilligung sei ein schwerwiegender Verstoss gegen die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV).
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Auf ihre Einwendungen kann jedoch - wie schon dargelegt (vgl. E. 1.2 hiervor) - insoweit nicht eingetreten werden, als sie sich nicht gegen die Verfügung vom 11. Mai 2004, sondern gegen die Grundverfügung vom 11. Juli 2002 richten. Mit der allein Anfechtungsgegenstand bildenden Vollzugsverfügung und der vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellung des Nichtbestehens einer Heimbewilligung setzt sich die Beschwerdeschrift indessen nicht in einer Art. 90 Abs. 1 lit. b OG entsprechenden Weise (vgl. E. 1.3 hiervor) auseinander. Namentlich wird nicht rechtsgenüglich dargetan, dass die Beurteilung des Verwaltungsgerichts auf einer gegen das Willkürverbot oder spezifische verfassungsmässige Rechte verstossenden Auslegung der Grundverfügung beruhe. Im Übrigen erschiene die genannte Auslegung auf jeden Fall sachlich vertretbar und würde so dem Vorwurf der Willkür (vgl. E. 1.2 in fine) entgehen.
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3.
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Die Beschwerdeführer argumentieren schliesslich, es verletze Treu und Glauben (Art. 9 BV), dass die kantonale Erstinstanz zunächst eine definitive Bewilligung in Aussicht gestellt, eine solche dann aber in ihrer Verfügung vom 11. Mai 2004 ohne nähere Begründung ausgeschlossen und ihnen zudem eine angemessene Nachfrist zur Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes verweigert habe.
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Die Einwohnergemeinde Y.________ hat in ihrem Schreiben vom 25. August 2003 eine definitive Bewilligung nicht bedingungslos zugesichert, sondern nur unter der Voraussetzung, dass alle in der Grundverfügung genannten Bedingungen und Auflagen erfüllt sind. Die Beschwerdeführer behaupten nicht, dass dies im Zeitpunkt der hier massgeblichen Verfügung vom 11. Mai 2004 der Fall gewesen sei. Unbestritten ist insbesondere, dass die OGG damals die Zusammenarbeit mit ihnen schon eingestellt hatte. Demzufolge ist ein Verstoss gegen Treu und Glauben nicht ersichtlich, ebenso wenig ein Anspruch auf Gewährung einer Nachfrist. In Bezug auf diesen letzten Punkt argumentieren die Beschwerdeführer übrigens einmal mehr appellatorisch.
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4.
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Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (vgl. Art. 156 OG). Sie haben jedoch ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und -verbeiständung gestellt (vgl. Art. 152 OG). Ihre Bedürftigkeit ist hinreichend ausgewiesen, und ihre Beschwerde war nicht zum Vornherein aussichtslos. Daher ist dem Gesuch stattzugeben, von einer Kostenerhebung abzusehen und dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführer aus der Bundesgerichtskasse ein angemessenes Honorar auszurichten.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
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2.
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Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wird gutgeheissen.
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2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
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2.2 Den Beschwerdeführern wird Fürsprecher Marcus Andreas Sartorius als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben.
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3.
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Fürsprecher Sartorius wird für die Vertretung der Beschwerdeführer aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'500.-- entschädigt.
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4.
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Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Einwohnergemeinde Y.________, dem Regierungsstatthalteramt Niedersimmental und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 23. Februar 2006
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Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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