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Informationen zum Dokument  BGer I 815/2005  Materielle Begründung
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BGer I 815/2005 vom 21.04.2006
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess {T 7}
 
I 815/05
 
Urteil vom 21. April 2006
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber Hadorn
 
Parteien
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17,
 
8005 Zürich, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
S.________, 1996, Beschwerdegegner, handelnd durch seine Mutter C.________ und diese vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Cristina Schiavi, Seestrasse 35,
 
8700 Küsnacht
 
Vorinstanz
 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
 
(Entscheid vom 23. September 2005)
 
Sachverhalt:
 
Mit Verfügung vom 6. Januar 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich ein Gesuch um medizinische Massnahmen für S.________ (geb. am 2. September 1996) zur Behandlung seines angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 13. Mai 2005 fest.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. September 2005 insofern gut, als es die Sache zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.
 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
 
S.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen und um unentgeltliche Verbeiständung ersuchen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch von Personen vor vollendetem 20. Altersjahr auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG; Art. 13 Abs. 1 IVG), zum Begriff des Geburtsgebrechens (Art. 3 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GgV) im Allgemeinen und zum angeborenen Psychoorganischen Syndrom im Besonderen (Ziff. 404 GgV-Anhang) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung (BGE 122 V 114 Erw. 1b) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
Die Vorinstanz kam zum Schluss, es lasse sich auf Grund der vorhandenen Akten nicht beurteilen, ob der Versicherte an einem POS leide oder nicht. Dies bestreitet die IV-Stelle, welche den Fall als entscheidungsreif betrachtet, was im Folgenden zu prüfen ist.
 
2.1 Die IV-Stelle sandte am 6. Oktober 2004 einen ärztlichen Fragebogen an Dr. med. A.________, Psychiatrie/Psychotherapie FMH. Dieser kam undatiert und leer zurück mit der Bemerkung, der Patient sei schon lange nicht mehr in Behandlung. Am 18. November 2004 sandte die IV-Stelle erneut einen Arztbericht an Dr. A.________. Diesmal gab der Arzt als Diagnose das Geburtsgebrechen Nr. 404 mit psychomotorischem und kognitivem Entwicklungsrückstand an. Ausserdem erwähnte er eine Adipositas mit Stoffwechselstörung. Die Behandlung habe vom 5. November 2003 bis 17. November 2004 (letzte Untersuchung) gedauert. Dr. A.________ verweist auf einen Bericht des Spitals X.________, welches im März 2003 bereits einen kognitiven Entwicklungsrückstand und andere kognitive Defizite festgestellt habe. Diese hätten sich in seiner Sprechstunde bestätigt. Zusätzlich lägen psychomotorische Defizite und ein affektives Handicap vor. Auf dem Fragebogen zum infantilen POS schrieb Dr. A.________, an einem POS könne aus kinderpsychiatrischer Sicht nicht gezweifelt werden.
 
2.2 Angesichts dieser Angaben kann der IV-Stelle insoweit nicht gefolgt werden, als sie behauptet, Dr. A.________ stelle bloss eine Verdachtsdiagnose. Dem widerspricht der Satz auf dem Fragebogen zum infantilen POS, wonach kein Zweifel an der Diagnose möglich sei. Auf der andern Seite ist der Vorinstanz beizupflichten, dass Dr. A._______ keine eigenen Untersuchungen vorgenommen, nur das Vorliegen einer Antriebsstörung explizit bejaht hat und bezüglich der Störungen des Erfassens und Erkennens, der Konzentrations-, Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen auf die Angaben des Spitals X.________ vom März 2003 verwies. Dort wurde jedoch kein POS diagnostiziert. Im Lehrerfragebogen vom 30. November 2003, laut welchem der Versicherte Einzelgänger und mit Klassenkameraden wenig bis ziemlich stark unkooperativ sei, lassen sich durchaus Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Affektivität finden. Dr. A.________ hat die entsprechende Frage nicht beantwortet.
 
2.3 Gemäss der Rechtsprechung (BGE 122 V 117 Erw. 2f) müssen zwar alle Symptome des POS kumulativ, aber nicht alle gleichzeitig vorhanden sein. Es genügt daher, dass auf Grund der gesamten Anamnese alle für das POS symptomatischen Störungen vor dem vollendeten 9. Altersjahr festgestellt werden können. Mit dem Erfordernis der Diagnosestellung vor dem 9. Lebensjahr wird nicht verlangt, dass bereits dannzumal sämtliche Symptome genannt und festgehalten sein müssen. Die Anführung der jeweiligen Krankheitszeichen ist erst für die beweisrechtliche Frage relevant, ob die Diagnose zutrifft oder nicht. Dies schliesst nicht aus, dass mit ergänzenden späteren Abklärungen nachweisbar ist, es habe nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bereits vor vollendetem 9. Altersjahr die komplette Symptomatik des Geburtsgebrechens Ziff. 404 GgV-Anhang bestanden (a.a.O. S. 118).
 
2.4 Auf Grund der Angaben des Dr. A.________ kann das Vorliegen eines POS weder rechtsgenüglich bejaht noch verneint werden. Daher hat die Vorinstanz zu Recht erwogen, dass ergänzende Abklärungen getroffen werden müssen. Es ist in der Tat nicht ausgeschlossen, dass alle POS-Symptome mit überwiegender Wahrscheinlichkeit schon vor dem vollendeten 9. Altersjahr (2. September 2005) vorgelegen haben und sich dies noch nachweisen lässt.
 
3.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Nach dem Gesagten obsiegt der Versicherte, weshalb sein Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung gegenstandslos ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Entschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 21. April 2006
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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