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Informationen zum Dokument  BGer B 21/2006  Materielle Begründung
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BGer B 21/2006 vom 09.05.2006
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess {T 7}
 
B 21/06
 
Urteil vom 9. Mai 2006
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Schön; Gerichtsschreiber Grunder
 
Parteien
 
C.________, 1961, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Melanie Müller, c/o Schumacher Baur Hürlimann, Oberstadtstrasse 7, 5400 Baden,
 
gegen
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau, Beschwerdegegner
 
(Beschluss vom 24. Januar 2006)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
C.________ und K.________ heirateten am 13. Januar 1998. Mit Urteil vom 10. März 2005, in Rechtskraft erwachsen am 26. April 2005, schied das Bezirksgericht Baden, 2. Abteilung, die Ehe der Parteien und ordnete in Ziffer 4a des Urteilsdispositivs die hälftige Aufteilung der während der Ehe gebildeten Austrittsleistungen der beruflichen Vorsorge an.
 
B.
 
Nach Überweisung der Sache durch das Scheidungsgericht führte das Versicherungsgericht des Kantons Aargau einen Schriftenwechsel durch. Es wies das mit der eingereichten Klage von C.________ gestellte Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung mit Zwischenentscheid vom 24. Januar 2006 ab.
 
C.
 
C.________ lässt unter Einreichung verschiedener Unterlagen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des kantonalen Zwischenentscheids sowie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im vor- und letztinstanzlichen Verfahren beantragen.
 
Das kantonale Gericht reicht eine Vernehmlassung ein, ohne einen Antrag zu stellen.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Der kantonale Entscheid über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege gehört zu den Zwischenverfügungen, die einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können. Er kann daher selbstständig mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen Versicherungsgericht angefochten werden (Art. 5 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 und 2 lit. h VwVG sowie Art. 97 Abs. 1 und 128 OG; BGE 100 V 62 Erw. 1, 98 V 115).
 
2.
 
2.1 Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.2 Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglichkeit, im Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend eingeschränkt. Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II 99 Erw. 1c, 120 V 485 Erw. 1b, je mit Hinweisen).
 
3.
 
Im BVG findet sich keine ausdrückliche Regelung über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im kantonalen Verfahren (vgl. Art. 73 BVG). Es ist daher grundsätzlich kantonales Prozessrecht anwendbar, das jedoch den durch die Rechtsprechung konkretisierten Mindestanforderungen von Art. 29 Abs. 3 BV zu genügen hat (BGE 129 I 133 Erw. 2.1; BGE 124 I 2 Erw. 2 zu alt Art. 4 BV). Die Bedürftigkeit als eine der Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ist dabei gleich zu verstehen wie der Begriff der Bedürftigkeit im Sinne von Art. 152 Abs. 1 OG (nicht publizierte Erw. 3 und 4 des in SZS 2003 S. 522 zusammengefassten Urteils B. vom 20. Dezember 2002, B 52/02). Das kantonale Gericht hat im Übrigen die Rechtsprechung zur Beurteilung der Bedürftigkeit zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz setzte die Einnahmen des vermögenslosen Beschwerdeführers auf Fr. 4498.- (Nettolohn von Fr. 4100.-, Kinderzulage von Fr. 190.-, Alimentenbevorschussung von Fr. 208.-) fest, welchen sie Ausgaben von Fr. 3656.95 (um 25% erhöhte Grundbeträge für den Beschwerdeführer und seinen minderjährigen Sohn, Wohnungsmietzins, Krankenkassenprämien, Berufsauslagen, Abonnement für den öffentlichen Verkehr des Sohnes, Unterhaltsbeitrag an die Mutter des Beschwerdeführers) gegenüberstellte. Das kantonale Gericht erwog, mit dem sich ergebenden monatlichen Überschuss von Fr. 841.05 sei es dem Beschwerdeführer möglich, auch in Berücksichtigung eines angemessenen Abzahlungsbetrages von Steuerschulden und des Darlehens von Fr. 1000.-, die anfallenden Anwaltskosten innert vernünftiger Frist zu tilgen.
 
4.2 Zu prüfen ist zunächst die vorinstanzliche Ermittlung der Einkünfte. Der Beschwerdeführer bezifferte sein Einkommen in der kantonalen Klageschrift mit Fr. 4100.- netto zuzüglich Kinderzulage, wogegen der Gemeinderat der Stadt Baden gemäss vorinstanzlich eingereichtem "Zeugnis über die Familien-, Vermögens- und Einkommensverhältnisse betreffend das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege" vom 21. Oktober 2005 einen Nettolohn von Fr. 3823.- inklusive Kinderzulage und zuzüglich Alimentenbevorschussung von Fr. 208.- angab. Angesichts dieser Differenzen hätte die Vorinstanz die Einkommenssituation näher überprüfen und zusätzliche Abklärungen treffen müssen. Der letztinstanzlich eingereichte Lohnausweis für die Steuererklärung des Jahres 2005 vom 19. Januar 2006 des Zentrums E._________ ist daher auch im Rahmen der eingeschränkten Kognition zu berücksichtigen. Daraus ergibt sich ein Jahresverdienst einschliesslich Kinderzulage von Fr. 50'509.- oder monatlich Fr. 4209.10. Unbestritten ist, dass ein Betrag von Fr. 208.- für Alimentenbevorschussung hinzuzurechnen ist. Somit betragen die Einnahmen insgesamt Fr. 4417.10.
 
4.3 Weiter wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht, die Vorinstanz habe zu Unrecht einerseits die im Zeugnis des Gemeinderats erwähnten Auslagen für den Mitgliederbeitrag des Sohnes an den Fussballverein, andererseits die Steuerschulden und ein Darlehen ausser Acht gelassen.
 
Gemäss Ziffer I. der Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums nach Art. 93 SchKG des Kantons Aargau vom 3. Januar 2001 (SAR 231.191), welche den Erwägungen im kantonalen Entscheid zugrunde liegen, sind im monatlichen Grundbetrag unter anderem Ausgaben für "Kulturelles" enthalten. Es stellt keine Verletzung von Bundesrecht dar, wenn die Vorinstanz den Mitgliederbeitrag an den Fussballverein darunter subsumierte.
 
Was die Steuerausstände und das Darlehen anbelangt, hat das kantonale Gericht keine Abklärungen getroffen, ob und in welcher Höhe der Beschwerdeführer effektiv Abschlagszahlungen leistet. Der Sachverhalt ist somit auch in diesen Punkten unvollständig festgestellt. Laut letztinstanzlich aufgelegtem "Kontoauszug 2004" der Stadtverwaltung vom 8. Februar 2006 bezahlt der Beschwerdeführer an eine Steuerschuld aus dem Jahre 2004 monatlich Fr. 100.-. Dieser Betrag ist in die Bedarfsrechnung einzusetzen. Bezüglich der ausstehenden Staats- und Gemeindesteuern für das Jahr 2005 sowie des Darlehens macht der Beschwerdeführer nicht geltend, noch liegen Anhaltspunkte vor, dass er diese Verpflichtungen tatsächlich getilgt hat oder sie in Raten abzahlt.
 
4.4 Schliesslich bringt der Beschwerdeführer unter Auflage einer zwischen ihm und der Tagesmutter abgeschlossenen Vereinbarung vom 18. Januar 2006 sowie eines Schreibens der Amtsvormundschaft des Bezirks Baden vom 7. Februar 2006 vor, sein Sohn werde auf Empfehlung der Beiständin seit Anfang November 2005 zeitweilig fremdbetreut, wofür er monatlich Fr. 500.- aufzuwenden habe. Diesen Umstand, der angesichts der Verhältnisse des Beschwerdeführers (vollzeitliche Erwerbstätigkeit als Pflegeassistent in einem Altersheim mit unregelmässigen Arbeitszeiten; alleinerziehender Vater eines schulpflichtigen zwölfjährigen Sohnes) einen Aufwandposten darstellen kann (vgl. Alfred Bühler, Die Prozessarmut, in: Gerichtskosten, Parteikosten, Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Bern 2001, S. 168), hat der Gesuchsteller dem kantonalen Gericht nicht mitgeteilt. Es stellt sich daher die Frage, ob es sich um ein unzulässiges Novum handelt.
 
Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts ist die Bedürftigkeit auf Grund der wirtschaftlichen Verhältnisse zu beurteilen, wie sie bei Erlass des kantonalen Entscheids bestanden hat (BGE 108 V 269 Erw. 4; RKUV 2000 Nr. KV 119 S. 155 Erw. 2). Das kantonale Gericht ist daher im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes gehalten, der Entwicklung des Sachverhalts bis zu diesem Zeitpunkt Rechnung zu tragen und die notwendigen Abklärungen zu treffen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen). Im Rahmen des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege hat der Gesuchsteller seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse umfassend darzustellen und soweit möglich zu belegen. Kommt er seinen Obliegenheiten nicht nach, ist das Gesuch abzuweisen (BGE 125 IV 165 Erw. 4a, 120 Ia 182 Erw. 3a in fine).
 
Mit Schreiben vom 24. Oktober 2005 reichte die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers das vom kantonalen Gericht angeforderte Zeugnis des Gemeinderats vom 21. Oktober 2005 ein, welcher den Sachverhalt abgeklärt hatte und zum Schluss gekommen war, dass "die Einkünfte des Gesuchstellers unter dem um 20% erhöhten betreibungsrechtlichen Existenzbedarf liegen", weshalb dieser nicht in der Lage sei, die Prozesskosten ohne erhebliche Beeinträchtigung des für sich und seine Familie notwendigen Unterhalts zu bestreiten. Die Vorinstanz hat ausgabenseitig die Angaben im Zeugnis des Gemeinderats (mit Ausnahme der Prämien für die Hausrat- und Privathaftpflichtversicherung sowie den Mitgliederbeitrag an den Fussballverein) ohne zusätzliche Abklärungen übernommen, indessen den prozessualen Zuschlag von 25% (zutreffend) nur auf den Grundbeträgen, statt dem gesamten Notbedarf gewährt. Unter diesen Umständen musste der Beschwerdeführer nicht ohne weiteres damit rechnen, dass das kantonale Gericht das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abschlägig beurteilen werde. Es ist daher nachvollziehbar, dass er es unterliess, die Vorinstanz von der Fremdbetreuung bei einer Tagesmutter ab November 2005 zu orientieren. Nach dem Gesagten handelt es sich bei den letztinstanzlich erstmals geltend gemachten Auslagen für die Fremdbetreuung des Kindes um ein zulässiges Novum. Die Sache ist zur Prüfung dieses Umstands und damit erneuter Beurteilung der Bedürftigkeit sowie gegebenenfalls der übrigen Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung (keine offensichtliche Aussichtslosigkeit der Beschwerde und Gebotenheit der Verbeiständung) an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
 
5.
 
Gemäss Praxis (SVR 1994 IV Nr. 29 S. 76 Erw. 4) werden in Verfahren, welche die Frage der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für den kantonalen Prozess zum Gegenstand haben, keine Gerichtskosten erhoben. Zufolge Obsiegens steht dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Diese geht zu Lasten des Kantons Aargau, da der Gegenpartei im Verfahren um die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege keine Parteizustellung zukommt (RKUV 1994 Nr. U 184 S. 78 Erw. 5). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im letztinstanzlichen Prozess gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Zwischenentscheid vom 24. Januar 2006 aufgehoben, und es wird die Sache an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit dieses, unter Berücksichtigung der Erw. 4.2 und 4.3 sowie nach erfolgter Prüfung im Sinne der Erw. 4.4, über den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung neu befinde.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 9. Mai 2006
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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