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Informationen zum Dokument  BGer 6P.1/2006  Materielle Begründung
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BGer 6P.1/2006 vom 09.06.2006
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6P.1/2006
 
6S.487/2005 /bri
 
Urteil vom 9. Juni 2006
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd.
 
Gerichtsschreiber Näf.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Adriel Caro,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8090 Zürich,
 
Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Postfach, 8023 Zürich.
 
Gegenstand
 
6P.1/2006
 
Art. 9, 29 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a EMRK (Strafverfahren; Anklagegrundsatz, rechtliches Gehör, willkürliche Beweiswürdigung)
 
6S.487/2005
 
Widerhandlung gegen das BG gegen den unlauteren Wettbewerb (Art. 3 lit. b i.V.m. Art. 23 UWG),
 
Staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 17. Oktober 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 20. Juni 2003, um ca. 14.15 Uhr, betrat A.________ in Begleitung ihres Ehegatten das Geschäftslokal der Firma B.________ AG in Dietlikon. Sie wollte unter Hinweis auf das vor dem Geschäftslokal aufgestellte Werbeplakat die darauf in Vergrösserung fotografisch abgebildeten Gegenstände, nämlich eine Kamera "Canon, Typ Ixus" samt Drucker "Canon, Typ CP 300", zu dem auf dem Plakat angegebenen Preis von Fr. 598.-- kaufen. Der Verkäufer und hernach der Geschäftsführer X.________ gaben ihr zu verstehen, dass die fraglichen Gegenstände Fr. 1'437.-- kosteten. Für den Preis von Fr. 598.-- seien lediglich eine Kamera "Canon, Typ A300" mit Drucker "Canon, Typ i450" erhältlich. A.________ verliess in Begleitung ihres Ehemannes unter Protest das Geschäftslokal und erstattete unverzüglich Strafanzeige. Als der Polizeibeamte gleichentags, um ca. 16.00 Uhr, vor dem Ladengeschäft erschien, war dort ein anderes Plakat aufgestellt. Das Werbeplakat, durch welches sich A.________ angesprochen gefühlt hatte, war nicht mehr vorhanden.
 
Bereits tags zuvor, am 19. Juni 2003, hatte ein Kunde, der unbekannt geblieben ist, unter Hinweis auf die Anpreisung auf dem Werbeplakat die darauf abgebildeten Gegenstände zum angegebenen Preis erwerben wollen. Jener Kunde hatte die Erklärung des Geschäftsführers X.________, dass ein "Missverständnis" vorliege und die Fotografien auf dem Plakat bloss als "Symbolbilder" zur Illustration der neuen Technik des "direct prints" (ohne Computer) zu verstehen seien, akzeptiert. Das fragliche Werbeplakat hatte seit ca. Mitte Juni 2003 während den Öffnungszeiten des Geschäfts vor dem Ladenlokal gestanden.
 
B.
 
Das Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, verurteilte X.________ am 17. Oktober 2005 in Bestätigung des Entscheids der Einzelrichterin in Strafsachen des Bezirkes Zürich vom 2. März 2005 wegen unlauteren Wettbewerbs im Sinne von Art. 23 i.V.m. Art. 3 lit. b UWG zu einer Busse von 1'000 Franken, bedingt vorzeitig löschbar bei einer Probezeit von einem Jahr. Das Schadenersatzbegehren von A.________ wurde auf den Weg des Zivilprozesses verwiesen. Ihr Genugtuungsbegehren wurde abgewiesen.
 
C.
 
X.________ ficht das Urteil des Obergerichts mit staatsrechtlicher Beschwerde und mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde an. Mit beiden Rechtsmitteln beantragt er dessen Aufhebung, mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde beantragt er zudem die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz.
 
D.
 
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft haben auf Gegenbemerkungen verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
I. Staatsrechtlliche Beschwerde
 
1.
 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anklagegrundsatzes und damit zusammenhängend seiner Verteidigungsrechte (Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. a EMRK; § 185 StPO/ZH).
 
1.1 Der Anklagegrundsatz dient dem Schutz der Verteidigungsrechte des Angeklagten und konkretisiert insofern das Prinzip der Gehörsgewährung (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 6 EMRK). Nach diesem Grundsatz bestimmt die Anklage das Prozessthema. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens können mithin nur Sachverhalte sein, die dem Angeklagten in der Anklageschrift vorgeworfen werden. Diese muss die Person des Angeklagten sowie die ihm zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise umschreiben, dass die Vorwürfe im objektiven und subjektiven Bereich genügend konkretisiert sind (Umgrenzungsfunktion). An diese Anklage ist das Gericht gebunden. Die Anklage fixiert somit das Verfahrens- und Urteilsthema (Immutabilitätsprinzip). Zum andern vermittelt sie dem Angeschuldigten die für die Durchführung des Verfahrens und die Verteidigung notwendigen Informationen (Informationsfunktion). Sie dient insofern dem Schutz der Verteidigungsrechte des Angeklagten (zum Ganzen BGE 126 I 19 E. 2a; 120 IV 348 E. 2b und c; 116 Ia 455 E. 3a/cc; Urteil 6P.151/2002 vom 5. März 2003, E. 2, je mit Hinweisen).
 
1.2
 
1.2.1 Die Anklage wirft dem Beschwerdeführer unlauteren Wettbewerb im Sinne von Art. 23 i.V.m. Art. 3 lit. b UWG vor, begangen dadurch, dass er vorsätzlich irreführende Angaben über den Preis seiner Waren gemacht habe. In der Anklageschrift vom 15. November 2004 wird der Sachverhalt wie folgt beschrieben:
 
"Der Angeklagte liess als verantwortlicher Geschäftsführer der Firma .... ein Werbeplakat vor den Verkaufsräumlichkeiten ... aufstellen. Auf diesem Werbeplakat wurde mittels der Abbildung von vergrösserten Fotos eine Kamera der Marke 'Canon, Typ Ixus' samt einem Drucker der Marke 'Canon, Typ CP 300' als Gesamtpaket für einen Preis von Fr. 598.-- angeboten.
 
Dies veranlasste der Geschäftsführer im Wissen darum, dass für den Preis von Fr. 598.-- nicht die abgebildete Kamera inklusive Drucker zu verkaufen war, sondern vielmehr eine qualitativ und leistungsmässig nicht dem Angebot entsprechende Kamera der Marke 'Canon, Typ A 300' mit Drucker 'Canon ,Typ i450'".
 
1.2.2 Das Obergericht hält in seinen Ausführungen zum objektiven Tatbestand unter anderem fest, der Beschwerdeführer habe als Geschäftsführer im Mandatsverhältnis nicht nur "faktisch massgeblich mitbestimmt", dass das ursprüngliche irreführende Plakat vor dem Geschäft aufgestellt worden sei, sondern er sei vielmehr auch "massgeblich mitverantwortlich" gewesen, dass das ursprüngliche Plakat nach dem Besuch des unbekannten Kunden am Abend des 19. Juni 2003 nicht abgeändert worden sei. Letztlich sei er dann "massgebend dafür verantwortlich" gewesen, dass das ursprüngliche Plakat nach dem Besuch des Ehepaars A.________ geändert worden sei (angefochtenes Urteil S. 40). In seinen Erwägungen zum subjektiven Tatbestand hält das Obergericht unter anderem fest, der Beschwerdeführer habe nach dem Vorfall mit dem unbekannten Kunden vom 19. Juni 2003 gewusst, dass das Werbeplakat irreführend sei. Gleichwohl habe er nichts unternommen, um das 'Missverständnis', wie er es genannt habe, zu beheben, obschon dies klarerweise in seinem Verantwortungsbereich als Geschäftsführer (im Mandatsverhältnis) gelegen hätte. Er habe weder selbst das Plakat korrigiert noch die Mitarbeiter zu einer Korrektur angewiesen. Er habe auch keine Anweisung gegeben, das missverständliche Plakat nicht mehr vor das Geschäft zu stellen. Ob er am Vormittag des 20. Juni 2003 bei der Öffnung des Ladens das Plakat selber auf das Trottoir gestellt habe oder ob er es von einem Mitarbeiter wieder dorthin habe stellen lassen, sei ohne Belang. Entscheidend sei, dass der Beschwerdeführer trotz Kenntnis des Vorfalls vom Abend des 19. Juni 2003 nichts unternommen habe, obschon dies zu seinem Aufgabenbereich als Geschäftsführer gehört hätte (angefochtenes Urteil S. 44 f.; siehe ferner die Erwägungen des Obergerichts betreffend den "Handlungsstörer" und den "Zustandsstörer", angefochtenes Urteil S. 12, 14).
 
1.3 Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, das Obergericht lege ihm eine Unterlassung zur Last, während ihm in der Anklageschrift eine Handlung vorgeworfen werde. Der angefochtene Entscheid weiche somit im beurteilten Sachverhalt von der Anklageschrift ab und verletze daher den Anklagegrundsatz.
 
1.4
 
1.4.1 Das Obergericht begründet den Eventualvorsatz des Beschwerdeführers im Wesentlichen unter Hinweis auf den Vorfall mit dem unbekannten Kunden vom 19. Juni 2003. Aufgrund dieses Vorfalls und somit nach diesem Ereignis habe er in Kauf genommen, dass die Angaben auf dem Werbeplakat irreführend waren. Das Obergericht stellt nicht fest, der Beschwerdeführer habe in der Folge, am 20. Juni 2003, das Plakat gleichwohl selber wieder aufgestellt. Es stellt auch nicht fest, er habe einen Mitarbeiter angewiesen, das Plakat wieder aufzustellen, er habe mithin - im Sinne der Anklage und entsprechend den Ausführungen im erstinstanzlichen Entscheid (S. 7/8, E. 3.2) - das irreführende Plakat aufstellen lassen. Das Obergericht hält lediglich fest, dass der Beschwerdeführer trotz des ihm bekannten Vorfalls vom 19. Juni 2003 nichts unternahm, dass er in der Folge weder die Aufstellung des irreführenden Plakats verhinderte noch dessen Korrektur veranlasste, wozu er als Geschäftsführer verpflichtet gewesen wäre. Das Obergericht wirft dem Beschwerdeführer mithin eine Unterlassung vor.
 
Von einer solchen Unterlassung ist indessen in der Anklageschrift nicht die Rede, worin denn auch der Vorfall vom 19. Juni 2003 überhaupt nicht erwähnt wird. In der Anklageschrift wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, dass er das fragliche Werbeplakat "aufstellen liess" und dass er dies "veranlasste" im Wissen darum, dass für den genannten Preis nicht die abgebildeten, sondern weniger leistungsfähige Gegenstände erhältlich waren. Damit wird dem Beschwerdeführer ein Tun vorgeworfen. Die Umschreibung des Anklagesachverhalts kann vernünftigerweise nicht etwa auch in dem Sinne verstanden werden, dass der Beschwerdeführer die Aufstellung des irreführenden Werbeplakats zugelassen, d.h. nicht verhindert habe.
 
1.4.2 Umschreibt die Anklageschrift das dem Angeklagten vorgeworfene strafbare Verhalten als aktives Tun, verletzt ein Schuldspruch wegen (unechter) Unterlassung den Anklagegrundsatz (siehe nicht publiziertes Urteil 6P.151/2002 vom 5. März 2002; vgl. ferner BGE 116 Ia 202 E. 2 betreffend die Anforderungen an die Umschreibung der Garantenstellung in der Anklageschrift).
 
Der vom Obergericht beurteilte Sachverhalt weicht vom Anklagesachverhalt im Übrigen nicht nur geringfügig ab, zumal die Anklageschrift den Vorfall vom 19. Juni 2003, auf welchen das Obergericht massgeblich abstellt, überhaupt nicht erwähnt, wodurch die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschwerdeführers eingeschränkt wurden.
 
1.5 Die kantonalen Akten enthalten keine Hinweise, die dafür sprechen, dass der Beschwerdeführer im Verlauf des Verfahrens darauf aufmerksam gemacht worden ist, dass die ihm vorgeworfene Straftat auch unter dem Gesichtspunkt des unechten Unterlassungsdelikts geprüft werde.
 
1.6 Die staatsrechtliche Beschwerde ist demnach wegen Verletzung des Anklagegrundsatzes gutzuheissen und der Entscheid des Obergerichts aufzuheben. Damit erübrigt sich die Beurteilung der weiteren in der staatsrechtlichen Beschwerde erhobenen Rügen.
 
II. Nichtigkeitsbeschwerde
 
2.
 
Da das angefochtene Urteil in Gutheissung der staatsrechtlichen Beschwerde aufgehoben wird, ist die vom Beschwerdeführer ebenfalls erhobene eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde gegenstandslos geworden und daher abzuschreiben.
 
III. Kosten
 
3.
 
Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde werden keine Kosten erhoben und hat der Kanton Zürich dem obsiegenden Beschwerdeführer eine Entschädigung auszurichten (Art. 156 Abs. 2, Art. 159 Abs. 2 OG). Für das Verfahren der gegenstandslos gewordenen eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde werden praxisgemäss keine Kosten erhoben und keine Entschädigung zugesprochen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 17. Oktober 2005 aufgehoben.
 
2.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird als gegenstandslos geworden am Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.
 
Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu zahlen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 9. Juni 2006
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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