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Informationen zum Dokument  BGer I 65/2006  Materielle Begründung
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BGer I 65/2006 vom 03.08.2006
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess {T 7}
 
I 65/06
 
Urteil vom 3. August 2006
 
IV. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Schön; Gerichtsschreiber Grunder
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
L.________, 1998, Beschwerdegegnerin, handelnd durch ihre Eltern, und diese vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten,
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, Glarus
 
(Entscheid vom 15. Dezember 2005)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 28. Mai 2003, bestätigt im Einspracheentscheid vom 6. Juni 2003, lehnte die IV-Stelle Glarus ein Leistungsbegehren der 1998 geborenen, an einer kongenitalen (nemalinen) Myopathie mit ausgeprägter Muskelschwäche (Ziff. 184 GgV Anhang) leidenden L.________ um Abgabe des Therapiegerätes Giger MD medical device kid ab. In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde stellte das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus fest, die Versicherte habe Anspruch auf Abgabe oder Vergütung der Anschaffungskosten des beantragten Therapiegerätes und wies die Sache zur Festsetzung der Leistungen an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 8. Juni 2004). Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führte Verwaltungsgerichtsbeschwerde, welche das Eidgenössische Versicherungsgericht insoweit guthiess, dass der vorinstanzliche Entscheid aufgehoben und die Sache an das kantonale Gericht zurückgewiesen wurde, damit es, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu entscheide (Urteil vom 14. Februar 2005, I 373/04).
 
B.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus holte einen Bericht des Dr. med. K.________, Leitender Arzt, Pädiatrische Klinik des Spitals X.________, vom 20. September 2005 ein und führte einen Schriftenwechsel durch. In Gutheissung der Beschwerde hob es die Verfügung der IV-Stelle vom 28. Mai 2003 sowie den Einspracheentscheid vom 6. Juni 2003 auf und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese Kostengutsprache für das beantragte Therapiegerät erteile und im Sinne der Erwägungen neu verfüge (Entscheid vom 15. Dezember 2005).
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt das BSV das Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
 
L.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen und mit einer weiteren Eingabe einen Bericht des Dr. med. K.________ vom 15. März 2006 auflegen. Die IV-Stelle Glarus verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Eidgenössische Versicherungsgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht.
 
2.
 
Streitig ist, ob die IV-Stelle das im Rahmen der ärztlich verordneten Physiotherapie eingesetzte Therapiegerät Giger MD medical device kid an die Beschwerdegegnerin abzugeben hat.
 
3.
 
3.1 Anfechtbar ist grundsätzlich nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides. Verweist indessen das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen, werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Dementsprechend sind die Motive, auf die das Dispositiv verweist, für die Behörde, an die die Sache zurückgewiesen wird, verbindlich (BGE 120 V 237 Erw. 1a, 117 V 241 Erw. 2a). Bezüglich der Bundesrechtspflege bestimmt das Gesetz dies für Zivil- und Strafsachen ausdrücklich (Art. 66 OG, Art. 277ter BStP), doch gilt dieser Grundsatz ebenfalls, wenn über eine verwaltungsrechtliche Streitigkeit zu befinden ist (BGE 117 V 241 Erw. 2a mit Hinweisen). Die genannten Bestimmungen beruhen auf dem Gedanken, dass die betreffende Rechtsfrage für den konkreten Streitfall als endgültig entschieden zu gelten hat, wie dies bei einem letztinstanzlichen Endurteil der Fall ist. Wird der neue Entscheid der unteren Instanz wiederum weitergezogen, so ist das Eidgenössische Versicherungsgericht an die Erwägungen gebunden, mit denen es die Rückweisung begründet hat (vgl. BGE 111 II 94, 99 II Ib 520 Erw. 1b, 94 I S. 388; RKUV 1999 Nr. U 331 S. 126 Erw. 2).
 
3.2 Gemäss Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 14. Februar 2005 bildet die in engem Zusammenhang mit der ärztlich verordneten Physiotherapie stehende und als Bestandteil derselben zu betrachtende Installation des umstrittenen Gerätes zu Hause eine einfache und zweckmässige Massnahme im Sinne von Art. 2 Abs. 3 GgV. Die Versicherte ist in der Lage, täglich mehrmals ohne Aufsicht zu üben, wobei das vermehrte aktive Training massgeblich zur Prophylaxe sowie Besserung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen beiträgt. Die Häufigkeit von Sitzungen bei der Physiotherapeutin, ärztlichen Konsultationen und Spitalaufenthalten konnte deutlich reduziert werden, was zu einer erheblichen Kostensenkung geführt hat. Daher ist anzunehmen, dass die Kosten der Anschaffung des Giger-Geräts in einem vernünftigen Verhältnis zum Eingliederungserfolg stehen (Erw. 2.2). Hiegegen konnte die Frage, ob die Therapie einer nemalinen Myopathie mit dem Giger-Gerät eine Vorkehr darstellt, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt ist (Art. 2 Abs. 3 GgV), aufgrund der Akten nicht abschliessend beurteilt werden (Erw. 2.4). Das Eidgenössische Versicherungsgericht wies die Sache aus diesem Grunde an die Vorinstanz zurück, damit sie "nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen" über den Anspruch neu entscheide.
 
4.
 
Nach der Rechtsprechung gilt eine Behandlungsart dann als bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft entsprechend, wenn sie von Forschern und Praktikern auf breiter Basis anerkannt ist. Das Schwergewicht liegt auf der Erfahrung und dem Erfolg im Bereich einer bestimmten Therapie (BGE 115 V 195 Erw. 3b, 123 V 58 Erw. 2b/aa, je mit Hinweisen; AHI 2001 S. 76 Erw. 1b).
 
5.
 
5.1 Die Vorinstanz ist gestützt auf die Stellungnahme des Dr. med. K.________ vom 20. September 2005 zum Schluss gelangt, die Behandlung mit dem Giger-Gerät stelle eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft wirksame Therapie dar.
 
Demgegenüber bringt das BSV vor, es beständen keine systematischen medizinischen Studien, welche belegten, dass der Einsatz des Giger-Geräts bei Versicherten mit nemaliner Myopathie zur Erhaltung oder Besserung des Gesundheitszustandes führte. Dr. med. K.________ ziehe aus den von ihm zitierten Studien lediglich Analogieschlüsse auf die Wirksamkeit dieses Instruments.
 
5.2
 
5.2.1 Im Urteil vom 14. Februar 2005 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht darauf hingewiesen, dass es sich mit der Frage, ob der Einsatz eines Giger-Geräts eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft anerkannte Behandlungsmethode darstellt, bislang in zwei Fällen (Urteile Sch. vom 31. März 2004, I 265/01 und W. vom 2. August 2004, I 721/03) zu befassen hatte. Im erstgenannten Urteil hat es die wissenschaftliche Anerkennung dieser Geräte nicht ausdrücklich beurteilt, jedoch auf eine Stellungnahme des Dr. med. habil., Dr. rer. nat., Dipl. Ing. Schalow, sowie verschiedene Beiträge von Schalow/Zäch, in: Physiotherapie 1999, Zeitschrift des Schweizerischen Physiotherapeuten-Verbandes (SPV), Sonderdruck und die Fallstudie von Schalow/Kuntoutuskeskus/Nyffeler, in: Physiotherapie 2000/2001, S. 3ff., verwiesen. Demnach handelt es sich beim Giger-Gerät um eine spezielle Vorrichtung zur Durchführung der Koordinationsdynamik-Therapie, die auf einfache Weise koordinierte Bewegungen von Armen, Beinen und Rumpf erlauben. Diese Behandlungsart beruht auf nunmehr rund 20-jähriger human-neurophysiologischer Forschungsarbeit und ist die einzige Methode der Wiederherstellung von Funktionen des Zentralnervensystems (ZNS), die eine anerkannt-wissenschaftliche Grundlage hat. Gestützt darauf hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im zweitgenannten Urteil festgestellt, dass die Giger-Geräte in Institutionen (Kliniken, Rehabilitationszentren, Spezialpraxen) sowie bei Physiotherapeuten, Ärzten und Privatpersonen verbreitet Anwendung finden und wissenschaftliche Studien für deren Wirksamkeit bestehen, weshalb es die Frage bejahte, ob es sich bei der Behandlung mit diesen Instrumenten um eine nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Massnahme handelt. Vorliegend geht es indessen nicht um Störungen des Zentralnervensystems, sondern um eine Muskelerkrankung ohne motorische Ausfälle, weshalb die Schlussfolgerungen im Urteil W. vom 2. August 2004 nicht ohne weiteres übertragbar sind.
 
5.2.2 Gemäss dem vorinstanzlich eingeholten Bericht des Dr. med. K.________ vom 20. September 2005 ist die Wirksamkeit des repetitiv-zyklischen muskelkräftigenden Trainings (täglich während 20 bis 30 Minuten) auf dem Giger MD Koordinationsdynamikgerät (liegend) bei zentralen ZNS-Läsionen und anderen zerebralen sowie hirnorganischen Störungen wissenschaftlich anerkannt. Untersuchungen mit an nemaliner Myopathie leidenden Mäusen hätten gezeigt, dass Immobilisation zu Muskelfieberatrophie und schwerer Muskelschwäche führe, welche aber durch regelmässiges, muskelkräftigendes tägliches Training wieder rückgängig gemacht werden könnten (Joya JE, Kee AJ, Nair-Shalliker V, Ghoddusi M, Nguyen MA, Luther P, Hardermann EC. Muscle weakness in a mouse model of nemaline myopathy can be reversed with exercise an reveals a novel myofiber repair mechanisme. Hum Mol Genet. 2004 Nov 1; 13:2633-45). Alleiniges Dehnen der sich verkürzenden Muskulatur habe hingegen keine Verbesserung der Muskelkraft zur Folge. Die Befunde aus dem Maus-Modell seien in einer Patientenstudie bestätigt worden: Regelmässiges muskelkräftigendes Ausdauertraining bei Patienten mit Myosin-Myopathie leiste einen wichtigen Beitrag bezüglich der veränderten Gen-Expression mit geschädigten Muskelfasern (Tajshargi H et al., Induced shift in myosin heavy chain expression in myosin myopathy by endurance training, J. Neurol. 2004 Feb; 251:179-83). Angesichts des in Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Befunden stehenden Umstandes, dass sich der Gesundheitszustand der Versicherten mit dem täglichen Einsatz des Giger-Gerätes deutlich gebessert habe, müsse diese Behandlungsart als kausal wirksame Therapie bezeichnet werden.
 
Im letztinstanzlich aufgelegten Bericht vom 15. März 2006 verdeutlicht der Experte, dass jede Therapie, welche die Muskelkraft am ganzen Körper fördert, bei an nemaliner Myopathie erkrankten Patienten wirksam ist. Die Studie Tajshargi et al. 2004 zeige auf, dass das regelmässige Muskeltraining mit "Total Body Involvement" bei Myopathien und Muskeldistrophien von grosser Bedeutung sei. Das Giger-Gerät sei diesbezüglich besonders geeignet, indem es ein gleichzeitiges, gut dosierbares und die Muskeln kräftigendes Training aller Extremitäten sowie des Rumpfes in liegender Position ermögliche.
 
5.3 Aufgrund dieser Angaben ist erstellt, dass in der medizinischen Wissenschaft die Wirksamkeit muskelkräftigender Therapie bei an nemaliner Myopathie leidenden Personen anerkannt ist. Der Einwand des BSV, die Studie Tajshargi et al. 2004 beziehe sich auf an myosiner Myopathie erkrankte Personen, weshalb Dr. med. K.________ einen nicht begründeten Analogieschluss ziehe, ist nicht stichhaltig. Wie dieser Arzt im Bericht vom 15. März 2006 darlegt, unterscheiden sich die verschiedenen Formen von Myopathien und Muskeldystrophien bezüglich ihres Ansprechens auf eine am ganzen Körper ansetzende, die Muskeln kräftigende Therapie nicht grundsätzlich, weshalb Analogieschlüsse durchaus zulässig sind. Zum weiteren Einwand in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, es lägen keine wissenschaftlich fundierten Studien einer erfolgswirksamen Behandlung mit dem Giger-Gerät vor, ist zunächst auf das Urteil W. vom 2. August 2004, I 721/03, und die darin zitierte medizinische Literatur (vgl. Erw. 4.2.1 oben) sowie die von Dr. med. K.________ im Bericht vom 15. März 2006 erwähnte weitere Referenz (Schalow G, Jaigma P. Cerebral palsy improvement achieved by coordination dynamics therapy. Electromyogr Clin Neurophysiol. 2005; 45;433-45) hinzuweisen, welche die muskelkräftigende Wirkung der Therapie mit dem genannten Instrument (bei am Nervensystem erkrankten Patienten) wissenschaftlich belegen. Schliesslich gelingt es gemäss dem im Verfahren I 373/04 (Urteil vom 14. Februar 2005) aufgelegten Bericht des Thomas Nyffeler, Schw. dipl. Physiotherapeut, Cham, vom 29. August 2004, mit dem Therapieinstrument Giger die meistens bereits gehunfähigen, an Muskeldystrophien und Myopathien leidenden Patienten bei täglichem Training wieder zu mobilisieren.
 
5.4 Aufgrund des Gesagten ist festzustellen, dass das im Rahmen der ärztlich verordneten Physiotherapie bei der an nemaliner Myopathie leidenden Beschwerdegegnerin zur Anwendung gebrachte Therapiegerät Giger MD medical device kid wissenschaftlich nachgewiesen erfolgswirksam ist und in der Praxis zur Behandlung solcher Krankheiten verbreitet eingesetzt wird. Der vorinstanzliche Entscheid ist daher nicht zu beanstanden.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, der IV-Stelle Glarus und der Kantonalen Ausgleichskasse Glarus zugestellt.
 
Luzern, 3. August 2006
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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