VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1P.250/2006  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1P.250/2006 vom 31.08.2006
 
Tribunale federale
 
{T 1/2}
 
1P.250/2006
 
1P.264/2006 /scd
 
Urteil vom 31. August 2006
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Nay, Aeschlimann
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
Parteien
 
1P.250/2006
 
1. Daniel Pensa,
 
2. Fabrizio Visinoni,
 
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Metzger,
 
sowie
 
1P.264/2006
 
Mario Pfiffner, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Alexander Blöchlinger,
 
gegen
 
Gemeinde Silvaplana, 7513 Silvaplana, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otmar Bänziger,
 
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden,
 
1. Kammer, Obere Plessurstrasse 1, 7000 Chur.
 
Gegenstand
 
Gemeindeversammlungsbeschlüsse; Staatsrechtliche Beschwerden gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 1. Kammer,
 
vom 17. März 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Gemeindeversammlung Silvaplana beschloss am 30. November 2005 auf Antrag des Gemeindevorstands, ein Wohnbauprojekt der Katholischen Kirche aus dem Erstwohnungsfonds zu unterstützen. Ausserdem beschloss sie auf Antrag von Claudia Troncana, den vom Gemeindevorstand dafür vorgeschlagenen Beitrag von 1,2 auf 2 Mio. Franken zu erhöhen.
 
B. 1P.264/2006
 
Am 8. Dezember 2005 erhob Mario Pfiffner Abstimmungsbeschwerde mit dem Antrag, diese Beschlüsse aufzuheben. Botschaft und Antrag seien unklar gewesen, sodass die Stimmberechtigten nicht genau gewusst hätten, worüber sie abgestimmt hätten. Der Antrag auf Erhöhung des Beitrages auf 2 Mio. Franken sei nicht traktandiert gewesen, weshalb sich jene Stimmberechtigten, die an der Gemeindeversammlung nicht teilgenommen hätten, sich dazu gar nicht hätten äussern können.
 
Mit Urteil V 05 8 vom 17. März 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden die Beschwerde ab.
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 3. Mai 2006 wegen Verletzung von politischen Rechten beantragt Mario Pfiffner, das verwaltungsgerichtliche Urteil aufzuheben.
 
Die Gemeinde Silvaplana und das Verwaltungsgericht beantragen in ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen.
 
C. 1P.250/2006
 
Am 19. Dezember 2005 erhoben Daniel Pensa und Fabrizio Visinoni Abstimmungsbeschwerde mit dem Antrag, diese Beschlüsse aufzuheben. Botschaft und Antrag seien unklar gewesen, sodass die Stimmberechtigten nicht genau gewusst hätten, worüber sie abgestimmt hätten. Zudem sei der Ablauf der Abstimmung nicht korrekt gewesen: Nach der Abstimmung über die Rückweisungsanträge hätte man entgegen dem Vorgehen des Gemeinderats zunächst über die Abänderungsanträge und dann erst über den Hauptantrag abstimmen müssen.
 
Mit Urteil V 05 9 vom 17. März 2006 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden die Beschwerde ab.
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 28. April 2006 wegen Verletzung von politischen Rechten beantragen Daniel Pensa und Fabrizio Visinoni, das verwaltungsgerichtliche Urteil aufzuheben.
 
Die Gemeinde Silvaplana und das Verwaltungsgericht beantragen in ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Die beiden Verfahren stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang, was sich schon daraus ergibt, dass sowohl die beiden angefochtenen Urteile als auch die Rechtsschriften aller Beteiligten über weite Strecken identisch sind. Es rechtfertigt sich daher, die Verfahren zu vereinigen.
 
2.
 
Auf Stimmrechtsbeschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG hin beurteilt das Bundesgericht Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger in kantonalen Angelegenheiten. Als kantonal gelten auch Wahlen und Abstimmungen in Gemeinden (BGE 119 Ia 167 E. 1a). Die Beschwerdeführer sind in Silvaplana stimmberechtigt und daher befugt, die Durchführung der Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 anzufechten (BGE 121 I 357 E. 2a; 120 Ia 194 E. 1c). Die angefochtenen Entscheide des Verwaltungsgerichts unterliegt keinem kantonalen Rechtsmittel und sind damit taugliche Anfechtungsobjekte (Art. 86 Abs. 1 OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.
 
3.
 
Das in Art. 34 Abs. 2 BV als Grundrecht verankerte Stimmrecht gibt dem Bürger allgemein den Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt (BGE 125 I 441 E. 2a; 124 I 55 E. 2a; 121 I 138 E. 3).
 
Auf Stimmrechtsbeschwerde hin prüft das Bundesgericht die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Recht aller Stufen, das den Inhalt des Stimmrechts umschreibt oder mit diesem in engem Zusammenhang steht, mit freier Kognition. In ausgesprochenen Zweifelsfällen schliesst es sich allerdings der von der obersten kantonalen Behörde vertretenen Auffassung an, sofern es sich dabei um das Parlament oder das Volk handelt (BGE 129 I 185 E. 2; 118 Ia 422 E. 1e; 113 Ia 390 E. 3 mit Hinweisen).
 
4.
 
4.1 Die Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 erhöhte den vom Gemeinderat aus dem Erstwohnungsfonds für ein Projekt der katholischen Kirche beantragten Beitrag von 1,2 Mio. auf 2 Mio. Franken. Die Beschwerdeführer machen geltend, dieser Beschluss verstosse sowohl gegen die Traktandierungspflicht von Art. 12 des kantonalen Gemeindegesetzes vom 28. April 1974 (GG) als auch gegen den in Art. 9 BV verankerten Grundsatz von Treu und Glauben und habe damit ihr Stimmrecht verletzt. Die Traktandierungspflicht beeinhalte, den Abstimmungsgegenstand so präzise festzulegen, dass sich die Stimmberechtigten ein Bild von der Bedeutung der Vorlage machen könnten. Zu den wesentlichen Punkten einer Vorlage, die in den Abstimmungsunterlagen enthalten sein müssten, gehöre auch die Kredithöhe: Die Gemeindeversammlung sei nur befugt, einen beantragten Kredit zu kürzen, nicht aber, ihn zu erhöhen. Ein solches Vorgehen widerspreche auch dem Grundsatz von Treu und Glauben: So habe der Beschwerdeführer des Verfahrens 1P.264/2006 an der Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 nicht teilgenommen, weil er mit dem gemeinderätlichen Antrag habe leben können. Hätte er damit rechnen müssen, dass die Gemeindeversammlung den beantragten Kredit massiv aufstocken würde, hätte er diese besucht und sich diesem Abänderungsantrag widersetzt. Indem die Gemeindeversammlung über etwas anderes - nämlich über einen Beitrag von 2 Mio. Franken anstatt über einen solchen von 1,2 Mio. Franken - abgestimmt habe, als traktandiert und in den Abstimmungsunterlagen veröffentlicht worden sei, habe sie im Ergebnis das Stimmrecht der Beschwerdeführer verletzt.
 
4.2 Nach Art. 12 Abs. 2 GG darf die Gemeindeversammlung nur über Verhandlungsgegenstände abstimmen, die in der mindestens 5 Tage zuvor bekannt gegebenen Traktandenliste verzeichnet sind. Das Verwaltungsgericht hat dazu in den angefochtenen Entscheiden ausgeführt (E. 3 S. 6), dies bedeute keineswegs, dass die Stimmberechtigten zu traktandierten Geschäften keine Abänderungsanträge stellen dürften. Weder sei eine solche Einschränkung im Gemeindegesetz vorgesehen, noch liesse sich dies mit dem hohen Stellenwert vereinbaren, den die Versammlungsdemokratie in Graubünden geniesse. Mit Blick auf die Traktandierungspflicht sei lediglich erforderlich, dass Abänderungsanträge in einem hinreichend engen Sachzusammenhang zum traktandierten Geschäft stünden, sodass nicht faktisch über eine neue, nicht traktandierte Vorlage abgestimmt werde.
 
4.3 Die Beschwerdeführer bringen nichts vor, was diese zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts in Frage stellen würde. In der Befugnis der Stimmberechtigten, gemeinderätliche Vorlagen zu diskutieren und abzuändern, liegt ja gerade der Sinn der Versammlungsdemokratie, ihr "demokratischer Mehrwert" gegenüber der Urnendemokratie, bei welcher der Stimmbürger eine Vorlage bloss annehmen oder verwerfen kann. Schranke bildet selbstverständlich die Identität der Vorlage, d.h. dass Abänderungsanträge nicht dazu missbraucht werden dürfen, Ziele zu verwirklichen, die mit der urspünglichen Vorlage nicht in einem engen Sachzusammenhang stehen und mit denen die Stimmberechtigten daher anhand der Traktandenliste nicht rechnen mussten. Es lässt sich indessen nicht im Ernst behaupten, die Aufstockung eines Kredites zur Wohnbauförderung von 1,2 auf 2 Mio. Franken sprenge die Identität der gemeinderätlichen Vorlage; dies ist eine Abänderung derselben, mit denen die Stimmberechtigten auf Grund der publizierten Traktandenliste rechnen mussten. Es kann daher keine Rede davon sein, dass die Stimmberechtigten, die nach Lektüre der Traktandenliste auf eine Teilnahme an der Gemeindeversammlung verzichteten, durch die Annahme dieses Abänderungsantrages treuwidrig an der Ausübung ihrer politischen Rechte gehindert worden sind. Das von den Beschwerdeführern vorgebrachte Argument, wenn man derartige Abänderungsanträge auf eine Erhöhung von Beiträgen zuliesse, hätte die Gemeindeversammlung vom 30. November 2005 auch die gesamten Mittel des Fonds zur Förderung des Erstwohnungsbaus von über 7 Mio. Franken für diese Vorlage ausgeben dürfen, geht offensichtlich fehl: Ein derartiger Abänderungsantrag auf eine faktische Auflösung dieses Fonds könnte den Rahmen des traktandierten Antrages, für ein konkretes Projekt einen bestimmten Beitrag zu sprechen, sprengen und wäre damit unzulässig; was hier nicht zu entscheiden ist. Der umstrittene Gemeindeversammlungsbeschluss verstösst weder gegen Art. 12 Abs. 2 GG noch gegen Treu und Glauben (Art. 9 BV) und verletzt damit auch nicht das Stimmrecht der Beschwerdeführer. Die Rüge ist offensichtlich unbegründet.
 
5.
 
Die Beschwerden sind somit abzuweisen. Praxisgemäss sind bei Stimmrechtsbeschwerde keine Kosten zu erheben. Hingegen haben die unterliegenden Beschwerdeführer der Gemeinde Silvaplana eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht
 
im Verfahren nach Art. 36a OG:
 
1.
 
Die Verfahren 1P.250/2006 und 1P.264/2006 werden vereinigt.
 
2.
 
Die Beschwerden werden abgewiesen.
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.
 
Die drei Beschwerdeführer haben die Gemeinde Silvaplana für das bundesgerichtliche Verfahren je mit Fr. 500.-- zu entschädigen, unter solidarischer Haftung eines jeden für den ganzen Betrag von Fr. 1'500.--.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Gemeinde Silvaplana und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 31. August 2006
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).