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Informationen zum Dokument  BGer 6S.327/2006  Materielle Begründung
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BGer 6S.327/2006 vom 02.11.2006
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6S.327/2006 /bri
 
Urteil vom 2. November 2006
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd,
 
Gerichtsschreiber Stohner.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
 
Josef Ulrich,
 
gegen
 
A.________,
 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt
 
lic. iur. Bruno Krummenacher,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden, Postfach 1260, 6060 Sarnen 2.
 
Gegenstand
 
Einfache Körperverletzung, Notwehr (Art. 33 StGB); Diebstahl (Art. 139 StGB),
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Obwalden als Appellationsinstanz in Strafsachen vom 30. Mai 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Obergericht des Kantons Obwalden erklärte X.________ mit Urteil vom 30. Mai 2006 der einfachen Körperverletzung unter Annahme von Notwehrexzess (Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 33 Abs. 2 StGB), des Diebstahls (Art. 139 Ziff. 1 StGB), der fahrlässigen Widerhandlung gegen das kantonale Baugesetz und der einfachen Verletzung einer Verkehrsregel durch Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit für schuldig und verurteilte ihn deswegen zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 5 Monaten.
 
B.
 
X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, es sei das Urteil des Obergerichts des Kantons Obwalden aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er wendet sich ausschliesslich gegen seine Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung und wegen Diebstahls.
 
C.
 
Das Obergericht des Kantons Obwalden hat auf Gegenbemerkungen zur Beschwerde verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Die Vorinstanz stellt folgenden, für den Kassationshof verbindlichen Sachverhalt fest (Art. 277bis Abs. 1 BStP):
 
Seit Jahren bestehen zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschwerdegegner Nachbarstreitigkeiten, die in zahlreichen gegeneinander erhobenen Strafanzeigen und -klagen mündeten. Im vorliegenden Verfahren sind Ereignisse zu beurteilen, die auf die Jahre 1999 und 2001 zurückgehen.
 
Am 2. Januar 1999 liess der Beschwerdeführer zwei Äste eines Birnbaums auf dem Grundstück des Beschwerdegegners absägen; später - mutmasslich im März 2001 - fällte er selbst den Birnbaum. Beide Male nahm er das Holz an sich und stapelte es auf seinem Grundstück.
 
Am 14. März 2001 führte der Beschwerdeführer auf dem Grundstück des Beschwerdegegners ohne dessen Einverständnis Arbeiten aus. In der Folge kam es zwischen den beiden zu tätlichen Auseinandersetzungen. Die Vorinstanz geht zugunsten des Beschwerdeführers davon aus, dass er zunächst vom Beschwerdegegner mit einer Schaufel angegriffen wurde. Als Reaktion darauf setzte sich der Beschwerdeführer mit einem Holzstecken zur Wehr und fügte dem Beschwerdegegner zahlreiche heftige Hiebe zu. Während der Beschwerdeführer eine Kontusion (Quetschung) am rechten Handgelenk und eine oberflächliche Schnittwunde an der Wange davontrug, erlitt der Beschwerdegegner folgende Verletzungen: Bruch des Mittelhandknochens des Daumens der linken Hand, Hirnerschütterung, verschiedene Kontusionen (Unterschenkel, Beckenbereich, Ellbogen, Kopf), Zungenbisse und Riss der Unterlippe. Der Beschwerdegegner war sechs Tage in Spitalpflege und in der Folge bis zum 18. April 2001 vollständig arbeitsunfähig; seither beträgt seine Arbeitsunfähigkeit 50%.
 
2.
 
2.1 In Bezug auf den Schuldspruch wegen einfacher Körperverletzung beruft sich der Beschwerdeführer auf Notwehr (Art. 33 Abs. 1 StGB), eventuell auf entschuldbaren Notwehrexzess (Art. 33 Abs. 2 Satz 2 StGB). Er macht geltend, seine Abwehr sei verhältnismässig gewesen. Sollte das Gericht die Angemessenheit der Abwehr wider Erwarten verneinen, so habe er jedenfalls die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Art und Weise überschritten.
 
Die Vorinstanz bejaht einen Notwehrexzess, da der Beschwerdeführer dem Beschwerdegegner zahlreiche heftige Hiebe versetzt und ihm erheblich schwerere Verletzungen als die selbst erlittenen zugefügt habe. Zudem bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung überschritten habe.
 
2.2 Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren (Art. 33 Abs. 1 StGB). Die Bestimmung gibt dem Angegriffenen das Recht zu verhältnismässiger Abwehr eines widerrechtlichen Angriffs. Die Angemessenheit der Abwehr beurteilt sich nach der Situation, in welcher sich der rechtswidrig Angegriffene im Zeitpunkt seiner Tat befand. Zu berücksichtigen sind die Schwere des Angriffs, die durch den Angriff und die Abwehr bedrohten Rechtsgüter sowie die Art des Abwehrmittels und dessen tatsächliche Verwendung (BGE 107 IV 12 E. 3a; 102 IV 65 E. 2 a mit Hinweisen; Urteil 6S.87/2005 vom 21. Oktober 2005 E. 2.1). Erforderlich ist mithin die Proportionalität sowohl der Angriffs- und Verteidigungsmittel als auch der betroffenen Rechtsgüter (Kurt Seelmann, Basler Kommentar, StGB I, 2003, N. 11 zu Art. 33).
 
2.3 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist es bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Abwehrhandlung sehr wohl von Bedeutung, welche Verletzungen die Beteiligten davon getragen haben. Nicht ausreichend ist, dass Angriffs- und Verteidigungsmittel abstrakt in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen; massgebend ist vielmehr (auch) der konkrete Gebrauch dieser Mittel (Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl. 2005, § 10 N. 75).
 
Vorliegend ist nicht zu überprüfen, ob der Beschwerdeführer berechtigt war, sich zur Abwehr des Angriffs eines Holzsteckens zu bedienen. Dem Beschwerdegegner hiermit zahlreiche heftige Schläge - zum Teil auf den Hinterkopf - zu versetzen und ihm namentlich einen Knochenbruch, eine Hirnerschütterung und verschiedene Quetschungen am ganzen Körper zuzufügen, überstieg jedenfalls offensichtlich das Mass der konkret zulässigen Abwehrhandlungen. Während die dem Beschwerdeführer zugefügten Verletzungen im Laufe der tätlichen Auseinandersetzung eher zufällig erfolgten, wollte dieser dem Beschwerdegegner einen Denkzettel verpassen und überschritt hierdurch die Grenzen der Notwehr.
 
2.4 Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, er habe sich ob des Angriffs in einem Schockzustand befunden, weshalb der Entschuldigungsgrund von Art. 33 Abs. 2 Satz 2 StGB zum Tragen komme.
 
2.4.1 Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr, so mildert der Richter die Strafe nach freiem Ermessen. Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff (so genannte asthenische Affekte), bleibt er straflos (Art. 33 Abs. 2 StGB). Zu prüfen ist, ob auch ein rechtlich gesinnter Mensch durch den Angriff in Aufregung und Bestürzung geraten wäre; zusätzlich ist zu klären, ob das Mass des Exzesses durch die Heftigkeit der Erregung gedeckt war (Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl. 1997, N. 17 zu Art. 33 StGB).
 
2.4.2 Aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes ergibt sich, dass nicht an jede geringfügige Erregung oder Bestürzung die weitreichende Rechtsfolge der Straflosigkeit geknüpft sein kann (BGE 102 IV 65 E. 3 b). Vorliegend genügte der von der Vorinstanz angenommene verhältnismässig geringfügige Angriff des Beschwerdegegners nicht, um einen rechtlich gesinnten Menschen dadurch so in Aufregung oder Bestürzung zu versetzen, dass die Überschreitung der Notwehr entschuldigt werden könnte. Die Hintergründe des konkreten Falles legen vielmehr den Schluss nahe, dass sich der Beschwerdeführer aus Wut bzw. Zorn zu seiner unverhältnismässigen Abwehr hinreissen liess; solche Gemütsbewegungen jedoch stellen gerade keinen Entschuldigungsgrund im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Satz 2 StGB dar (Seelmann, a.a.O., N. 20 zu Art. 33).
 
3.
 
3.1 Zur Verurteilung wegen Diebstahls macht der Beschwerdeführer geltend, aus dem unterbliebenen Einschreiten des Beschwerdegegners sei auf dessen mangelnden Herrschaftswillen zu schliessen. Zudem liege schon deshalb kein Gewahrsamsbruch vor, weil der Beschwerdegegner um den Standort des Holzes gewusst und demnach weiterhin über die faktische Herrschaftsmöglichkeit verfügt habe.
 
Die Vorinstanz führt aus, das Verhalten des Beschwerdegegners könne nicht als Duldung oder gar Billigung des Vorgehens des Beschwerdeführers betrachtet werden, hätte doch der Beschwerdegegner bei einer Intervention mit einer heftigen Auseinandersetzung rechnen müssen.
 
3.2 Diebstahl im Sinne von Art. 139 Ziff. 1 StGB begeht, wer jemandem eine fremde bewegliche Sache zur Aneignung wegnimmt, um sich oder einen anderen damit unrechtmässig zu bereichern. Wegnahme ist Bruch fremden und Begründung neuen (meist eigenen) Gewahrsams. Dieser besteht in der tatsächlichen Sachherrschaft, verbunden mit dem Willen, sie auszuüben. Ob Gewahrsam gegeben ist, bestimmt sich nach den allgemeinen Anschauungen und den Regeln des sozialen Lebens (BGE 115 IV 104 E. 1c/aa S. 106 mit Hinweisen). Bruch des Gewahrsams ist die Aufhebung des fremden Gewahrsams gegen den Willen des bisherigen Inhabers. Die tatsächliche Sachherrschaft kann als unmittelbare, ungehinderte Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache umschrieben werden (BGE a.a.O.). Massgeblich ist das Verfügen-Können, nicht das Verfügen-Dürfen (Marcel Alexander Niggli/Christof Riedo, Basler Kommentar, StGB II, 2003, N. 17 zu Art. 139 StGB).
 
Der Diebstahl ist vollendet mit der Herstellung neuen Gewahrsams nach dem Willen des Täters. Nach der herrschenden Apprehensionstheorie ist dies der Fall, sobald der Täter die Sache ergriffen hat. Beendet ist der Diebstahl, wenn der Täter das Diebesgut fortgeschafft, sich angeeignet und die Bereicherung somit erlangt hat (Trechsel, a.a.O., N. 11 zu Art. 139 StGB).
 
3.3 Der Beschwerdeführer stellt sich auf den Standpunkt, der Beschwerdegegner habe stets um den Standort des Holzes gewusst und demzufolge seine Herrschaftsmöglichkeit behalten. Damit verkennt der Beschwerdeführer, dass die Kenntnis des Standorts der Sache grundsätzlich notwendige, nicht jedoch hinreichende Voraussetzung für die Bejahung der tatsächlichen Sachherrschaft bildet. Angesichts des jahrelangen Nachbarstreits musste der Beschwerdegegner erwarten, dass der Beschwerdeführer das Holz nicht widerstandslos wieder herausgegeben hätte. Folglich fehlte dem Beschwerdegegner trotz des Wissens um den Standort des Holzes die real bestehende unmittelbare und ungehinderte Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache und dementsprechend die faktische Handlungsmöglichkeit.
 
Ebenso wenig kann dem Beschwerdegegner mit guten Gründen der Herrschaftswille abgesprochen werden. In der konkreten Situation war es ihm nicht zumutbar einzuschreiten. Setzt sich die berechtigte Person jedoch - wie die Vorinstanz verbindlich festgestellt hat - deshalb nicht zur Wehr, weil sie mit einer heftigen Auseinandersetzung rechnet, so liegt keine (tatbestandsausschliessende) Einwilligung in die Wegnahme vor. Nach erfolgter Wegnahme schliesslich vermöchte eine Einwilligung ohnehin nichts mehr an der Strafbarkeit zu ändern (Niggli/Riedo, a.a.O., N. 52 zu Art. 139 StGB). Im Übrigen ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer seinen Willen, die tatsächliche Sachherrschaft auszuüben, auch durch das Einreichen einer Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer ausdrücklich kundgetan hat.
 
4. 4.
 
Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Da sie von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte (Art. 152 Abs. 1 OG, vgl. BGE 124 I 304 E. 2 mit Hinweisen), ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 278 Abs. 1 BStP). Seinen angespannten finanziellen Verhältnissen wird bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung getragen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden und dem Obergericht des Kantons Obwalden als Appellationsinstanz in Strafsachen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 2. November 2006
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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