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Informationen zum Dokument  BGer C 193/2006  Materielle Begründung
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BGer C 193/2006 vom 07.11.2006
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunal fédéral des assurances
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess{T 7}
 
C 193/06
 
Urteil vom 7. November 2006
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke
 
Parteien
 
I.________, 1976, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Curdin Conrad, Bischofszeller Strasse 21a, 9200 Gossau,
 
gegen
 
Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abt. Rechtsdienst und Entscheide, Verwaltungsgebäude, 8510 Frauenfeld Kant. Verwaltung, Beschwerdegegner
 
Vorinstanz
 
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, Eschlikon
 
(Entscheid vom 31. Mai 2006)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 5. August 2003 stellte das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau (AWA) den 1976 geborenen I.________ ab dem 18. Juli 2003 für 31 Tage in der Anspruchsberechtigung ein, weil dieser sich nicht auf die vom Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zugewiesene Stelle bei der Firma E.________ beworben habe. Das AWA hielt mit Einspracheentscheid vom 9. September 2003 an der Sanktion fest.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung (nachfolgend: Rekurskommission) mit Entscheid vom 31. Mai 2006 ab.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt I.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids beantragen.
 
Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung (nachfolgend: Rekurskommission) schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das AWA und das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) auf eine Vernehmlassung verzichten.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Gemäss Art. 17 Abs. 1 AVIG muss der Versicherte, der Versicherungsleistungen beanspruchen will, mit Unterstützung des zuständigen Arbeitsamtes alles Zumutbare unternehmen, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu verkürzen. Insbesondere ist er verpflichtet, Arbeit zu suchen, nötigenfalls auch ausserhalb seines bisherigen Berufes. Er muss seine Bemühungen nachweisen können. Laut Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG ist der Versicherte in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er Kontrollvorschriften oder Weisungen der zuständigen Amtsstelle nicht befolgt, namentlich eine zumutbare Arbeit nicht annimmt oder eine arbeitsrechtliche Massnahme ohne entschuldbaren Grund nicht antritt, abbricht oder deren Durchführung oder Zweck durch sein Verhalten beeinträchtigt oder verunmöglicht. Die Dauer der Einstellung bemisst sich nach dem Grad des Verschuldens (Art. 30 Abs. 3 Satz 3 AVIG) und beträgt 1 bis 15 Tage bei leichtem, 16 bis 30 Tage bei mittelschwerem und 31 bis 60 Tage bei schwerem Verschulden (Art. 45 Abs. 2 AVIV).
 
Zu ergänzen ist, dass die Parteien im Sozialversicherungsprozess, welcher von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird, in der Regel eine objektive Beweislast nur insofern tragen, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 125 V 195 Erw. 2, 117 V 264 Erw. 3b). Es handelt sich dabei nicht um die Beweisführungslast, sondern um die Beweislast. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es unmöglich ist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung den Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen, Urteil F. vom 27. April 2006, C 97/05). Beweisbelastet ist im Rahmen von Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG die Behörde für die erfolgte Stellenzuweisung, die versicherte Person hingegen für die erfolgte Stellenbewerbung.
 
2.
 
2.1 Streitig ist, ob der Beschwerdeführer zu Recht für 31 Tage in der Anspruchsberechtigung eingestellt wurde. Dabei steht nicht in Frage, dass ihm am 10. Juli 2003 vom RAV zwei Stellen zugewiesen wurden und er sich auf die eine Stelle bei der Firma K.________ beworben hat. Streitig ist indes, wie es sich mit der zweiten Stelle bei der Firma E.________ (Nachfolger B.________) verhält.
 
Während der Versicherte im Einspracheverfahren noch eingewendet hatte, er habe keine Stellenzuweisung für die Firma E.________ erhalten - jedenfalls könne er sich an diese Firma nicht erinnern - , hält er nun ausdrücklich daran fest, sich dort beworben zu haben; dass er sich nicht an den Namen der Firma habe erinnern können, stehe im Zusammenhang mit der Übernahme der Einzelfirma durch B._______, an den er die Bewerbung habe schicken müssen. Er macht geltend, sich auf die zwei ihm zugewiesenen Stellen innerhalb einiger Tage beworben zu haben. Er verschicke seine Bewerbungen aus Kostengründen regelmässig nicht mittels Einschreiben und fertige auch keine Kopien davon an. Wenn Frau R.________ von der Firma E.________ dem RAV am 17. Juli 2003 mitgeteilt habe, er habe sich nicht bei ihnen gemeldet, dann müsse seine Bewerbung dort oder bei der Post verloren gegangen sein.
 
Die Behauptung, sich bei der Firma E.________ beworben zu haben, setzt voraus, dass dem Beschwerdeführer eine entsprechende Stellenzuweisung zuging, ansonsten er keinen Anlass gehabt hätte, sich dort zu melden, steht doch eine Spontanbewerbung ausser Frage. Damit ist die Zuweisung an die Firma E.________ bewiesen. Zu prüfen bleibt, ob dies auch für die behauptete Bewerbung gilt.
 
2.2 Die Bewerbung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung und reist auf Gefahr des Erklärenden (Urteile R. vom 22. Oktober 2004, C 143/04, und H. vom 9. Dezember 2003, C 58/03). Der Bewerber trägt somit das Risiko, dass die Unterlagen beim Empfänger ankommen. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass der Versicherte seine Bewerbungen nicht eingeschrieben versendet, ändert das nichts daran, dass es ihm diesfalls an einem rechtsgenüglichen Nachweis seiner Bewerbungen mangelt. Dazu standen ihm im Übrigen weitere, auch kostengünstigere Möglichkeiten offen. Er hätte sich bei der Empfängerin telefonisch erkundigen können, ob die Bewerbung angekommen ist, Kopien des Bewerbungsschreibens erstellen oder sich wenigstens die Versanddaten und Firmenadressen notieren können. Dies alles hat der Beschwerdeführer unterlassen. Da er somit nicht belegen kann, dass er sich tatsächlich bei der Firma E.________ beworben hat, und nicht zu erwarten ist, dass er die Zustellung der Bewerbung mittels zusätzlicher Abklärungen rechtsgenüglich nachweisen könnte, muss insoweit von Beweislosigkeit ausgegangen werden, deren Folgen der Beschwerdeführer zu tragen hat (vgl. Erw. 1.2 hievor; BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweis, ARV 2002 S. 179 Erw. 2c).
 
3.
 
Hinsichtlich der Schwere des Verschuldens rügt der Beschwerdeführer, sowohl das AWA als auch die Rekurskommission hätten ihre Begründungspflicht verletzt.
 
3.1 Für Verfügungen ergibt sich die Begründungspflicht aus Art. 49 Abs. 3 Satz 2 ATSG, für Einspracheentscheide aus Art. 52 Abs. 2 Satz 2 ATSG. Die Pflicht zur Begründung eines Entscheides eines kantonalen Versicherungsgerichts ist in Art. 61 lit. h ATSG normiert (soweit angesichts der in Art. 82 Abs. 2 ATSG enthaltenen fünfjährigen Übergangsfrist nicht noch aArt. 85 Abs. 2 lit. g AHVG anwendbar ist, der ebenfalls eine Begründungspflicht statuiert).
 
Dabei ist für die Ermittlung des Bedeutungsgehalts der in diesen Bestimmungen normierten Begründungspflicht, die den verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV konkretisieren, mangels näherer gesetzlicher Umschreibung und einschlägiger Materialien von den durch die Judikatur zu Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 4 Abs. 1 aBV entwickelten Grundsätzen auszugehen (BGE 126 V 80 Erw. 5b/dd mit Hinweise, SVR 2006 IV Nr. 27 S. 92 Erw. 3.2). Danach soll die Begründungspflicht verhindern, dass sich die Behörde von unsachlichen Motiven leiten lässt, und es der betroffenen Person ermöglichen, die Verfügung gegebenenfalls sachgerecht anzufechten. Dies ist nur möglich, wenn sowohl sie wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können. In diesem Sinn müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf welche sich ihre Verfügung stützt. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 124 V 181 Erw. 1a mit Hinweisen; Georg Müller, in Kommentar aBV, Art. 4 Rz. 112 ff. mit Hinweisen). Inhalt und Dichte einer rechtsgenüglichen Begründung lassen sich insbesondere nicht allgemein bestimmen. Wie einlässlich eine Begründung sein muss, hängt vielmehr von der konkreten materiell-, beweis- und verfahrensrechtlichen Lage ab (SVR 2006 IV Nr. 27 S. 92).
 
3.2 Gemäss Rechtsprechung (BGE 122 V 38 Erw. 3b) ist bei der Bemessung der Einstellungsdauer wegen nicht genügender Bewerbung für eine Anstellung der gleiche Verschuldensmassstab (Art. 30 Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 45 Abs. 2 AVIV) anzulegen wie im Falle der Ablehnung einer nach Art. 16 Abs. 1 AVIG zumutbaren Arbeit (Urteil R. vom 22. Oktober 2004, C 143/04; vgl. BGE 122 V 40 Erw. 4c/bb betreffend Zwischenverdienst). In dieser Hinsicht sieht Art. 45 Abs. 3 AVIV vor, dass die Ablehnung einer zumutbaren Arbeit - und somit auch das Nichteinreichen von Bewerbungsunterlagen an eine zugewiesene zumutbare Stelle - grundsätzlich ein schweres Verschulden darstellt. Jedoch hat das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass im konkreten Fall Gründe vorliegen können, die das schwere Verschulden als leichter erscheinen lassen (BGE 130 V 130 Erw. 3.4.3), wobei hinsichtlich der subjektiven Situation der betroffenen Person etwa gesundheitliche Probleme (RJJ 1999 S. 57 Erw. 4), auf der objektiven Seite etwa die Befristung einer Stelle (ARV 2000 Nr. 9 S. 49 Erw. 4b/aa) berücksichtigt wurde.
 
3.3 Zum Verschulden wird in der Verfügung des AWA vom 5. August 2003 nichts ausgeführt, sondern lediglich auf Art. 45 AVIV verwiesen. Im Einspracheentscheid vom 9. September 2003 wird nur auf die massgebenden Bestimmungen in der Verfügung verwiesen, ohne zum Verschulden Stellung zu nehmen, wobei der Beschwerdeführer hiezu in der Einsprache auch keine Einwände vorbrachte. Im vorinstanzlichen Entscheid wird erwogen, bei der Bemessung der Einstellung sei auf die persönlichen Verhältnisse des fehlbaren Versicherten sowie die übrigen Umstände angemessen Rücksicht zu nehmen. Nach ihrer Auffassung sei das Verschulden als schwer zu qualifizieren, weshalb gemäss Art. 45 Abs. 2 lit. c ein Sanktionsrahmen von 31-60 Tagen gelte. Es bestehe keine Veranlassung, das seitens der Vorinstanz verhängte "Strafmass" zu korrigieren. Vorgängig hat das AWA in der Vernehmlassung ausgeführt: "Von einem schweren Verschulden wird deshalb ausgegangen, weil die Firma E.________ in X.________ eine unbefristete Stelle angeboten hatte und es sich bei einer Anstellung somit um die dauerhafte Beendigung der Arbeitslosigkeit gehandelt hätte. Richtlinie für die Sanktionierung war der Einstellraster des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco)."
 
3.4 Zwar sind die einzelnen Begründungen äusserst knapp ausgefallen. Indes ist hier das Prozessthema derart eingeschränkt, nämlich auf die Frage, ob sich der Versicherte beworben hat oder nicht, dass an die Begründungspflicht keine grossen Anforderungen zu stellen sind (vgl. Erw. 3.1 hievor). Dass die Zuweisung für eine offene Stelle bei der Firma E.________ erfolgt ist, ist nicht mehr streitig. Zudem ist die nicht bewiesene (Erw. 2.2) einer unterlassenen Bewerbung auf eine zugewiesene Stelle hin gleichzusetzen, für welche nach der Rechtsprechung ein schweres Verschulden anzunehmen ist (vgl. Erw. 3.2 hievor). Vorinstanz und Verwaltung haben die minimale Einstellungsdauer von 31 Tagen angeordnet. Es sind keine Gründe ersichtlich, welche das schwere Verschulden ausnahmsweise als leichter erscheinen liessen (BGE 130 V 130 Erw. 3.4.3). Daher ist der Begründungspflicht Genüge getan und die Einstellungsdauer von 31 Tagen als Frage des Ermessens, in welches das Eidgenössische Versicherungsgericht nur aus triftigem Grund eingreift (BGE 123 V 152 Erw. 2 mit Hinweisen), ebenfalls nicht zu beanstanden.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abt. Arbeitslosenkasse, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
 
Luzern, 7. November 2006
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
 
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